Levitikus 19,1–3.13–18.33–34

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So nah wie du, so fremd wie du | 13. Sonntag nach Trinitatis | 25.08.2024 | 3. Mose 19,1–3.13–18.33–34 | verfasst von Christoph Kock |

I. Mamadous Mutter

Am Abend klopft es an ihrer Tür. Als Cathy Marie öffnet, steht ihr Mamadou gegenüber.

Er hat sein Smartphone in der Hand. „Es ist wegen meiner Mutter“, sagt er. „Sie möchte Sie sprechen. Sie hat darauf bestanden. Ich wollte Sie nicht stören.“ Dann hält er ihr das Smartphone entgegen. Cathy Marie nimmt es und setzt sich ans Fenster. Mamadous Mutter will sich persönlich davon überzeugen, dass es stimmt, was ihr Sohn ihr erzählt hat. Dass er jetzt bei Cathy Marie Kochen lernt. Die Mutter bedankt sich bei der Küchenchefin und hofft, dass aus ihrem Sohn ein guter Koch wird. „Das Zeug dazu hat er auf jeden Fall“, entgegnet Cathy Marie und gibt Mamadou das Smartphone zurück. Die Mutter will das Gespräch mit ihrem Sohn gleich fortsetzen. Aber Mamadou ist das peinlich. Er verspricht ihr, sie gleich wieder anzurufen und beendet das Gespräch, um in sein Zimmer zurückzukehren. „Sie ist eben so, immer besorgt“, meint er zu seiner Ausbilderin und verabschiedet sich. Als sich die Tür hinter ihm schließt, kämpft Cathy Marie mit den Tränen. Ein paar Worte nur hat sie gewechselt und mitgehört. Die Sorge der Mutter war im Zimmer ebenso präsent wie ihr Schmerz über die Trennung von ihrem Sohn. „Ich vermiss dich so.“ Noch nicht volljährig, aber 6.300 km oder mehr als 6 Flugstunden von ihr in Guinea entfernt. Gerade für minderjährige Flüchtlinge ein gefährlicher Weg, verbunden mit der Hoffnung ein besseres Leben. Cathy Marie weiß inzwischen, dass diese Hoffnung am seidenen Faden hängt. Ohne berufliche Perspektiven droht Mamadou die Abschiebung, sobald er volljährig ist.

Eine Szene aus der französischen Komödie „Die Küchenbrigade“ (2022). Man nehme: Eine ambitionierte Köchin, die auf dem Weg zu einem eigenen Restaurant in einem Heim für unbegleitete Flüchtlinge landet. Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, die in ihrer Küche zu einem Team, zu einer Brigade werden. Auf jeden Fall sehenswert. Auch wenn die Geschichten derer, die nach Europa geflohen sind, eher am Rand vorkommen und die Küche der Mittelpunkt des Geschehens bleibt. Das Ende, soviel sei verraten, ist zu schön, um wahr zu sein.

2. Ein Stück Tora

Zu schön, um wahr zu sein. Wenn sich die Menschen daran hielten. An Gottes Gebote. Glanz aus einer anderen Welt. Israel gegeben, damit sie Kreise ziehen und diese Welt verändern. Hören wir auf Gottes Wort. Auf ein Stück Tora, aus dem 3. Buch Mose.

19 1 Der HERR sprach mit Mose und forderte ihn auf,

2 mit den Israeliten zu reden und ihnen auszurichten:

Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.

Ich bin der HERR, euer Gott.

3 Jeder soll seinen Eltern mit Ehrfurcht begegnen,

seiner Mutter und seinem Vater.

Außerdem sollt ihr den Sabbat einhalten.

Ich bin der HERR, euer Gott. […]

13 Du sollst deinen Nächsten nicht unterdrücken

und ihn nicht ausbeuten.

Den Lohn des Tagelöhners sollst du gleich ausbezahlen.

Du sollst ihn nicht bis zum nächsten Morgen behalten.

14 Du sollst Tauben nicht mit Worten schaden.

Du sollst Blinden kein Hindernis in den Weg legen.

Und du sollst Ehrfurcht haben vor deinem Gott.

Ich bin der HERR.

15 Bei Gericht soll es nicht ungerecht zugehen:

Du sollst den Bedürftigen nicht bevorzugen,

aber auch den Mächtigen nicht begünstigen.

Stattdessen soll es gerecht zugehen,

wenn du für deinen Nächsten Recht sprichst.

16 Du sollst es nicht darauf anlegen,

andere vor deinem Volk zu verleumden.

Geh auch nicht hin,

um das Leben deines Nächsten zu fordern!

Ich bin der HERR.

17 In deinem Herzen soll es keinen Platz für Hass geben:

Hasse deinen Bruder und deine Schwester nicht!

Stattdessen sollst du mit deinem Nächsten reden

und ihn auf sein Verhalten ansprechen.

So wirst du dich seinetwegen nicht mit Sünde belasten.

