Johannes 5,39-47

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Handbuch des Glaubens | 1.Sonntag nach Trinitatis | 22.6.2025 | Joh 5,39-47 | Wolfgang Vögele |

Segensgruß

Der Predigttext für den ersten Sonntag nach Trinitatis steht Joh 5,39-47:

„Christus spricht: Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist’s, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet. Ich nehme nicht Ehre von Menschen; aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?

Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?“

Liebe Schwestern und Brüder,

für die folgende Geschichte ist wichtig, daß ich ein sehr altes Auto fahre. Kein Oldtimer, aber angejahrt, mit Lackschäden und Rostansätzen, Autoradio statt Infotainment, Warnleuchten und Tempoanzeiger am Armaturenbrett statt digital eingeblendeten Anzeigen, kein Internet. Neulich also leuchtete beim Start des Autos ein Lämpchen, das wie ein orangenes Gänseblümchen aussah. Ich schaltete den Motor wieder aus und nahm die vergilbte Betriebsanleitung aus dem Handschuhfach. Nach einigem Blättern fand ich heraus, daß Lämpchen, die wie orangene Gänseblümchen aussehen, auf einen Fehler bei der Beleuchtung hindeuten. Die Betriebsanleitung warnte sofort: Falls es sich um die Glühbirnchen der Scheinwerfer handelt, bitte tauschen Sie diese nicht selbst aus, sondern lassen Sie den Wechsel von einer Fachwerkstatt durchführen. Ich schaute nach und wirklich: Vorne rechts funktionierte der Scheinwerfer nicht mehr. Ich will nun keine Klage führen über die Digitalisierung von Autos, mich interessiert die Betriebsanleitung. Solch ein dickes, schlecht gegliedertes und für Auto-Laien kaum verständliches Heft liegt in jedem Handschuhfach oder im Kofferraum. Jeder Autolenker hofft, daß er es nicht benutzten muß. Eine Betriebsanleitung erklärt, wie man ein Auto pfleglich fährt, wann man zur Inspektion muß, welche Einstellungen nötig sind und wie man kleinere Reparaturen selbst von einem Fachbetrieb durchführen läßt.

Viele Menschen hätten es gerne, wenn es solch eine Betriebsanleitung auch für das ganze Leben gäbe. Früher war das die Bibel: Sie enthält eine Erzählung über die Entstehung der Welt, dazu kommen Gebote für die richtige Lebensführung, abstraktere und konkretere, schließlich anschauliche Geschichten darüber, wie Gott das Leben der Menschen begleitet, zuerst das Volk Israel, dann Jesus von Nazareth, dann alle glaubenden Personen. Die Bibel ist so eine Art Betriebsanleitung für das Leben mit Gott. Leider ist das Leben, noch mehr das Leben mit Gott komplizierter als das schonende, störungsfreie Fahren eines Autos. Ich komme sofort darauf zurück.

Heute, in der Gegenwart, lesen immer weniger Menschen in der Bibel, an ihre Stelle sind andere Bücher getreten: Bücher über Lebenskunst und Spiritualität, Anleitungen zum glücklichen Leben, auch Bücher für Spezialfälle, Anleitungen zum Abnehmen, zum Sporttreiben, für Gesundheit, als Vorsorge für Krankheit, Anleitungen, um sich zu verlieben, sich wieder zu trennen, Anleitungen, um eine glückliche Familie zu werden. Sorge dich nicht, lebe! Weil die Bücher zunehmend aus dem Alltag verschwinden, sind die Anleitungen zunehmend ins Internet und in kleine Filmchen ausgewandert. Das nennt man dann Erklärvideos: Mache diese Übungen zwei Wochen lang und Du wirst Dich wieder wie ein gelenkiger Mensch fühlen. Neue Autos haben eingebautes Internet, da kann man nachschauen, was digitale Warnsymbole auf der Bildschirmkonsole bedeuten. Und man kann nachschauen, wie man nach langer Autobahnfahrt und langem Sitzen hinter dem Lenkrad wieder zu einem gelenkig-gesunden Fußgänger wird.

Liebe Schwestern und Brüder, das Leben gleicht nicht einem Theaterstück, für das man vor der Premiere sechs Wochen proben könnte. Das Leben gleicht eher einem Theaterstück ohne Probezeit. Jeder muß seine Rollen spielen und sein Leben führen, ohne richtig zu wissen, was auf ihn zukommt. Um so wichtiger ist daher alles, was trotzdem auf Krisen, Schwierigkeiten und Brüche und zuletzt auf Alter, Krankheit und Sterben vorbereiten könnte. Und dafür bietet sich die Bibel an, in einer unvergleichlichen Mischung aus Geboten, Weisheit, Gebeten und spannenden Erzählungen. Das Problem ist nur: Wie kommt man vom Lesen zum Leben?

