
Josua 1,1–9
«Freude aus Verunsicherung ziehn – wer hat uns das denn beigebracht?» (Christa Wolf) | Neujahrstag | 1.1.2025 | Jos 1,1–9 | Dörte Gebhard |
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde am Neujahrstag
«Freude aus Verunsicherung ziehn – wer hat uns das denn beigebracht?» (Christa Wolf)
Denn ungewiss sind die kommenden Zeiten.
Denn verunsichert sind wir.
Denn Freude haben wir nötig am Anfang eines Jahres.
Einen guten Lehrmeister im richtigen Umgang mit Verunsicherung zu finden, ist alles andere als einfach.
Versicherungsvertreter gibt es bekanntlich wie Sand in der Wüste.
Es sollte ein Mensch sein, der Lebenserfahrung hat, und der am besten auch beruflich mit Ungewissheiten zu tun hat.
Die Gefahr, dass man an einen betrügerischen Scharlatan, an einen sogenannten ‚Wahrsager‘ gerät, ist auch nicht zu verachten. Aber davor konnte ich mich hüten, indem ich für diese Predigtidee kein Geld ausgab. Damit war ich tendenziell auf der sicheren Seite.
Ein eher entfernter, aber alter Bekannter, den ich eher selten sehe, ist Josua, der unmittelbare Nachfolger von Mose. Ich begegne ihm bei meiner Bibellektüre nicht so oft, aber in dieser Weihnachtszeit traf ich ihn zur Predigtvorbereitung – in seinem Buch, das dem 5. Buch Mose direkt folgt.
Er stellte sich im Laufe der Zeit als echter Experte heraus, wenn es um totales Neuland geht und eben um Verunsicherungen aller Art. Josua hat mir dann auch Anteil gegeben, was in seinem Inneren vorgegangen ist bei grosser Verunsicherung.
Hört am ersten Tag dieses Jahres aus dem Buch Josua die ersten Verse aus dem ersten Kapitel:
Gott beauftragt Josua
1 Mose, der Knecht des Herrn, war gestorben.
Ihm hatte Josua, der Sohn des Nun, gedient.
Da sagte der Herr zu Josua:
2 «Mein Knecht Mose ist tot.
Jetzt mach dich auf und überquere den Jordan!
Zieh mit dem ganzen Volk in das Land,
das ich ihnen, den Israeliten, geben will.
[3 Ich gebe euch jeden Ort zum Besitz,
den ihr mit euren Füßen betretet.
So habe ich es Mose versprochen.
4 Und so weit soll euer Gebiet reichen:
von der Wüste bis zum Libanongebirge,
vom großen Fluss Eufrat mit dem Land der Hetiter
bis zum großen Meer im Westen.
5 Niemand kann sich dir entgegenstellen,
solange du lebst.
Ich werde mit dir sein,
wie ich es mit Mose gewesen bin.
Ich lasse dich nicht fallen
und lasse dich nicht im Stich.
6 Sei stark und mutig!
Du wirst diesem Volk das Land zum Erbbesitz geben.
Denn ich habe ihren Vorfahren geschworen,
dass ich es ihnen geben werde.] [1]
7 Sei nur ganz stark und mutig!
Gib acht, dass du ganz nach der Weisung handelst,
die dir mein Knecht Mose gegeben hat!
Du sollst davon nicht abweichen,
weder nach rechts noch nach links.
So hast du Erfolg bei allem, was du unternimmst.
8 Hör nicht auf, in dem Gesetzbuch zu lesen,
und denk Tag und Nacht darüber nach.
So weißt du, worauf du achtgeben musst.
So kannst du dein ganzes Tun danach richten,
wie es darin geschrieben steht.
Dann wird dir alles gelingen, was du unternimmst.
Dann hast du Erfolg.
9 Ich habe dir doch gesagt,
dass du stark und mutig sein sollst!
Fürchte dich nicht und schrecke vor nichts zurück!