18 Du sollst dich nicht rächen

und deinen Brüdern und Schwestern nichts nachtragen.

Stattdessen sollst du deinen Mitmenschen lieben

wie dich selbst.

Ich bin der HERR. […]

33 Wenn ihr in eurem Land seid und ein Fremder bei euch lebt,

sollt ihr ihn nicht unterdrücken.

34 Wie einen Einheimischen sollt ihr den Fremden ansehen,

der bei euch lebt.

Du sollst ihn lieben wie dich selbst.

Denn im Land Ägypten seid auch ihr Fremde gewesen.

Ich bin der HERR, euer Gott.

III. Wie du

Zwei Schlüsselstellen: Nächstenliebe und Fremdenliebe. Zwei Seiten derselben Medaille. Ein Wort verlangt zunächst Aufmerksamkeit. Es verbindet beide Gebote:

Du sollst du deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst.

Wie dich selbst. Damit wird die Selbstliebe zum Maßstab. Wer sich selbst zu achten vermag, soll auch andere Menschen achten. Selbstachtung als Ausgangspunkt? Manchen fällt sie schwer. Anderen fällt es schwer, von sich selbst abzusehen. Sie können nur noch sich selbst lieben. Eine griechische Sage erzählt von einem, der in das eigene Bild verliebt ist, und nimmt die Selfie-Zeit vorweg.

Wie dich selbst. Auf hebräisch ein Wort, das auch anders lauten kann. Jüdische Ausleger lesen hier: „Er ist wie du.“ Probieren wir es aus:

Du sollst du deinen Mitmenschen lieben. Er ist wie du.

Du sollst die Fremde lieben. Sie ist wie du.

Ein Mensch wie du. Verletzlich, einmalig, wunderbar. Eigenwillig, unzulänglich, begrenzt. Ein Mensch wie du, der Essen und Trinken braucht, ein Dach über dem Kopf. Ein Mensch, der liebt und Schmerz empfindet, einsam sein kann und zugleich auf Gemeinschaft angewiesen bleibt. Wie du. Menschsein ist wie eine Brücke. Wo es anderen abgesprochen wird, bröckelt sie. Mit verheerenden Folgen.

IV. Wer ist mein Mitmensch?

„Wer ist denn mein Mitmensch?“ Die Frage, so wie Jesus zu hören bekommt, zielt auf eine Grenze: Wem gilt meine Liebe und Achtung, wo ist Schluss. Wann habe ich genug getan? Überall gibt es Grenzen, warum nicht auch für Gottes Gebot. Diese Frage inspiriert Jesus zu einer Geschichte, in der ausgerechnet ein Fremder jemandem zum Mitmenschen wird, der dringend Hilfe braucht. Die Frage lässt sich nicht am Schreibtisch, sondern nur in der Situation beantworten. Entscheidend ist dabei die Sicht derer, die Hilfe brauchen. Da werden die Grenzen zwischen Einheimischen und Fremden fließend. Gott erinnert sein Volk, dass es selbst in der Fremde fremd gewesen ist. Eine Erfahrung, die viele Menschen teilen. Fremd bist du spätestens im nächsten Land.

„Wer ist denn mein Mitmensch?“ Das Stück Tora wartet mit einer Reihe von Beispielen auf. Sie beginnen in der Nähe. Dann werden die Kreise weiter. Und oft geht es um das, was in deiner Macht steht. Und um die, zu deren Wohl oder Wehe du sie einsetzen kannst. Deine altgewordenen Eltern, die Unterstützung brauchen. Der Tagelöhner, der für dich gearbeitet hat und der am Abend auf seinen Verdienst angewiesen ist. Menschen, die mit Behinderungen leben und die sich gegen Übergriffe kaum wehren können. Fremde in deiner Mitte, die so einfach unterdrückt werden können. Gott mahnt: Vergiss nicht, sie alle sind Menschen wie du.

V. Mach’s wie Gott: sei heilig!

Wenn Menschen wie Gott sein wollen, wird es problematisch. Größenwahn und Selbstüberschätzung ziehen zerstörerische Folgen nach sich. Entsprechend kritisch kommentiert die Bibel dieses Verlangen. Im ersten Buch Mose hören Adam und Eva auf das Versprechen der Schlange: „Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ Bevor sie noch untersterblich werden, verbannt Gott sie aus dem Garten Eden. Mit einem Turm will sich die Menschheit einen Namen machen. Gott jedoch begrenzt das Menschenmögliche und sorgt so dafür, dass der Turm zur Bauruine wird. Diese Erzählungen üben ein in das Unterscheiden zwischen Gott und Mensch und setzt dem Menschen Grenzen. Und jetzt das: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig. Ich bin der HERR, euer Gott.“ Gebote an Gottes Volk mit dem Ziel, Gott zu entsprechen. Das Ziel: Das zu werden, was Gott längst ist: Heilig.

