Johannes 19,16-30

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Die Familie und der Tod | Karfreitag | 18.04.2025 | Johannes 19,16-30 | Paul Wellauer |

| Psalmgebet im Wechsel | Psalm 22,1-22 | Die Bibel nach Martin Luther, 2017*
| Leiden und Herrlichkeit des Gerechten |
[1 Ein Psalm Davids, vorzusingen, nach der Weise «die Hirschkuh der Morgenröte».]
2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
II 3 Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
I 4 Aber du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels.
II 5 Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.
I 6 Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.
II 7 Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk.
I 8 Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf:
II 9 »Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.«
I 10 Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; du liessest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter.
II 11 Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoss an.
I 12 Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer.
II 13 Gewaltige Stiere haben mich umgeben, mächtige Büffel haben mich umringt.
I 14 Ihren Rachen sperren sie gegen mich auf wie ein brüllender und reissender Löwe.
II 15 Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs.
I 16 Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub.
II 17 Denn Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füsse durchgraben.
I 18 Ich kann alle meine Gebeine zählen; sie aber schauen zu und weiden sich an mir.
II 19 Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.
I 20 Aber du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen!
II 21 Errette mein Leben vom Schwert, mein einziges Gut von den Hunden!
I 22 Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und vor den Hörnern der wilden Stiere – du hast mich erhört!
I+II AMEN

| Lesung Predigttext | Johannes 19,16-30 | Kreuzigung und Tod Jesu | Die Zürcher Bibel, 2007** |

16 Da lieferte er [Pilatus] ihnen Jesus zur Kreuzigung aus. Sie übernahmen nun Jesus. 17 Er trug sein Kreuz selber und ging hinaus zu der sogenannten Schädelstätte, die auf Hebräisch Golgota heisst. 18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere, auf jeder Seite einen, in der Mitte aber Jesus. 19 Pilatus liess auch eine Tafel beschriften und sie oben am Kreuz anbringen. Darauf stand geschrieben: Jesus von Nazaret, der König der Juden. 20 Diese Inschrift nun lasen viele Juden, denn die Stelle, wo Jesus gekreuzigt wurde, lag nahe bei der Stadt. Sie war in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache verfasst. 21 Da sagten die Hohen Priester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. 22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. 23 Nachdem nun die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen Teil, dazu das Untergewand. Das Untergewand aber war ohne Naht, von oben an am Stück gewoben. 24 Da sagten sie zueinander: Wir wollen es nicht zerreissen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift in Erfüllung gehen, die sagt: Sie haben meine Kleider unter sich verteilt, und über mein Gewand haben sie das Los geworfen. Das also taten die Soldaten. 25 Beim Kreuz Jesu aber standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. 26 Als nun Jesus die Mutter und den Jünger, den er liebte, neben ihr stehen sieht, sagt er zur Mutter: Frau, da ist dein Sohn. 27 Dann sagt er zum Jünger: Da ist deine Mutter. Und von jener Stunde an nahm der Jünger sie zu sich. 28 Danach spricht Jesus im Wissen, dass schon alles vollbracht ist: Mich dürstet! So sollte die Schrift an ihr Ziel kommen. 29 Ein Gefäss voll Essig stand da, und so tränkten sie einen Schwamm mit Essig, steckten ihn auf ein Ysoprohr und führten ihn zu seinem Mund. 30 Als Jesus nun den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und er neigte das Haupt und verschied.

Selig ist jeder Mensch, der Gottes Wort hört, in seinem Herzen bewahrt und danach lebt. Amen 

| Predigt Die Familie und der Tod |

Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern durch die Liebe und Gnade Gottes

