Liedpredigt: Fürchte dich nicht
Predigt am Ewigkeitssonntag, 23. November 2025, in der Kirche St. Johannes in Goslar Ohlhof über das Lied „Fürchte dich nicht“ von Fritz Baltruweit (1981) | Johannes Lähnemann
Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!
Wie sind Sie hierher gekommen in diesen Gottesdienst? Totensonntag heißt er einerseits und ruft zum Gedenken an die Verstorbenen, die Menschen, die uns verlassen haben. Ewigkeitssonntag nennen wir ihn andererseits, der Sonntag, mit dem das Kirchenjahr abschließt und an dem wir über die Grenze unseres Lebens hinausschauen auf das, was Gott für uns nach diesem Leben bereithält.
An welche Menschen denken Sie im Rückblick? Da gab es gute, sanfte Abschiede, aber auch schwere nach Zeiten voller Angst und Schmerzen – Menschen, ohne die wir nun weiterleben müssen. Jede und jeder von ihnen hat eine ganz eigene, unverwechselbare Lebensgeschichte, war eine ganz eigene Persönlichkeit mit ihren Begabungen, Liebenswürdigkeiten und vielleicht auch Schwächen. Ich denke an eine liebe Freundin, etwas älter als ich, die über Jahre hinweg im Posaunenchor neben mir Posaune geblasen hat. Immer wieder musste sie pausieren wegen ihrer fortschreitenden Krebskrankheit, Zeiten voller Verzagtheit und Ängste und doch auch wieder Hoffnung. Sie hat auch das Lied mit uns geblasen, das wir heute gesungen haben und auf dessen Botschaft wir hören wollen.
„Fürchte dich nicht“ – dieses klangvolle, eindrucksvolle Lied. 6mal heißt es in ihm „Fürchte dich nicht“ – zweimal in jeder Strophe!
Wie können wir das singen? Woher haben wir die Zuversicht, uns diese Worte sagen zu lassen?
Auch über unsere persönlichen Ängste hinaus kann uns Angst ergreifen angesichts des Weltgeschehens – der Kriege und Konflikte: im Heiligen Land, in der Ukraine, im Südsudan, überall mit unendlichem Leid, angestachelt von skrupellosen Gruppen und Machthabern.
Menschen in Angst! Dabei kann es doch schon genügend Angst in unserer Nähe und im eigenen Leben geben: der zunehmende Rechtsradikalismus, der zunehmende Antisemitismus, die zunehmende Phobie im Blick auf den Islam, aber auch die Flüchtlingsnot, die Menschen, die in Deutschland Rettung und Hilfe suchen. Ängste gibt es auch bei uns selbst: die Ängste um Gesundheit, um Arbeit, um eine unversehrte Natur um uns herum. Angst kann uns lähmen, kann uns den Atem nehmen.
„Fürchte dich nicht“ Wie können wir das singen? Woher haben wir die Zuversicht, uns diese Worte sagen zu lassen? Welcher Eingebung ist Fritz Baltruweit gefolgt, als er diese Verse gedichtet, als er diese Melodie komponiert hat?
Unter dem Lied steht die Jahreszahl 1981. Ich habe mit Fritz Baltruweit darüber telefoniert, der unsere neuere Kirchenmusik vielfältig inspiriert hat. Er erzählte mir, dass er das Lied für den Kirchentag 1981 in Hamburg gedichtet und in Töne gesetzt hat. Der Kirchentag damals stand unter dem Motto „Fürchte dich nicht“, und das Motto war damals so aktuell, wie es das heute ist. Denn versetzen wir uns einmal in das Jahr 1981: Es herrschte noch der krasse Ost-West-Gegensatz. Es standen sich die Atomblöcke USA und Sowjetunion gegenüber. Die Option eines Atomkrieges war zwar längst in Zweifel gezogen, aber noch keineswegs gebannt, und sie ist es ja leider auch heute noch nicht. An der deutsch-deutschen Grenze standen sich Deutsche hier und Deutsche dort bewaffnet gegenüber. „Fürchte dich nicht“: Das Lied verdrängt die düsteren Realitäten nicht, die uns umgeben. Es beschönigt die Not nicht, die es auf der Welt gibt. Es leugnet nicht, dass uns Ängste gefangen nehmen können. Aber es setzt dem trotzdem das „Fürchte dich nicht“ entgegen.