Was das bedeutet: Anders sein wie Gott, herausgesondert, unterschieden. So zu denken hat eine lange Tradition, in vielen Religionen. Die Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen hat sich gewalttätig eingeschrieben in die Geschichte der Menschheit. Das Christentum hat daran einen unseligen Anteil. Aber das lässt sich auch anders denken: Heilig sein. Wie wäre es, ausnahmslos jeden Mensch mit Gottes Augen zu sehen. Und sich von dieser Sicht leiten zu lassen. Denn jeder Mensch trägt Gottes Bild in sich, es ist mit viel Liebe gezeichnet. Gottes Glanz auf allen Gesichtern. Im 3. Buch Mose beginnt das Heiligsein mit dem Schutz der Schwächeren und der Verantwortung für Schutzbefohlene. Mit dem Gebot, den Mitmenschen – anwesende Fremde ausdrücklich eingeschlossen – zu lieben, d.h. wahrzunehmen und zu achten. Denn er ist ein Mensch wie du.

Noch eine Szene (nicht der Schluss!) aus dem Film „Die Küchenbrigade“. Irgendwann sorgt die Küchenchefin Cathy Marie dafür, dass einige der Jugendlichen aus ihrer Küche im Flüchtlingswohnheim in einem Sterne-Restaurant zu Gast sind. Dort hat sie als Sous Chef gearbeitet. Sie teilt mit ihnen die Welt, aus der sie kommt. Die Jugendlichen sind begeistert. Das Essen schmeckt. Die Stimmung löst sich. Am Tisch beginnen sie zu erzählen, von ihrer Herkunft, ihrer Flucht, ihren Plänen. Von eines jeden einzigem Leben. Mit Gottes Glanz auf ihren Gesichtern.

Amen.

Material zum Film:

Trailer: https://kuechenbrigade.piffl-medien.de/

Rezension: https://www.epd-film.de/filmkritiken/die-kuechenbrigade

Begrüßung:

Herzlich willkommen zum Gottesdienst.

Was ist Ihnen heilig? Eine ungewohnte Frage.

Mir ist mein Sport heilig, sagt er Manager. Wenn ich joggen gehe, bin ich nicht erreichbar.

Mir ist mein Smartphone heilig, sagt das Mädchen. Ich nehme es überall mit hin und schalte es niemals aus.

Mir ist das Treffen mit meiner Freundinnen heilig, sagt die Frau. Wir haben unseren festen Termin. Dafür nehme ich mir Zeit.

Was ist Gott heilig? Eine ungewohnte Frage. Gehen wir ihr nach.

Sündenbekenntnis:

Gott unseres Lebens,

wir wissen, was du willst:

Dass wir dich lieben

von ganzem Herzen,

von ganzer Seele,

von allen Kräften

und von ganzem Gemüt

und unseren Nächsten wie uns selbst.

Das ist einfacher gesagt als getan.

Seinen Mitmensch zu lieben,

wenn man mit sich selbst beschäftigt ist.

Dich zu lieben,

der du verborgen bist

in dem, was geschieht.

Wie schön wäre es,

wenn wir dem Bild entsprechen könnten,

nach dem du uns geschaffen hast.

Dem Bild deiner Liebe.

Herr, erbarme dich.

Versuch eines Fürbittengebets:

Du Gott im Wort,

wie stellst du dir das eigentlich vor.

Dass wir werden, was du längst bist.

In dem, wie wir denken, fühlen und handeln.

Nicht scheinheilig, sondern heilig.

Da verlangst du viel von uns.

Wir versuchen es, hilf uns dabei,

andere Menschen mit deinen Augen zu sehen.

Wir bitten dich für die Menschen,

die gescheitert sind,

die keinen Mut mehr haben,

sich einzubringen,

die glauben,

abgeschrieben zu sein.

Stell sie in dein Licht,

damit wir sehen,

wer sie sind:

Menschen wie wir,

die dein Bild in sich tragen.

Wir bitten dich für die Menschen,

die vor Krieg, Armut oder Verfolgung fliehen.

Stell sie in dein Licht,

damit wir sehen,

wer sie sind:

Menschen wie wir,

die dein Bild in sich tragen.

Wir bitten dich für die Menschen,

die im Krieg feststecken.

Die ihr Volk verteidigen,

ihren Feind hassen,

für die Waffen und Gewalt alternativlos sind.

Stell sie in dein Licht,

damit wir sehen,

wer sie sind:

Menschen wie wir,

die dein Bild in sich tragen.

Und dann, Gott?

Komm aus deinem Wort heraus,

dass es in deiner Welt Kreise zieht.

Menschen verbindet,

Heimat schenkt

und Frieden.

Lieder:

Ich lobe meinen Gott (EG.E 17; EG.RWL 673)

Gott gab uns Atem (EG 432)

Wenn das Brot, das wir teilen (EG.E 28; EG.RWL 667)

Pfarrer Dr. Christoph Kock

Wesel

E-Mail: christoph.kock@ekir.de

Dr. Christoph Kock, geb. 1967, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit 2007 Pfarrer an der Friedenskirche in der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel.