Johannes 3,1–15

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Trinitatis | 15. Juni 2003 | Johannes 3,1–15 | Hanne Sander |

Es ist in einer seiner schlaflosen Nächte, in der wir Nikodemus
kennenlernen. Es ist wohl nicht die erste Nacht, wo er lag und nicht
schlafen konnte – denn es gehört schon etwas dazu, daß ein
angesehener Jude sich dazu bequemt, bei Jesus vorbeizuschauen.

Und was das für Gedanken sind, die Nikodemus wachhalten – wir
erfahren es nicht direkt, denn Nikodemus kommt nicht weiter als daß er
sagt, daß er bemerkt hat, daß bei Jesus etwas auf dem Spiel
steht, daß durch die Zeichen, die er tut, Kräfte sichtbar
werden, die größer sind als er selbst. Die Dinge, die um ihn
herum geschehen, reichen über ihn selbst hinaus – und werden heilend
und vergebend für die Menschen, denen Jesus begegnet. Das ist etwas
von dem, was Nikodemus gehört und gesehen hat, er hat gesehen, daß sich
eine Veränderung vollzog im Leben der Menschen, die mit Jesus in
Berührung kamen – aber seine Nachtgedanken kommen immer wieder auf
die Frage zurück, wie Veränderung möglich ist im Leben
eines Menschen.

In der Antwort, die Nikodemus von Jesus erhält, wird das Wort
Veränderung nicht verwandt, sondern die Wendung, daß ein Mensch,
wenn er nicht von Neuem geboren wird, nicht das Reich Gottes sehen kann.

Neu geboren werden – einen neuen Anfang bekommen, Nikodemus hatte gesehen,
daß das geschah. Er hatte Menschen gesehen, wie sie befreit wurden
und eine neue Freiheit gewannen in der Begegnung mit Jesus – und Jesus
hatte er auch als einen befreiten Menschen erlebt. Aber trotzdem kehrt
er immer wieder zu derselben Frage zurück: Ja, wie ist das möglich?
Wie ist ein neuer Anfang möglich – wie kann man zum zweiten Mal
geboren werden?

Ich höre das, wonach Nikodemus fragt, nicht so buchstäblich,
wie es klingt. Vielmehr denkt er darüber nach, daß wir nicht
von dem loskommen können, die wir sind. Das Leben, das wir schon
gelebt haben, können wir nicht noch einmal leben mit all dem, was
wir gesagt, gedacht und getan haben – oder nicht getan haben. Dies hat
ja unser Leben gestaltet und bestimmt – und zu dem gemacht, was es heute
ist. Wie soll man das außer Betracht lassen und dann von vorn beginnen?

Wir versuchen das zuweilen – oder denken zumindest: Nun soll es anders
werden. Und wir können ernste Beschlüsse fassen, daß es
jetzt anders werden soll – ab morgen, nächsten Monat, nach den Sommerferien:
Dann will ich mich nicht mehr so leicht aus der Fassung bringen lassen,
dann will ich nicht mehr dem Minderwertigkeitsgefühl erliegen, dann
will ich nicht mehr das zerstörerische Schuldgefühl mit mir
herumtragen – oder was das nun ist, von dem wir uns selbst überzeugen
wollen. Nun soll all das, was war, nicht mehr bestimmen, was kommt. Die
Vergangenheit soll nicht mehr die Zukunft bestimmen. Und was erleben
wir, was erlebte Nikodemus? Daß wir nicht von uns selbst freikommen
können – mit all unserer Vernunft und mit all unserem Willen. Was
vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch, sagt Jesus – und das ist keine
Abwertung, sondern eine Feststellung.

Ja, aber …, sagt Nikodemus. Da fehlt Glaube, sagt Jesus. Denn irgendwo
ist es so, daß man sich den Glauben mit Fragen vom Leibe halten
kann. Nikodemus ist in der Tradition oft als der sympathisch Fragende
dargestellt worden. Das ist auch nicht falsch – aber es kann der Zeitpunkt
kommen, wo man sich von der Wahrheit wegfragt, wo die Fragen eine Art
von Schirm werden, so daß die Fragen in sich dazu betragen, einen
auf Abstand zu halten zu dem, wonach gefragt wird.

Ich erinnere mich an eine etwas merkwürdiges Beispiel von einer
Reise nach Erfurt. Dort gibt es eine schöne und berühmte Holzbrücke,
die mußtten wir natürlich auch sehen, als wir da waren. Wir
fragten nach der Brücke – ohne sie finden zu können. Es stehen
nämlich Häuser auf beiden Seiten der Brücke – sie sieht
unmittelbar nicht aus wie eine Brücke. Wir fragten also weiter,
auch als wir schon auf der Brücke standen – und da konnte uns niemand
helfen.

Ein mehr tragisches – aber sicher allen vertrautes Beispiel ist die
Situation, wo die Frau den Mann immer wieder fragt, ob er sie liebt.
Und ganz gleich wie sehr er ihr versichert, daß er sie liebt, sie
fragt weiter: Ja, liebst du mich nun auch richtig? Zugespitzt gesagt:
Man kann die Liebe wegfragen und Überdruß herbeifragen – denn
der andere kann sich ganz ohnmächtig fühlen in den Versuchen,
seinen Worten nun Glaubwürdigkeit zu verleihen, wenn der Fragende
nicht hört, was gesagt wird, und nicht sieht, was ist.

Das Fragen des Nikodemus ähnelt in gewisser Weise dem heutige
religiösen Fragen – denn manchmal kann man das Gefühl haben,
daß das viele Fragen in sich eine Abwehr ist für eine Form
von Immunität – man hält sich selbst außen vor, vielleicht
aus Angst, sich dem unberechenbaren Leben auszuzetzen.

Die Geschichte von Nikodemus wird nicht fertig erzählt. Johannes
erzählt von ihm ein paar Mal mehr – einmal, als er Jesus vor dem
Hohen Rat verteidigt, und dann ist er auch bei der Grablegung dabei,
und da ist es keine Nacht. Wir erfahren also nicht, ob Nikodemus sozusagen
im Dunkel bleibt, die in sich auch eine Art von Schutz bietet. In der
Nacht kann man nicht so gut gesehen werden und braucht nicht so deutlich
in Erscheinung zu treten.

Vielleicht ist das sogar das Klügste – aber das war nie das, was
Gott mit uns vorhatte. Deshalb schickt er noch immer seinen Geist, der
uns wie ein Wind aus der Nacht fegt, und er schickt noch immer sein Licht
in unsere Finsternis, so daß sie zerfliegt und wir Augenlicht und
Sinne wieder gewinnen und wieder lebendig werden. Amen


Pfarrer Hanne Sander
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