Johannes 19, 25-27

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Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Predigtreihe „Maria“
19. Sonntag nach Trinitatis, 29. Oktober 2000
Johannes 19, 25-27
Stefan Knobloch


„Wer zieht hier bei wem ein?“

25 Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. 26 Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! 27 Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

WG’s sind unter Studierenden beliebte Wohnmöglichkeiten. Wenn die Beziehungen unter den Mitbewohnern halbwegs stimmen, haben alle den Vorteil, nicht allein auf ihren Studentenbuden zu versauern, sie teilen Wohn- und Lebensraum und testen dabei zusätzlich ihre soziale Kompetenz. Zudem sparen sie Geld. Die Frage, wer in diesem Falle bei wem wohnt, scheint eher falsch gestellt zu sein. Obwohl es eine durch die unterschiedlichen Studienabschlüsse bedingte dauernde Fluktuation unter den Mietern gibt, und der eine oder die andere länger einer WG angehören, als der, der gerade eben neu dazugekommen ist, obwohl das also so ist, ziehen nachrückende Mitbewohner nicht eigentlich bei den anderen Komilitonen ein, sondern alle nehmen gegenüber dem Vermieter/der Vermieterin in nicht unterscheidbarer Weise einen Mieterstatus ein.

So weit, so gut. Nur, was hat diese unter Studierenden gängige Lebensform mit Joh 19, 25-27 zu tun? Was mit Maria, der Mutter Jesu? Und was mit dem Jünger, den Jesus liebte? In der Situation unter dem Kreuz? Sollte es in dieser existentiellen Stunde des unmenschlichen Leidens Jesu am Kreuz um die Banalität eines Wohnungswechsels gegangen sein? Um die Frage, wer hier bei wem einziehe? So gefaßt nimmt sich die Frage in der Tat zu banal, ja im Grunde als vollkommen unpassend aus, um auch nur im entferntesten an das heranzuführen, worum es in der Szene unter dem Kreuz ging. Andererseits kann die gewiß unpassende und banale Frage „Wer zieht hier bei wem ein?“ eine häufig unreflektierte Lesart von Joh 19, 25-27 zum Stolpern bringen und so die ursprünglich gemeinten Signale neu vernehmen lassen.

Zugegeben, die Worte Jesu am Kreuz sind schwer einzuordnen. Sie haben etwas Widerständiges an sich, das es schwer macht, sie einfach zu verstehen. Worum ging es Jesus in diesem gegenseitigen Verweis seiner Mutter auf den Jünger, den er liebte, und seines Jüngers auf seine Mutter? Ging es um die Sorge des zu früh Sterbenden um die gesicherte Zukunft seiner Mutter? Ging es darum, ihren Schmerz zu lindern, indem er, der unmittelbar mit dem Tode Ringende, seiner Mutter an seiner Stelle einen anderen als Sohn anbietet? Solche Fragen, es kann nicht verborgen bleiben, greifen zu kurz. Sie greifen in die falsche Richtung. Ebenso wie die Frage, wer hier bei wem einziehe. Obgleich diese Frage nicht so ganz falsch zu liegen scheint, wo doch als Folge der Aufforderung Jesu an seine Mutter und an den Jünger, den er liebte, dieser Jünger es nicht bei bloß guten Gedanken an die Mutter Jesu beließ, sondern er sie tatsächlich „zu sich nahm“, wie es ausdrücklich heißt. Mein frivoles Bild des Einzugs – wer bei wem – will den Blick dafür schärfen, was in Joh 19, 25-27 steht, und will wegführen von dem, was da nicht steht. Er, der Jünger, den Jesus liebte, nahm die Mutter Jesu zu sich. In aller Regel wird mit dem Satz so umgegangen, als hätte die Mutter Jesu den Jünger zu sich genommen, gewissermaßen um ihn zu bemuttern, eben als Sohnersatz für den Verlust des eigenen Sohnes. Mein frivoles Bild, ja, der Satz bei Joh lassen für solche Deutung keinen Platz. Um darauf aufmerksam zu mmachen, gebrauche ich das respektlose Einzugsbild, mit den Phantasien, die es nach sich ziehen mag: in welcher Richtung der Möbelwagen fährt, vor welchem Haus er hält, um die Möbel zu entladen usw. Schluß mit diesem Bild. Es hat ausgedient in dem Augenblick, in dem wir realisiert haben, daß der Joh-Text davon spricht, daß der Jünger die Mutter Jesu zu sich nahm, und nicht umgekehrt die Mutter Jesu den Jünger.

Damit aber beginnt die eigentliche Frage erst. Wenn es also ein für alle Mal nicht um einen Umzug geht, worum geht es dann? Worauf zielen die Joh-Sätze? Worauf zielt die ganze Szene der Mutter Jesu und der anderen Frauen unter dem Kreuz? Um dem näherzukommen, ist eine interessante Beobachtung nicht ohne Bedeutung. Nur im Joh-Evangelium steht auch die Mutter Jesu unter dem Kreuz, in keinem der anderen Evangelien sonst. Lk spricht lediglich allgemein von den „Frauen“, ohne einzelne Namen zu nennen. Mk nennt – in dieser Reihenfolge – Maria aus Magdala, Maria, die Mutter von Jakobus und Joses, und eine Frau namens Salome. Mt zählt Maria von Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Zebedäus auf. Bei ihnen also ist kein Platz für Maria, die Mutter Jesu.