Denn der Herr, dein Gott, ist mit dir
bei allem, was du unternimmst!« (Übersetzung: Basisbibel)
Liebe Gemeinde
Josua erzählte mir zuerst, dass für ihn alles zu Ende war, als Mose starb. Seit seiner Jugend war er Mose zu Diensten gewesen, hatte er die Schlacht gegen die Amalekiter nach Moses Weisung geführt, war er als Kundschafter auf Moses Geheiss schon einmal kurz in Kanaan gewesen, hatte den Tanz um das Goldene Kalb mit ihm erlebt und erlitten und war auch in der Stiftshütte dabei gewesen, nahe bei Gott. Diese Hütte hätte er am liebsten nie wieder verlassen, so schön war es da.
Nein, die Zeiten in der Wüste waren hart, aber Josua gab zu, dass er sie im Rückblick stark verklärte.
Diese Verklärung alter Zeiten, die Nostalgie [2], so berichtete er mir, kam eines Tages zu ihm, eigentlich zuerst nur wie auf Besuch. Die Verklärung alter Zeiten ist eine edel gekleidete, aber schon ältere Dame. Als sie kam, blieb sie in Josuas Gedächtnis hocken. Sie verteilte eifrig überall ihre Erinnerungsstücke, strich immer wieder liebevoll über die Weidenkörbe voller Andenken, über die Schatullen voller Souvenirs, erinnerte Josua in stillen Momenten an diese und jene Begebenheit. Nicht aufdringlich, aber regelmässig. Josua konnte z.B. wieder riechen, wie gut es in der Stiftshütte gerochen hatte … Als sei es gestern gewesen.
Der Verstand ermahnte Josua zuweilen und rief ihm auch die schwierigen Ereignisse ins Gedächtnis, die der Nostalgie weniger gut gefielen. Aber der Verstand hatte immer jede Menge zu tun, hatte immer viel zu bedenken und versuchte immer, bloss nichts Wesentliches zu vergessen und hatte darum wenig Zeit für Diskussionen mit der alten Nostalgikerin.
Als dann Mose starb, zog majestätisch die schwarze Trauer in Josuas Seele ein. Sie verstand sich mit der Nostalgie nebenan im Gedächtnis sehr gut. Die Trauer bedeckte alles Aktuelle, Gegenwärtige mit ihren schwarzen, undurchsichtigen Stoffen. Nebenbei polierte die Trauer mit ihren Tränen der Nostalgie ihren ganzen Schmuck auf Hochglanz. Die Trauer machte aus Josuas Seele ein düsteres Zelt mit verhängtem Eingang. Das Tageslicht schaffte es nicht mehr hinein, geschweige denn die Sterne in der Nacht. Josua schlief schlecht. Er sah in seinem Gemüt nur noch schwarz.
In diesen Nächten, in denen in Josuas Seele kein einziger Lichtstrahl mehr vordrang, hörte er Gottes Stimme:
Jetzt mach dich auf und überquere den Jordan!
Zieh mit dem ganzen Volk in das Land,
das ich ihnen, den Israeliten, geben will.
Das hiess übersetzt so viel wie:
Betritt völliges Neuland!
Du wirst sehen: Es ist ganz anders als die Wüste.
Ich weiss, du kennst dich dort noch nicht aus.
Trotzdem: Brich auf!
Und nimm alle mit!
Du hast jetzt für das ganze Volk die Verantwortung.
Mit diesem Auftrag Gottes zog augenblicklich die Verunsicherung in Josuas Seele ein.
Woher die Verunsicherung genau kam?
Es blieb keine Zeit, erst noch den Verstand zu fragen.
Die grosse Verunsicherung war plötzlich da.
Die Verunsicherung breitete sich aus in seinem Kopf und in seinem Herzen, überall.
Könnt Ihr Euch das Durcheinander vorstellen, das da in der Seele und im Geist, unter den Gefühlen und auch im Oberstübchen von Josua ausbrach?
Die Verunsicherung verunsicherte alle, auch die Nostalgie und den Verstand. Beide gleichzeitig! Das war fast schon Wahnsinn!
Josua merkte gleich nach dem allerersten Schreck, dass die Verunsicherung ausserdem jede Menge Verwandte und Bekannte mitgebracht hatte.