1. Können wir den Tod von Jesus feiern?

Meine Frau hat im Religionsunterricht mit ihren Schülerinnen und Schülern in den letzten Wochen Karfreitag und Ostern thematisiert. Ein Schüler fragte sie: «In anderen Ländern wird der Tod gefeiert, warum eigentlich bei uns nicht?» Zuerst bedankte sie sich für die wertvolle und tiefsinnige Frage, dann antwortete sie sinngemäss: «Wenn wir an unsere christliche Auferstehungshoffnung denken, haben auch wir alle guten Gründe zu feiern. Für die Angehörigen und Freunde ist es aber trotzdem sehr traurig, wenn ein geliebter und nahe stehender Mensch stirbt.»
Heute ist Karfreitag: Wir erinnern uns an den Kreuzestod von Jesus. Oder dürfen wir sagen: Wir feiern den Tod von Jesus? Auch hier ist wohl zu unterscheiden: Für die Kernbotschaft unseres christlichen Glaubens sind Tod und Auferstehung von Jesus grundlegend. Daher dürfen und sollen wir feiern. Oft wird gesagt: Für uns evangelische Christinnen und Christen ist der Karfreitag der höchste Feiertag, da er die Grundlage für unsere Erlösung und unser Heil legt. Karfreitag ist das Fest der Gnade Gottes. Doch genauso macht uns Jesu Tod betroffen und sprachlos: Es war ein grausamer Foltertod, den Jesus erlitten hat. Und das Urteil, das ihn traf, war aus heutiger Sicht fadenscheinig und ungerecht. Jesus hat Menschen geholfen und geheilt, er hat Liebe gepredigt und gelebt. Gemäss den Berichten des Neuen Testaments war Jesus ohne Schuld (Lukas 23,4.14.22; 1. Johannes 3,5; 1. Petrus 2,22; 2. Korinther 5,21) und wurde doch zur schlimmsten Strafe verurteilt. Jesus hat unsere Schuld auf sich genommen und die Strafe erlitten, die eigentlich uns gelten würde. «Mein Leib, für euch gebrochen; mein Blut, für euch vergossen», (vgl. 1. Korinther 11,24-25) werden wir bei der Feier des Abendmahls hören. So gibt Jesus selbst seinem Tod einen tieferen und bleibenden Sinn. Können wir den Tod von Jesus feiern? Ja, wenn wir die Wirkung für unsere Erlösung und unser ewiges Leben bedenken. Nein, wenn wir uns bewusst machen, dass wir Schuld daran tragen. Dann ist Trauer, Reue und Busse die passende Reaktion. Auch das werden wir uns in der Vorbereitung zum Abendmahl ins Bewusstsein rufen.
Liebe Gemeinde, so lautet mein erster Wunsch für diesen Karfreitag: Dass wir sowohl dankbar und vertrauensvoll Karfreitag und damit den Tod von Jesus feiern, wie aber auch ernsthaft über seinen grausamen Tod und unseren Anteil daran nachdenken.

2. «Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.»