Was sich aus dieser Beobachtung ergibt, ist auf den ersten Blick schwer zu sagen, aber es ist Anlaß zu weiteren Fragen, zu Fragen, die möglicherweise über den Charakter bloßer Vermutungen nicht hinausführen. Warum wird im Joh-Evangelium auch Maria, die Mutter Jesu, unter das Kreuz gestellt? Und warum wendet sich der sterbende Jesus an sie? Es fällt auf, daß dies im gesamten Joh-Evangelium die zweite Stelle ist, an der Jesus seine Mutter direkt anspricht. Das erste Mal geschieht es im Rahmen der Hochzeit von Kana (Joh 2, 1-12), als Maria Jesus auf die peinliche Situation aufmerksam macht, daß kein Wein mehr da sei. Eine peinliche Situation in der Tat, wenn man bedenkt, daß Hochzeitsfeiern nach den damaligen jüdischen Gepflogenheiten sich bis zu einer Woche hinziehen konnten. Und das sollte ohne Wein gehen? Die Antwort Jesu ist bekannt, sie wird als schwierig empfunden, wie immer man meint den griechischen Text ins Deutsche übersetzen zu müssen. Die neue Einheitsübersetzung sagt: „Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Der Antwortform nach eine ziemliche Brüskierung, ja geradezu eine besserwisserische Zurückweisung. Doch dann schreitet Jesus gleichwohl zur Tat. Zu welcher? Zu der, daß er in einem üppigen Weinwunder auf seine „Herrlichkeit“ aufmerksam macht und erste Wege anbahnt, daß die Jünger an ihn „glauben„. Auf diesen Satz läuft die ganze Erzählung zu. Die Jünger fingen an, an Jesus zu glauben. Nicht Wein und eine rauschende bzw. berauschende Hochzeitsfeier stehen im Vordergrund des Interesses, sondern der beginnende, noch weitgehend ungeformte Glaube der Jünger an Jesus.

Das Stichwort des Glaubens scheint mir die Brücke zu schlagen zu Joh 19, 25-27, wenngleich das Wort „glauben“ hier nicht ausdrücklich vorkommt. Die Szene ist so angelegt, daß hier das Kreuz Jesu nur Personen umstehen, die – wenn man einmal von Maria, der Frau des Klopas absieht, von der wir diesbezüglich keine ausdrücklichen Hinweise in der Heiligen Schrift erhalten – fest im Glauben und in einer emotionalen Tiefe mit Jesus verwurzelt sind. Maria, seine Mutter sowieso, Maria aus Magdala ebenso. Jesus hatte sie von schwerer Krankheit geheilt (vgl. Lk 8,2), so daß sie ein Lebenlang Jesus emotional verbunden blieb. Und eben der Jünger, den Jesus liebte, eine Person, so wird man wohl sagen dürfen, die Jesus näherstand als irgendeiner aus der Gruppe der Zwölf, der dieser Jünger im übrigen nicht angehörte. Er schien in unübertroffener, ungebrochener und lauterer Weise an Jesus geglaubt zu haben. Er schien das, wie ein Jünger leben sollte, in geradezu vollendeter Form – bei allen Abstrichen, die immer zum menschlichen Leben gehören – verwirklicht zu haben. Er war wie kein anderer fähig, Jesus zu verstehen, ihm zu folgen, an ihn zu glauben, eben auf der Basis der Gewißheit, von Jesus geliebt zu werden.

Herausragende Glaubensrepräsentanten umstehen also nach Joh 19, 25-27 das Kreuz, und zwei von ihnen, Maria, die Mutter Jesu, und der Jünger, den Jesus liebte, werden hier in besonderer Weise ins Spiel gebracht. In welches? Gewiß nicht in das Spiel – diese Ebene haben wir längst mit Recht verlassen -, wer bei wem einziehen solle. Sie werden ins Spiel gebracht als Handlungsträger eines ungebrochenen Glaubens – über den Tod Jesu hinaus, ja zunächst im Angesicht des Todes Jesu. Nach der Darstellung der Evangelien taugten die Zwölf in der Passion Jesu nicht für die Rolle, als Handlungsträger des Glaubens zu fungieren. Der eine hatte Jesus verraten, der andere, Petrus, hatte ihn verleugnet. Stiften gegangen, um die eigene Haut zu retten, waren sie alle. So bleiben – um nur von diesen beiden zu sprechen – Maria, die Mutter Jesu, und der Jünger, den Jesus liebte. Dabei ging es nicht um psychologischen Trost, daß doch noch jemand solidarisch in der bittersten Stunde zu Jesus stand. Es ging und geht in der Szene unter dem Kreuz um den Glauben und die Bewahrung des Glaubens.