Wir wollen einmal dem Lied folgen – diesen drei Strophen, von denen jede ihr eigenes Gewicht hat: 1) Fürchte dich nicht, gefangen in deiner Angst …, 2) Fürchte dich nicht, getragen von seinem Wort …, 3) Fürchte dich nicht, gesandt in den neuen Tag …
Es stecken drei Aufrufe darin, und aus diesen drei Aufrufen gewinnen wir die Teile für diese Predigt:
- Steht zu eurer Angst! 2. Lass euch tragen von Gottes Wort! 3. Geht mit Hoffnung in den neuen Tag hinein!
- Steht zu eurer Angst
Fürchte dich nicht,
gefangen in deiner Angst, mit der du lebst.
Fürchte dich nicht,
gefangen in deiner Angst. Mit ihr lebst du.
Wenn wir in der Bibel lesen, wenn wir sie ernst nehmen, dann wissen wir: Wir brauchen unser Leben nicht zu beschönigen, wir brauchen unsere Angst nicht zu verdrängen, wir brauchen uns unserer Angst nicht zu schämen.
Das Volk Israel, Gottes Volk, hat von Anfang an unter Anfeindungen gelebt, mit Ängsten vor übermächtigen Feinden. Die Geschichtserzählungen und gerade auch die Psalmen sind voll davon. Ja, das Leben Jesu selbst ist von Angsterfahrungen umgeben, und ich sehe ihn hier auch als ein Glied des Volkes Israel: beginnend mit der Erzählung von der Flucht nach Ägypten, über das Leben als ruheloser Wanderprediger, über die Anfeindungen gegen seine Predigt und gegen sein helfendes Heilen bis hin zur Passion. Am deutlichsten schildert es uns die Geschichte von Jesus im Garten Gethsemane. Dort, vor seiner Gefangennahme, ist Jesus von Todesangst ergriffen, er fällt auf sein Angesicht. Er weiß, was ihm bevorsteht, und er fleht, dass der Kelch des Leidens an ihm vorüber gehen soll. Ganz allein gelassen ist er. Die Jünger, die er gebeten hat, mit ihm zu wachen, schlafen. Und dann wird Jesus von seinem Jünger Judas mit einem Kuss verraten; er wird wie ein Krimineller gefangen genommen, wird von einem feigen Richter verurteilt, wird von Kriegsknechten geschlagen und verhöhnt. Die Jünger sind geflohen, und Petrus verleugnet ihn. Und als er zwischen zwei Verbrechern gekreuzigt wird, schreit er seine Verzweiflung hinaus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“
Der Weg Jesu zeigt uns: Wir dürfen zu unserer Angst stehen. Wir haben ihn an der Seite, wenn Ungewissheit, Verzagtheit, Verzweiflung nach uns greifen. Jesus ist gerade in seiner Angreifbarkeit, in seiner Verletzlichkeit, in seiner Verlassenheit unser Bruder, unser Freund. Und er schiebt die Verletzten, die Schwachen, ja er schiebt auch Petrus, der ihn verleugnet, nicht beiseite. Und das heißt: Da, wo die, die Jesus nachfolgen, die Notleidenden, die Schwachen, die Verängsteten übersehen, da verraten sie Jesus Christus.
Über dem Weg Jesu aber steht am Anfang und am Ende das „Fürchtet euch nicht!“ Am Anfang hören es die Hirten, die am wenigsten damit gerechnet haben, dem Heiland der Welt zu begegnen. Und am Ostermorgen hören es die Frauen, die zum Grab geeilt sind, um den Leichnam Jesu zu salben, und erfahren, dass Jesus nicht im Tode geblieben ist. Der Weg Jesu, der Weg der Jünger, der Weg der Gemeinde, der Weg dieser Welt ist umklammert von der Gottesbotschaft, dass Angst und Furcht nicht das Letzte bleiben. Es ist die Botschaft, die schon aus dem Alten Testament heraus dem Volk, aber auch jedem Einzelnen von uns zugesagt wird: „Fürchte dich nicht. Ich habe dich erlöst, Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein!“ (Jesaja 43,1) Vor Gott hat jeder von uns sein Angesicht, sein unverwechselbares Geschick, seinen Wert.