Pilatus hatte gemäss allen vier Evangelien seine liebe Mühe, eine hinreichende Begründung für die Verurteilung von Jesus zu finden. Trotzdem oder erst recht wollte er wie üblich den Grund für die Todesstrafe am Kreuz für die Öffentlichkeit sichtbar machen. «Jesus von Nazareth, König der Juden» in den drei damals gängigen Sprachen lateinisch, griechisch und hebräisch liess Pilatus über das Kreuz schreiben. Bei Verurteilungen nach römischem Recht war es Vorschrift, dass die Verurteilten auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte ein Schild mit dem Verbrechen, das sie begangen hatten, um den Hals trugen, den sogenannten «titulus». Dies sollte alle Zuschauer abschrecken und deutlich machen, dass Verbrechen konsequent geahndet werden. «König der Juden» ist allerdings ein sehr unüblicher Grund für eine Verurteilung zum Tod. Die jüdischen religiösen Führer wehrten sich denn auch und wollten die Aufschrift geändert haben. «Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.», gibt ihnen Pilatus trotzig zur Antwort. Für die jüdischen Vorsteher war es Gotteslästerung, dass Jesus für sich in Anspruch nahm Gottes Sohn zu sein und in Gottes Vollmacht Sünden vergeben zu können. Sie konnten die Todesstrafe, die aus ihrer Sicht das angemessene Urteil bei Gotteslästerung darstellte, allerdings nicht vollstrecken. Die «höhere Gerichtsbarkeit» für Kapitalstrafen lag bei der römischen Besatzungsmacht. Doch Pilatus konnte Jesus nicht aus religiösen Gründen verurteilen, dazu hatte er keine Kompetenz. Eine eigentliche Straftat konnte er ihm nicht nachweisen. Allerdings bewegte Jesus offenbar die Menschenmassen: Am Palmsonntag jubelten sie ihm zu und wollten ihn gerne als König sehen. Wenige Tage später wünschten sie ihn ans Kreuz. So waren es eher politische Gründe, die zum Todesurteil für Jesus führten: Pilatus wollte Ruhe. «Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.», bestätigt diese Absicht. Auch die jüdischen Hohen Priester sollten nun Ruhe geben.
Ich erlaube mir einen kleinen Exkurs: Wir denken heute über den Tod von Jesus nach. Auch unsere Sterblichkeit und unser Tod sind damit angesprochen. Paulus wird in seinen Briefen formulieren, dass wir mit Jesus am Kreuz sterben und die Hoffnung haben, auch mit ihm zu neuem Leben zu auferstehen (Römer 6,8). In meinen rund dreissig Jahren im Pfarramt durfte ich gemeinsam mit den Trauerfamilien rund 600 Beerdigungen gestalten. Wie oft haben sich die Angehörigen und auch ich gewünscht, die verstorbene Person hätte zu Lebzeiten nach dem Prinzip gelebt: «Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.» Oft tappen die Angehörigen im Dunkeln über spezifische Wünsche zur Beerdigung, zum Lebenslauf und auch zur inneren Haltung des Verstorbenen zu Tod und Auferstehungshoffnung. Mein zweiter Karfreitags- und Osterwunsch als Pfarrer an euch, liebe Gemeindeglieder: Notiert offen und ehrlich, wie ihr «die letzten Dinge» geregelt haben wollt und schreibt auch auf, welchen Gedanken euch in Bezug auf die christliche Auferstehungshoffnung bewegen. Das dient zunächst euch ganz persönlich und dann auch eurer Familie und uns als Pfarrpersonen. Womit wir beim dritten Punkt wären:

3.«Der Tod und die Familie»

Die Worte, die Jesus an Maria und Johannes richtet, sind ebenso sonderbar wie bemerkenswert. Eigentlich wäre in einer traditionell jüdischen Familie in einem Todesfalle alles klar geregelt: Stirbt der Vater, ist der älteste Sohn für die Versorgung der Mutter zuständig. Stirbt dieser, übernimmt der Zweitälteste diese Verantwortung. In der Familie von Jesus wäre dies wohl Jakobus gewesen, der als erster der Brüder von Jesus genannt wird (Matthäus 13,55-56) und auch später in den Biblischen Berichten mehrmals Erwähnung findet. Allerdings hatte Jesus ja eine angespannte Beziehung zu seiner Herkunftsfamilie, wie uns die Evangelisten Matthäus (12,46-50) und Johannes (7,5) berichten. Jesus definiert eine neue Familienverbundenheit jenseits der biologischen Familie: «Wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.» (Matthäus 12,50) Für jüdische Menschen geht der Zusammenhalt und die Solidarität in der Familie über alles. Dass Jesus seine leibliche Familie zurückweist und andere Menschen an ihrer Stelle als ebenso wichtig oder noch wichtiger bezeichnet, ist ein Affront, eine Beleidigung für seine Familie. Gut möglich, dass daher die leiblichen Brüder von Jesus schlecht auf ihn zu sprechen sind und auch auf ihre Mutter Maria, die trotz allem bis zum Äussersten zu ihrem Erstgeborenen hält. Jesus zeigt im Todeskampf am Kreuz, dass ihm seine Mutter ebenso wichtig bleibt wie sein Lieblingsjünger Johannes. Allerdings ist Johannes auch der einzige der Jünger, der beim Kreuz zusammen mit den Frauen ausharrt: Die anderen Jünger sind aus Angst geflohen, selbst inhaftiert und verurteilt zu werden (Matthäus 26,56).
Mich erinnert die Szene an meine Erfahrungen als Seelsorger im Sune-Egge, dem Spital für Menschen mit Sucht- und HIV-Erkrankungen der Sozialwerke Pfarrer Sieber. Oft war es am Ende die Mutter, die am Sterbebett ihres an AIDS erkrankten Kindes bis zuletzt ausharrte. Andere Familienangehörige, insbesondere die Väter, hatten oft nicht den Mut und die Vergebungsbereitschaft, ihren Sohn oder ihre Tochter in diesen letzten Stunden zu begleiten. Manchmal gelang es in Gesprächen noch, schwierige Situationen und seelische Verletzungen anzusprechen. Da und dort gab es versöhnliche Worte, eine Umarmung oder ein Gebet, das für beide Seiten heilsam und entlastend wirkte. Bereinigung von gegenseitigen Enttäuschungen, Verletzungen und Schuldfragen, ist nur zu Lebzeiten gut und für alle Beteiligten befriedigend möglich. Echte Versöhnung kann so viel Befreiung und Erleichterung bewirken, wenn sie in einem vertrauensvollen Gespräch stattfinden kann!