Aber das ist noch nicht alles, was sich zu Joh 19, 25-27 sagen läßt: Daß hier zwei Personen, Maria, die Mutter Jesu, und der Jünger, den Jesus liebte, unterschiedlos herangezogen worden wären, um den Glaubensabfall der Zwölf und anderer Jünger zu kompensieren. Hier kommt es auf die Feinmechanik der Sätze in Joh 19, 25-27 an. Gewiß richtet sich Jesus zuerst an seine Mutter: Siehe, dein Sohn! Dann erst an den Jünger: Siehe, deine Mutter! Dieser aber ist es, der Maria, die Mutter Jesu, zu sich, in seinen Lebens-, in seinen Glaubensraum hereinholt. Darin geschieht etwas anderes und mehr, als daß zwei Personen sich in ihrem gemeinsamen Glauben stärken. Der Jünger, den Jesus liebte, steht hier alsRepräsentant, als Inbegriff der „glaubenden Kirche“, der Gemeinschaft der Glaubenden, als Repräsentant einer institutionellen Kirche in kulturell und geographisch unterschiedlichen Räumen, als Repräsentant eines Glaubens als „consensus fidelium“ bis hinein in die Unterschiedlichkeit konfessioneller Ausprägungen. Für diesen notwendigerweise differenten, aber letztlich einen Glaubensraum, für den Glauben an die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und an die durch ihn erfolgte gnadenhafte Rechtfertigung – für den Glauben daran steht der Jünger, den Jesus liebte, als Repräsentant.

Und Maria, die Mutter Jesu? Wofür steht sie? Steht sie gewissermaßen als „Mutter der Kirche“ über dem Repräsentanten des Glaubens, über dem Jünger, den Jesus liebte? Also über den Glaubenden? Über der Kirche? Ist das angezielt in der Aufforderung Jesu an seine Mutter: Frau, siehe, dein Sohn? Nein, eben genau nicht. Der Unterschied mag geringfügig erscheinen, ist es aber nicht. Indem der Jünger Maria, die Mutter Jesu, zu sich nimmt, ist exakt gesagt, daß sie die Bedeutung ihres Glaubens als Frau des Glaubens, sogar als Mutter der Kirche, einzig und allein in der Gemeinschaft mit dem Jünger, den Jesus liebte, das heißt inder Gemeinschaft der Glaubenden und nicht losgelöst von ihnen oder geradezu über ihnen stehend erfüllen kann. Die Frau der Geheimen Offenbarung, die gern auf Maria gedeutet wird, hat zwar Sonne und Mond zu ihren Füßen, aber nicht die Kirche. Maria ist die Mutter der Kirche nur in der Einheit mit dem Jünger, den Jesus liebte, nur in der Einheit mit den Glaubenden, nicht ohne sie, nicht getrennt von ihnen. Ihr Bei-dem-Jünger-Sein bildet die Voraussetzung, bildet die Bedingung ihres Mutterseins.

Noch einmal: Nicht Maria nahm den Jünger zu sich, um auf diese Weise die Beständigkeit des Glaubens bei ihm zu garantieren, um gewissermaßen in ihrer Person zur Garantin der Glaubensidentität des ganzen Gottesvolkes zu werden. Die Logik in Joh, 19, 25-27 zeigt in eine Richtung. Der Jünger, den Jesus liebte, nahm Maria zu sich. In dieser ihrer Einbindung nur kann Maria ihre Rolle zur Geltung bringen, als Frau des Glaubens zur Mutter der Glaubenden und zur Mutter der Kirche zu werden. Dabei ist sie nicht im wörtlichen Sinn „Mutter“, vielmehr steht die Gewißheit des Glaubens und der Glaubenden zuerst auf der Basis des eigenen Glaubens, wie beim Jünger, den Jesus liebte. Das mag wohl heißen, daß Maria im Glaubensvollzug des Gottesvolkes eine wichtige Rolle einnimmt. Aber es muß nicht heißen, daß alle Vollzugsweisen des Glaubens in den unterschiedlichen christlichen Konfessionen und Denominationen zwingend auf das Glaubensvorbild der Mutter Jesu angewiesen wären. Vielmehr sind die einzelnen Konfessionen darauf angewiesen, ihren eigenen Glauben im Maß des Jüngers, den Jesus liebte, zu sehen und zu leben. Sie müssen nicht alle zum Gelingen ihres Jüngerglaubens am Tropf des Glaubens der Gottesmutter hängen.

Wer zieht bei wem ein? Wer ist bei wem eingezogen? Maria, die Mutter Jesu, ist in die „WG“ der Glaubenden eingezogen. Dort will sie ein Ferment des Glaubens ein. Sie verliert aber die Fähigkeit dazu, wenn man ihr ein eigenes apartes Appartement einrichtete, in welchem sie ganz alleine leben sollte. Es wäre ihr baldiger Tod.

Prof. Stefan Knobloch, Mainz
E-Mail: pastoralunimz@hotmail.com


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