Im Johannesevangelium sagt Jesus zu diesem Problem etwas sehr Überraschendes. Es reicht keineswegs, nur die Bibel zu studieren, sagt er. Leben ist wichtiger als Lektüre. Und er sagt ein zweites: Man darf die Bibel nicht so lesen, daß man ausschließlich Gebote aus ihr herauszieht. Denn Leben scheitern, wenn Menschen sich darauf beschränken, ihre Lebensführung durch das Einhalten von Geboten zu begrenzen. Das ist genau wie beim Autofahren: Es reicht nicht aus, sich nur an die Verkehrsregeln zu halten. Leben braucht Regeln, das sicher. Aber Leben, sagt Jesus, braucht auch Beziehungen, Beziehungen zu anderen Menschen und eine Beziehung zu Gott, der die Welt und die Menschen geschaffen hat. Und das, so der weisheitliche Prediger, finden die Menschen vor allem in mir, in Jesus von Nazareth. Denn ich bin der einzige, der Gott seinen Vater nennt.

Nun wird es kompliziert. Denn Jesus verteidigt sich mit diesen Worten des Predigttextes. Er fühlt sich angegriffen von seinen jüdischen Mitbürgern und versucht ihnen zu zeigen, daß sie sich irren. Er bringt harte Vorwürfe hervor, die man zu Recht für antijudaistisch halten kann. Es ist gut möglich, daß der Evangelist Johannes diese Geschichte ins Evangelium aufgenommen hat, weil er seinen Gemeinden Unterschiede zwischen Christentum und Judentum vor Augen stellen wollte. Aufgrund der deutschen Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust sehen wir das heute sehr kritisch. Und noch kritischer wird das, wenn man die aktuelle politische Situation im Nahen Osten einbezieht. Der Staat Israel wehrt sich nach den Terroranschlägen der Hamas militärisch, nicht nur gegen die Hamas, sondern auch gegen ihre gefährlichen Unterstützer im Iran. Die Lage im Gazastreifen ist verworren und unübersichtlich, und Israels Maßnahmen sind zunehmend umstritten, auch wenn die meisten das Recht des Landes auf Selbstverteidigung nicht bestreiten. Ich will keine Bewertung der politischen Lage im Nahen Osten abgeben, das wäre in so einer kurzen Predigt auch gar nicht möglich. Ich sage, daß mich das zunehmend besorgt und verzweifelt macht.

Und ich will auf zweierlei hinweisen. Erstens: Die politische Lage und das Verhältnis zwischen Christen- und Judentum müssen unterschieden, nicht getrennt werden. Zweitens: Theologisch gilt, daß Christen- und Judentum geschwisterliche Religionen sind. Das erste ist aus dem zweiten entstanden, ohne es zu überbieten. Und das verbietet Antijudaismus und auch den daraus entstandenen Antisemitismus, der politisch und rechtlich bekämpft werden muß, wenn er heute wieder aufflammt. Und es fordert auch Kritik heraus, wenn das Neue Testament selbst antijudaistische Passagen enthält. Liebe Schwestern und Brüder, wir lesen biblische Texte mit den Augen der Gegenwart, es geht gar nicht anders. Direkt aus den Fernsehbildern aus Tel Aviv, Rafah, Chan Yunis und Teheran fällt ein besonderes Licht auf das Johannesevangelium.

Es kommt darauf an, wie die Passage gelesen wird. Früher hat man die Unterschiede zwischen Christen und Juden in den Vordergrund gestellt. Der Evangelist hat den Weisheitsredner Jesus zum Ankläger gemacht. Es ist aber auch etwas anderes herauszuhören.