Daher meine grösste und schwierigste Bitte für diesen Karfreitag und die Ostertage, liebe christliche Geschwister: Wenn du den Eindruck hast, dass zwischen dir und einem Familienangehörigen noch «offene Rechnungen» bestehen, die besser bereinigt und geklärt werden sollten, dann nutze diese Tage über Ostern für eine Aussprache. Die Grundlage für alle unsere Bemühungen um Frieden und Versöhnung bilden Tod und Auferstehung von Jesus: Er hat unsere Schuld ans Kreuz getragen. Weil uns vergeben ist, können auch wir anderen Vergebung und einen Neuanfang anbieten, ohne dass jemand das Gesicht verlieren muss.
«Geschrieben ist geschrieben»: In keinem anderen Teil des Lebens von Jesus sind sich die vier Evangelien so einig, wie bei Tod und Auferstehung von Jesus. Auch für uns und unsere Angehörigen ist es beruhigend und klärend, wen wir unsere «letzten Dinge» verschriftlichen.

Ich wünsche uns allen feierliche, ernsthafte und zutiefst versöhnliche Tage über Karfreitag und Ostern.
Amen


Liedvorschläge

ERG 445 O Haupt voll Blut und Wunden

ERG 318 Seht, das Brot, das wir hier teilen

ERG RG 323,1-3 Komm, sag es allen weiter

RW 21 Blessed be Your name / Dir gehört mein Lob

RW 50 Amazing Grace / O Wunder der Barmherzigkeit

RW 78 Näher, mein Gott, zu dir

Kei Muetter weiss, was ihrem Chind wird gscheh  / Aus «Zäller Wiehnacht» / © Paul Burkhard

*) Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

**) Die Zürcher Bibel, Ausgabe 2007, © Friedrich Reinhard Verlag Basel, & Theologischer Verlag, Zürich

ERG = Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, © Friedrich Reinhard Verlag Basel, & Theologischer Verlag, Zürich 1998

RW = Rückenwind, Lieder für den Gottesdienst, Hrsg. Evang Landeskirche des Kantons Thurgau, Theologischer Verlag, Zürich 2017

 

Pfr. Paul Wellauer, Bischofszell, Schweiz

E-Mail: paul.wellauer@internetkirche.ch

Web: www.internetkirche.ch | www.internetkirche.ch/livestream | www.evang-tg.ch

Paul Wellauer, geb. 1967, Pfarrer und Mitglied im Kirchenrat der evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau, Schweiz. Seit 2009 in Bischofszell-Hauptwil, 1996-2009 in Zürich-Altstetten, davor 1993-1996 Seelsorger und Projektleiter in der Stiftung Sozialwerke Pfr. Ernst Sieber, Zürich