Die Irritationen waren mindestens Drillinge – und sie schwirrten überall herum. Nichts war vor ihnen sicher. Auch nicht vor den Verwirrungen. Das waren gefühlt hundert Verwirrungen, die wild durcheinanderwirbelten.
Die Angst drängelte sich nun bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit nach vorn. Josua wusste, dass sie in ihm ist, aber er hatte sie eigentlich immer unter Kontrolle gehabt. Die Angst hatte nun alle nur denkbaren und undenkbaren Sorgen im Schlepptau. Das Zaudern kam oft vorbeigezittert.
Das Selbstwertgefühl von Josua hielt das jedenfalls alles nicht aus. Das Selbstwertgefühl zog sofort um, hinunter, ins Untergeschoss der Seele. Das Selbstwertgefühl kam nicht einmal mehr zum Essen herauf. Es wurde dadurch schwächer und schwächer.
Die Verunsicherung hatte sich unterdessen häuslich eingerichtet. Sie hatte es sich richtig gemütlich gemacht bei Josua mit ihren Stimmungsschwankungen und ihrem Hin- und Hergerissensein.
Soll ich aufbrechen? Soll ich nicht? Die Verunsicherung liess Josua grübeln.
Josua realisierte, dass es ihm unmöglich sein würde, diese wirbelige und sehr aktive Verunsicherung je wieder hinauszuwerfen.
Es blieb ihm also nichts Anderes übrig, als mit ihr zu leben.
Für die vielen anderen Bewohner in seiner Seele wurde es etwas enger; sie hatten fortan weniger Platz.
Es dauerte höchstens 9 Tage, da bekam die Verunsicherung ein Kind. Mit wem sie das gezeugt hatte? Sie selbst, die Verunsicherung, erklärte Josua – das ist übrigens die hebräische Namensform von Jesus – Gottes Geist sei über sie gekommen, ein Bote Gottes habe ihr verheissen, dass sie schwanger werden würde.
Sollte Josua ihr das glauben?
Dieses erste Kind der Verunsicherung war äusserst gewitzt und nannte sich selbst Neugier. Josua bemerkte bei sich, dass die Neugier ziemlich rasant wuchs und gedieh und schneller sprechen lernte als gedacht.
Die kleine Neugier brachte Josua auf völlig unerwartete Gedanken. Josua dachte neuerdings bei sich: Ich kenne eigentlich nichts von Gottes grosser Schöpfung, nur eben die Wüste. Die Wüste dafür ziemlich genau. Mose hatte vom Nil und von fruchtbarem Land erzählt, aber die allermeisten unter den Israeliten kennen nur Wüste und nichts als Wüste. Sie sind in der Wüste geboren, in der Wüste aufgewachsen, in der Wüste herumgezogen, sie haben in der Wüste geschwitzt und nachts in der Wüste gefroren…
Wie wäre es, über den Jordan zu gehen und aus der schier endlosen Wüste hinaus in ein Land, in dem alles ganz anders ist?! Und, nicht auszudenken, einmal sogar an einem Meeresufer zu stehen?! Josua verwandelt sich innerlich, er wird dank der neugeborenen Neugier eine «Gwundernase».
Die Nostalgie war zuerst beleidigt, weil er ihr nicht mehr so viel Beachtung schenkte. Aber die Nostalgie verwandelte sich von Tag zu Tag mehr, war eigentlich nicht mehr wiederzuerkennen und sagte nach einer Weile von sich selbst, dass sie jetzt eine neue Identität habe und einen neuen Namen. Dass sie jetzt Dankbarkeit heisse. So wollte sie jetzt immer angesprochen werden: als Dankbarkeit.
Die Dankbarkeit hat immer noch ihre Körbe voller Erinnerungen, alles ist anders. Josua kann nun zurückblicken und merken, wie oft Gott ihn und Mose und alle Israeliten bewahrt hat, wie oft es doch gutging, obwohl es nicht gut aussah: Beim Hungern in der Wüste zum Beispiel. Wenn sie sich verirrt hatten, Gott zeigte wieder den Weg. Wenn nicht den Weg, so doch auf jeden Fall(sic!) die nächsten Schritte.