Menschen, die ihr Leben nicht proben können, sehnen sich nach einer Anleitung, um mit den täglichen Schwierigkeiten des Lebens zurechtzukommen. Glaubende Menschen, egal ob Christen oder Juden, nutzen dafür die Bibel. Jesus sagt nun: Es genügt nicht, aus der Bibel nur Gesetze und Regeln herauszudestillieren. Er verweist auf Mose. Mose war zum einen Gesetzgeber, der auf dem Berg Sinai die zehn Gebote und andere mehr empfing. Die Gesetze des Moses waren mit göttlicher Verbindlichkeit ausgestattet. Mose war aber zum anderen auch Fürsprecher seines Volkes Israel. Die Erzählung des Auszugs des Sklavenvolkes aus Ägypten zeigt, daß Israel in der Wüste keineswegs nur Gebote empfing. Die Geschichte besteht aus einem Auf und Ab, von Begeisterung und Murren, von Zustimmung und Triumph, aber eben auch von Niedergeschlagenheit und Überdruß. Das Volk wandte sich von Gott ab und wandte sich ihm wieder zu. Mose, als Fürsprecher des Volkes, sorgte mehrfach dafür, daß das Volk wieder zurückkam zu Gott. Das Goldene Kalb wurde wieder eingeschmolzen. Die Hungersnot wurde durch Wasser und Manna gemildert. Die zerstörten zehn Gebote hat Mose ein zweites Mal aufgeschrieben.

Der Fürsprecher Mose vermittelte aktiv zwischen dem unsichtbaren Gott und dem schwankenden Volk Israel, auch wenn ihm das sehr schwerfiel und Mühe machte. Jesus von Nazareth verweist deshalb auf Mose, weil er sich im Johannesevangelium in einer Rolle sieht, die der des Mose ähnelt. Er sieht sich nicht zuerst als Gesetzgeber, der den Glaubenden Regeln vorschreiben würde. Er sieht sich in einer besonderen Beziehung zu Gott, den er seinen Vater nennt. Gegenüber diesem Vater sieht er sich in der Rolle eines Fürsprechers für die Menschen. Glaube ist nicht Regelbefolgung, sondern lebendige Beziehung. Die Bibel ist keine Gebrauchsanleitung, sondern Beziehungs- und Gestaltungsbuch. Sie ist ein Buch, um die eigene Beziehung zu Gott zu erkennen. Ein Buch, um Glauben spontan in offenem Lernen und Kreativität in etwas Neues, Vertrauensvolles zu verwandeln. Es gibt zwar Regeln, aber diese Regeln sind nur ein Teil des Buches, neben Gestaltungsideen und Vertrauensbildung und spannend erzählter Schönheit.

In Jesu Rede, aber auch grundsätzlich, bildet der Gottesglaube, als lebendige Beziehung verstanden, das entscheidende Element. Die Bibel enthält nicht Erklärvideos über Gottes Existenz. Im strengen Sinne war Jesus kein Lehrer, vielmehr sah er seine Aufgabe darin, eine Beziehung zu Gott herzustellen. Wir später, nach Christi Geburt Geborenen, können nun einfach sagen: Ja, wenn ich Jesus persönlich sehen und mit ihm reden könnte, dann würde auch ich an Gott glauben. Aber es ist das Wunder des Glaubens, daß solche Beziehungen, von denen Jesus spricht, auch später entstehen können, eben nach Kreuzigung und Auferstehung. Glauben heißt, in eine Beziehung wachsenden Vertrauens zu Gott hineinfinden – und darin zu bleiben, immer schwankend, irgendwo zwischen Zweifel und Enthusiasmus, Anfechtung und Überschwang.

Vieles an den gegenwärtigen Zuständen kann einem zum Zweifeln bringen: An die Tragödie in Gaza und Israel, an die Gesamtsituation im Nahen Osten habe ich schon erinnert. Es geschieht im Moment so vieles, das eher Zweifel sät als Vertrauen weckt. Ich nehme das wahr, und ich würde für mich selbst sagen: Ich bin von diesem Zweifel nicht frei. Aber Jesus ermuntert uns, im Vertrauen an diesen Gott, der die Welt geschaffen und Jesus vom Tod erweckt hat, zu bleiben.

Dem Protestantismus eignet eine nüchterne, pragmatische Ader; er neigt nicht zu frommem Überschwang oder stampfender Begeisterung. Deswegen sage ich auch: Mehr – bekommen wir nicht. Jesus von Nazareth stellt uns in die Verheißungen Gottes hinein. Die Beziehung zu Gott, sie bleibt das ganze Leben hindurch erhalten, auch in Phasen größten Zweifels und größter Hoffnungslosigkeit und größter Trauer.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alles, was wir im Fernsehen an Katastrophen- und Kriegsbildern sehen, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.


Prof. Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com). Neuerscheinung: Jenseits der Abbruchkante. Unterwegs zu einer postklerikalen Theologie, Münster 2025.