Und damit kommen wir zu dem Zweiten:
- Lasst euch tragen von Gottes Wort!
Fürchte dich nicht,
getragen von seinem Wort, von dem du lebst.
Fürchte dich nicht,
getragen von seinem Wort. Von ihm lebst du.
Worte der Bibel, Worte des Glaubens sind Worte, die tragen können. Wie oft habe ich den 23. Psalm gebetet, wenn ich vom Asthma geplagt wurde, das meine Kindheit überschattete: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.“ Dieser Vers, der die Mitte des Psalms bildet, begleitete mich, und ich habe ihn dann auch als Konfirmationsspruch gewählt. „Der Herr ist gütig und eine Feste zur Zeit der Not und kennt die, die auf ihn trauen“. Dieses Wort aus dem Propheten Nahum stand über den 37 Jahren meiner ersten, glücklichen Ehe – auch dann, als wir Abschied nehmen mussten. Ich könnte diese Reihe der Trost- und Lebensworte lange fortsetzen.
Das eigentliche Wort Gottes aber ist für unseren Glauben Jesus Christus selbst: „Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort“, so heißt es zu Beginn des Johannesevangeliums. Und wenig später heißt es: „Und das Wort wurde Mensch und wohnte unter uns. Und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes, vom Vater voller Gnade und Wahrheit“. Das Wort „logos“, das hier in der griechischen Ursprache des Neuen Testaments steht, bedeutet viel mehr als nur das gesprochene Wort. Es schließt die Kraft Gottes mit ein, mit der er die Welt schafft. Gottes eigentliches Wort aber ist seine Gegenwart in Jesus. In ihm ereignet sich für uns Gott, wird er ein Mensch aus Fleisch und Blut, kommt er an unsere Seite und ruft er uns zu sich: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“
Der Weg Jesu als der Weg Gottes: seine Predigt, seine Liebe, sein Leiden – das ist das zentrale Wort, das uns in den Schönheiten unseres Lebens wie auch in allen Schwierigkeiten und Ängsten begleiten und tragen will. Seine Kraft aber gewinnt es dadurch, dass das Kreuz nicht das letzte ist, sondern dass ihm – völlig unerwartet für Jesu Jüngerinnen und Jünger – der Ostermorgen folgt. Neues Leben aus dem Tode, neues Leben aus der Trostlosigkeit, neues Leben aus der Verzweiflung – die Evangelien können dies unerwartete Wunder nicht staunenswert genug schildern. Mit dem Ostermorgen zeigt sich der neue Tag, von dem die dritte Strophe unseres Liedes spricht:
Fürchte dich nicht,
gesandt in den neuen Tag, für den du lebst.
Fürchte dich nicht,
gesandt in den neuen Tag. Für ihn lebst du.
Und damit kommen wir zu unserem letzten Aufruf:
- Geht mit Hoffnung in den neuen Tag hinein!
Dazu will uns dieser Vers ermutigen.
Ich besitze ein Kunstwerk der Münsteraner Künstlerin Rika Unger (1917-2002), das die Ostererfahrung, die zu dieser Ermutigung führt, in ein Bild fasst und das ich Ihnen mitgebracht habe: Da ist in der Mitte das Osterlicht, das den Stein der Angst und Verzweiflung, der vor dem Grab Jesu gelegen hat, zerreißt. Im Hintergrund ist noch das Kreuz zu erkennen, das ganz von diesem Licht überstrahlt wird. Und von diesem großen Licht gehen nun kleine Sonnen hinaus in das Geflecht menschlicher Existenz, in die dunklen Nächte und die Tage voller Sorgen, die uns so leicht gefangen nehmen wollen, und verleihen diesen Tagen Trost und Hoffnung.
Und sie schicken uns auf den Weg, von der Hoffnung aus, die unser Leben weit übergreift, anderen Zeichen und Hilfen zu geben.
