
Johannes 5,1-15
14.Sonntag nach Trinitatis | 01.09.24 | Johannes 5,1-15 (dänische Perikopenordnung) | Rasmus H.C. Dreyer |
Dass Gott ist, bedeutet, dass Möglichkeit ist
Wir alle machen uns Gedanken über die Zukunft. Jeden Tag. Wir hoffen. Ja, wenn wir hoffen, dann bemühen wir unsere Einbildungskraft. Mit anderen Worten: Wir träumen.
Ihr kennt wohl alle Walt Disney, den Vater der Zeichentrickfilme. Damals waren die Träume in unseren Köpfen oder höchstens in der Welt der Bücher. In dieser Hinsicht war Disney einer der ersten, der die Träume in Wirklichkeit auf der weißen Leinwand verwandelte. „If you can dream it, you can do it“, sagte er, wenn du es träumen kannst, kannst du es machen.
Ist es aber so einfach? Nein! Das Leben lehrt uns etwas anderes. Nicht immer gehen unsere Träume in Erfüllung. Wir können nicht alles, was wir wollen. Wir können nicht all das werden, was wir wollen oder wovon wir träumen.
Die alten Griechen sagten: Erkenne dich selbst. Und damit meinten sie: Kenne deine Grenzen. Denn unser Dasein hat einige natürliche oder vielleicht göttliche Grenzen. Wir können krank werden, wir sterben, wir hungern und dürsten, wenn wir nicht das Lebensnotwendige bekommen. Heute ist bekanntlich auch Erntedankfest. Es ist leicht, die Früchte der Erde und des Meeres als selbstverständlich zu betrachten. Wir können das überall bei uns im Supermarkt kaufen, können uns alles das ganze Jahr vom Regal nehmen.
OK, nun bin ich einmal Pastor auf zwei ganz kleinen Inseln gewesen. Da kann man besser die Demut darüber erleben, dass Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs nicht immer zur Verfügung stehen. Wenn der Laden des Kaufmanns zu ist und die letzte Fähre abgefahren ist, ja dann ist da nur das, was im Kühlschrank oder der Tiefkühltruhe ist. Das Meer und der Sund zwischen den Inseln und dem Festland markiert auch eine Grenze des Daseins: Die Natur, vielleicht Gott selbst, hat uns einige Grenzen gesetzt. Wir können uns auf die andere Seite eines Meeres träumen, aber wir brauchen bekanntlich ein Schiff oder eine Brücke, um trockenen Fußes hinüber zu kommen.
Wenn wir auf das heutige Evangelium schauen, handelt es auch von Begrenzungen und Möglichkeiten des Lebens. Wir sind zeitlich und räumlich begrenzt. Aber in Träumen kann ich mich an damals erinnern, wo ich selbst an der Grenze zwischen dem Tempel und dem muslimischen Viertel in Jerusalem gestanden habe. Denn eben dort liegen die Ruinen des Teichs Betesda. Das ist kein Traum oder eine rein erfundene Geschichte. Den Teich Betesda gibt es noch heute, auch wenn er kein Wasser mehr hat. Aber in den Jahrhunderten um die Geburt Christi war Betesda ein Ort, den Kranke, Blinde und Gelähmte aufsuchten, um Linderung und Heilung zu finden. Und eben hier hielt Jesus eine seiner stärksten Predigten mit den vier kleinen Worten: „Willst du gesund werden?“
Unmittelbar ist das eine merkwürdige, ja geradezu provozierende Frage. Denn kennen wir kranke Menschen, die nicht gesund werden wollen?
Und auch wenn Jesus natürlich den Mann gesund machen konnte, will Johannes uns lieber etwas darüber sagen, wer Jesus ist. Nun könnte jemand sagen: Aha! Das ist vielleicht nur eine Räubergeschichte, dass dieser Mann gesund wurde und von Jesus geheilt wurde. Das glaube ich nicht, aber sollte das der Fall sein, sollten wir an das Wort von Pippi Langstrumpf denken, als sie das erste Mal ihre neuen Nachbarn Tommy und Annika traf.
Tommy und Annika glauben kein bisschen, dass Pippis Mutter ein Engel ist und ihr Vater Häuptling im Südmeer. „Du lügst“, sagt Tommy. „Vielleicht, aber können wir nicht trotzdem gute Freunde sein“, fragt Pippi – und das können sie bekanntlich. Und dann ist es ja ganz gewiss, dass Pippis Vater schließlich Häuptling ist und Pippi Prinzessin der Kurrekutdutinsel im Südmeer.
So ist es mit jeder Erzählung. Sie kann Tatsachen vermitteln. Sie hat aber auch eine tiefere Bedeutung, die etwas zu uns und über uns sagt. Diese tiefere Ebene kann genauso wirklich sein wie die faktische. Lasst uns sehen, wie sich das heute geltend macht: Jesus bittet den kranken Mann sich zu erheben. Das ist ein Wunder. Aber es ist auch mehr. Es ist eine Auferstehungsgeschichte in sich. Denn das griechische Wort „aufstehen“ ist dasselbe Wort, das der Engel am Ostermorgen auf Jesus bezieht. Die Macht also, die den lahmen Mann erhebt, ist dieselbe Macht wie die, mit der Gott Jesus am Ostermorgen auferweckt.
Und für Johannes ist der Tod nicht nur der physische Tod, wenn das Leben endet. Unser Leben kann auch auf die Grenze des Todes stoßen, während wir leben. Wir sollen aufstehen auch in diesem Leben. Die Auferstehung gilt somit auf zwei Ebenen, der faktischen und einer tieferen Ebene, sozusagen der existenziellen Ebene. Jesus stand auf von den Toten und wurde wieder lebendig. Und im übertragenen Sinne: Wenn etwas Altes stirbt, kommt et was Neues. Wenn man sich mit dem Leben versöhnt, das man hat oder bekommt, dann entsteht ein neues Leben.
Der kranke Mann hat 38 Jahre am Teich Betesda gelegen. Die 38 Jahre sind tatsächlich auch eine symbolische Zahl. Nach jüdischer Zeitrechnung ist 38 die Anzahl von Jahrhunderten, die vergehen sollen, bis der Messias kommt. Schon hier hat der damalige Leser die Pointe verstanden. Der kranke Mann begegnet dem Erlöser selbst, Gott selbst, denn nur Gott kann Leben schenken. Und deshalb ist es vorbei mit dem Sabbat und den vielen Regeln; die Selbsterniedrigung und der lebendige Tod sind überstanden. Der kranke Mann am Teich nimmt sein Leben wieder auf sich, er versöhnt sich mit seinem Leben und erhält deshalb den Mut, seine eigene Begrenzung zu überwinden – in den Worten der Bibel: Sich erheben, erneut das Leben aufnehmen.
Søren Kierkegaard hat einmal geschrieben: Dass Gott ist, bedeutet, dass Möglichkeit ist. Das ist nicht dasselbe wir Walt Disneys Glaube daran, dass wir alle unsere Träume zum Leben erwecken können. Wir wählen nicht notwendigerweise selbst, wozu wir im Leben gerufen werden. Dass Gott Möglichkeit ist, bedeutet, dass unsere Selbstgenügsamkeit – im Falle des Kranken seine Fixierung auf eigne Ungenügsamkeit – von uns genommen wird.
An einer anderen Stelle des Johannesevangeliums sagt Jesus von sich selbst: Ich bin das Brot des Lebens. Vielleicht sollen wir diese Worte an einem Erntedankgottesdienst wie heute wiederholen. Wir sagen nämlich heute Dank für das Getreide, das Wachstum und die Früchte, die uns täglich sättigen. Aber der Mensch lebt bekanntlich nicht vom Brot allein. Es ist mit anderen Worten ein Unterschied, ob man das Leben besitzt, es einem physisch gut geht und man Herr ist über alles im Leben – oder ob man das Leben empfängt. Der kranke Mann am Teich Betesda soll uns lehren, alles zu empfangen im Leben, auch nach 38 Jahren langwieriger Wartezeit. Plötzlich begegnet der Mann dem Leben wieder und glaubt dem Wort Jesu.
Ja, sicher, es ist leicht gesagt, dass man nur glauben soll. Auch hier weiß Jesus Rat: Seht die Kinder. Astrid Lindgren schrieb in den Brüdern Löwenherz von dem sterbenden Tvebak (dt. Krümel) und seinem großen Bruder Jonatan, der schließlich in den Himmel kommt – Nangijala in der Sprache Lindgrens – vor seinem kranken Bruder, als er bei einem Brand bei dem Versuch umkommt, ihn zu retten.
Das war nicht in Ordnung, meinte ein Kinderpsychologe. Er beklagte sich bei Lindgren: Kein Kind könne es ertragen, eine so harte Erzählung zu hören. Kurz darauf rief ein Kind Lindgren an und dankte ihr dafür, dass sie den Brüdern Löwenherz so einem glücklichen Schluss gegeben hatte. „So können Kinder das erleben“, erklärte Lindgren und fuhr fort: „Denn nur Kinder können Wunder vollbringen, wenn sie lesen“.
Vielleicht sollten wir die Bibel und das Leben auch so lesen. Mit den Augen des Glaubens in dieser Perspektive. Wir könnten damit beginnen, Wunder wahrzunehmen und zu erkennen, von denen wir in der Bibel hören und lesen. Amen.
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Rasmus H.C. Dreyer, PhD,
Dozent am Predigerseminar Aarhus
Hatting/Horsens, Dänemark
Email: rahd (at) km.dk