Während Josua seine Aufmerksamkeit auf die Dankbarkeit richtete, war die Verunsicherung schon wieder schwanger und brachte diesmal sogar Zwillinge in die Seelenwelt Josuas. Die Zwillinge heissen Mut und Stärke.
Bei diesen beiden glaubt Josua sofort, dass Gott der Vater ist!
Wer denn sonst? Josua jedenfalls nicht, er ist durch die ganze Exodusgeschichte nie durch besondere Tapferkeit aufgefallen.
Josua hört Gott sagen:
7 Sei nur ganz stark und mutig!
Josua kann nicht viel für Mut und Stärke tun, er gewährt ihnen Unterkunft. Vor allem die Angst muss sich einschränken, die Trauer auch. Kein Mensch hat unendlich viel Platz in seiner Seele.
Gott selbst kümmert sich um Mut und Stärke, die anfänglich beide gar nicht so aussehen, wie sie heissen. Als Neugeborene wirken Mut und Stärke hilflos und ohnmächtig. Sie sind sehr schutzbedürftig und brauchen viel Pflege.
Aber auch Mut und Stärke wachsen und gedeihen, weil Josuas Selbstwertgefühl wieder aus dem Keller kommt und sich verpflichtet fühlt, sich um die beiden Kleinen zu kümmern.
So werden Mut und Stärke alsbald richtig mutig und stark.
Josua staunt darüber und hört wieder Gottes Stimme:
7 Sei nur ganz stark und mutig!
Gib acht, dass du ganz nach der Weisung handelst,
die dir mein Knecht Mose gegeben hat!
Du sollst davon nicht abweichen,
weder nach rechts noch nach links.
So hast du Erfolg bei allem, was du unternimmst.
8 Hör nicht auf, in dem Gesetzbuch zu lesen,
und denk Tag und Nacht darüber nach.
So weißt du, worauf du achtgeben musst.
So kannst du dein ganzes Tun danach richten,
wie es darin geschrieben steht.
Dann wird dir alles gelingen, was du unternimmst.
Dann hast du Erfolg.
Auf Gottes gute Gebote soll er sich verlassen. Da merkt Josua, dass die Verunsicherung doch nicht ganz überall in ihm wohnt. Da, wo er die Weisungen der Thora in seinem Gedächtnis gespeichert hat, da hat die Verunsicherung nichts zu suchen. Da ist er nach wie vor gewiss. Die Dankbarkeit bestätigt ihn darin noch extra.
Eines Tages, als die Verunsicherung einen Moment eingeschlafen ist, bricht Josua tatsächlich auf, weg aus der Wüste. Da zieht noch die Vorfreude bei Josua ein, direkt ins Herz. Die anderen sind alle noch da, aber sie haben der Vorfreude auf das Künftige Platz gemacht: die Angst und die Sorgen, sogar die Trauerhat ihre Tücher etwas zusammengerafft.
Josua hört auf Gott:
9 Ich habe dir doch gesagt,
dass du stark und mutig sein sollst!
Fürchte dich nicht und schrecke vor nichts zurück!
Denn der Herr, dein Gott, ist mit dir
bei allem, was du unternimmst!«
Liebe Gemeinde
Als ich Josua also fragte, wer uns heute beibringen könnte, Freude aus der Verunsicherung zu ziehen?
Da antwortete er ohne Umschweife:
Das kann nur Gott.
„Freude aus Verunsicherung ziehn“
Das kann uns Gott beibringen für 2025.
Er ist in Jesus Christus zu uns gekommen, damit wir aus den Wüsten dieser Welt hinausfinden in sein Reich.
Und sein Friede, der höher ist als unsere Vernunft, der grösser ist als alle Verunsicherung, der stärke und bewahre dabei unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Dörte Gebhard
[1] Um über das gewählte Thema predigen zu können, gehe ich bewusst nicht auf die Grösse der Landverheissung, die Frage der Gewalttätigkeit der Landnahme usw. ein, weil eine Predigt zu kurz ist, um die aktuelle Lage im Nahen Osten angemessen aufzunehmen.
[2] Die Predigt ist inspiriert von den beiden Filmen: «Inside out» / «Alles steht Kopf», 2015 und 2024.