Kann das auch etwas bedeuten für die Ängste und die Nöte, von denen wir umgeben sind, und für die Katastrophen und das Leiden in der Ferne, die uns so betroffen machen?
Kann es ein Licht geben in dieser Dunkelheit, die sich in der Ukraine, in Israel und Palästina und in vielen weiteren Konflikten weltweit ausgebreitet hat?
Ich beziehe regelmäßig Nachrichten aus den Konfliktgebieten von Menschenrechtsorganisationen, die gegen alle Schrecknisse Zeichen setzen gegen die Verzweiflung und Ausweglosigkeit. So fahren Mitglieder der israelischen Gruppe Rabbis for Human Rights, Rabbis für Menschenrechte, regelmäßig auf die Westbank, um den palästinensischen Bauern bei der Olivenernte zu helfen und sie vor aggressiven jüdischen Siedlern zu schützen. Sie suchen immer wieder Wege, um bei allen Schwierigkeiten Hilfsgüter in den Gaza-Streifen zu bringen, und sie hören nicht auf, gegen die Aggressivität der Netanjahu-Administration zu protestieren und zu demonstrieren.
Ich denke, wir können nur in Achtung staunen über diese große Solidarität, dieses sich nicht von Rachegelüsten überwältigen lassen, dieses beharrlich an den Werten der Liebe und der Lebensachtung festhalten – ein Handeln, wie es ganz dem Weg Jesu entspricht.
Ein anderes Beispiel aus dem Nahen Osten sind für mich die Schneller-Schulen in Amman/Jordanien und in Khirbet Kanafar im Libanon. Da werden Kinder aus armen Familien, christliche und muslimische, im Geist der Liebe Christi und in Achtung voreinander erzogen und können eine Berufsausbildung erhalten. Die Erzieherinnen und Erzieher, die Lehrerinnen und Lehrer haben in diesen Monaten der Hausforderung zu begegnen, dass der Hass in der Umgebung nicht auf die Schule und die Schulkinder übergreift. Viel miteinander reden, miteinander leben gehört zu dem Auftrag, die Hoffnung nicht zu verlieren.
„Gesandt in den neuen Tag“. Als Letztes möchte ich von Hoffnung auf das endgültige Leben sprechen, die mit dem Ostermorgen eröffnet wurde und in die alle hinein gehören – die Lieben, die uns durch den Tod voraus gegangen sind, die Leidenden und Hungernden auf der Welt, die Opfer der Naturkatastrophen, die Kinder, die ausgebeutet werden und ebenso die in Diktaturen Unterdrückten und Gefolterten.
Martin Luther King hat es in einzigartiger Weise in Worte gefasst. Er sagt:
„Komme, was mag. Gott ist mächtig!
Wenn unsere Tage verdunkelt sind
und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte,
so wollen wir stets daran denken,
dass es in der Welt eine große, segnende Kraft gibt,
die Gott heißt.
Gott kann Wege aus der Ausweglosigkeit weisen.
Er will das dunkle Gestern
in ein helles Morgen verwandeln –
zuletzt in den leuchtenden Morgen der Ewigkeit.
Rika Unger: monoriss „Großes Licht und kleine Sonnen“
Prof. em. Dr. Johannes Lähnemann, Goslar, johannes.laehnemann@gmail.com
Johannes Lähnemann (geb. 1941) hatte von 1981-2007 den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Ev. Religionsunterrichts an der Universität Erlangen-Nürnberg inne. Er lebt im Ruhestand in Goslar. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Interreligiöser Dialog, Interreligiöses Lernen, Religionen und Friedenserziehung. Er ist Mitglied der internationalen Kommission Interreligious Education der Bewegung Religions for Peace (RfP) und Leiter der Arbeitsgruppe Interreligiöse Bildung-Friedenspädagogik bei Religionen für den Frieden Deutschland.
Seine Autobiografie ist erschienen unter dem Titel „Lernen in der Begegnung. Ein Leben auf dem Weg zur Interreligiosität.“ Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2017.
Die Predigt wird in der Kirche St. Johannes in dem Goslarer Stadtteil Ohlhof gehalten.
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