
Liedpredigt – Schweizerisches RGB 362
Veni, veni Emmanuel | 1. Advent | 01.12.2024 | Liedpredigt – Schweizerisches RGB 362 |Silja Keller |
Als ich an dieser Predigt sass, begann es draussen zu schneien. Erst leise und nass, aber dann immer heftiger – bis es auf den Dächern und Strassen liegen blieb. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Weihnachtsmusik gehört und die Weihnachtsdeko war noch tief im Keller vergraben. Aber dann, als der Schnee die Erde so sanft küsste, wurde es auch bei mir Vorweihnachtszeit.
Erging es euch ähnlich? Oder gehört ihr zu denjenigen, die schon Anfangs November Sterne in die Fenster hängen und Tannenzweige aus dem Wald holen?
Es liegt wieder in der Luft. Etwas kommt. Etwas grosses und geheimnisvolles. Etwas, das der ganze Konsumtrubel und auch die grellste Weihnachtsbeleuchtung nicht zu überdecken vermag.
Wir erwarten ihn. Den, der kommt. Den, der uns alle befreit. Den, von dem man sagt, er sei der Friedefürst.
Wie nötig wir ihn haben! Die Welt steht in Flammen. Gierige und machthungrige Menschen regieren die Welt. Das Kleine, Zarte, Feinfühlige, Arme hat keinen Platz mehr. Und wir sind ratlos. So oft hört man Sätze wie: Da kann man nichts machen. Es ist wie es ist. Ich weiss auch nicht mehr weiter…
Es kommt eine Freudenzeit. Aber kann man denn feiern und sich freuen? Darf man Kerzen anzünden und seine Liebsten umarmen, wenn draussen in der Welt so viel im Argen liegt?
«Stille Nacht» – wohl kaum. Und «Freut euch ihr Christen»? Irgendwie auch schwierig.
Aber vielleicht «Veni, veni Immanuel»? Komm, komm Emmanuel – Komm, Gott mit uns!
Der uralte Text dieses Kirchenlieds steht in unserem (schweizerischen) Gesangsbuch bei der Nummer 362. Das Lied mit seinen alten und den drei neuen Strophen, die extra für diesen Singsonntag verfasst wurden, begleiten uns heute.
Veni, veni Emmanuel. Ein Lied vollgepackt mit Sehnsucht und Hoffnung. Wir singen die erste Strophe:
Gott, send herab uns deinen Sohn – Die Völker harren lange schon – Send ihn, den du verheissen hast – Zu tilgen unsrer Sünden Last – Freu dich, freu dich O Israel, bald kommt zu dir Immanuel
Seit jeher warten Menschen auf Erlösung und Frieden. Die Völker harren lange schon. Das alte Lied erinnert uns: Diese Zeit ist nicht die erste Krisenzeit der Geschichte. Damals wie heute rufen wir: Send herab uns deinen Sohn!
Was erhoffen wir von ihm? Im Lied heisst es: «Zu tilgen unsrer Sünde Last». Der Sohn soll nicht kommen, um alles heil zu machen, was die anderen zerstört haben. Er soll kommen, weil wir ihn nötig haben. Der Ruf: «Tilge unsere Sünden» ist Bekenntnis: Wir sind schuldig geworden. Wir haben versagt. Wir vermochten die Katastrophen nicht zu verhindern. Wir haben sogar dazu beigetragen.
Sünde ist ein Wort, welches wir modernen Menschen nicht oft in den Mund nehmen. Es ist sperrig. Ich, ein Sünder? Eine Sünderin? Das klingt komisch. Aber wenn ich den Begriff Sünde übersetze mit Gottesferne, mit Abwesenheit von Gott, dann wird mir klar, dass ich diesen Begriff brauche. Ich fühle mich oft fern von Gott. Und ich weiss, dass ich immer wieder zu meiner eigenen Gottesferne beitrage. Die erste Strophe in unserem Lied ist ein Bekenntnis: Wir wollen wieder ganz nahe bei Gott sein und uns freuen. Denn wir gehören zu diesem Israel, das zur Freude aufgefordert wird. «Freu dich o Israel!»
Mit Israel ist hier nicht der Staat Israel gemeint, wie man meinen könnte. Es wäre gefährlich, die beiden gleichzusetzen. Noch mehr Leid wäre die Folge. Mit Israel ist das himmlische Israel gemeint, das vollendete. Das Israel, wohin die Völker pilgern, um Gott zu sehen. Es ist das Israel, nach dem sich Juden und Christinnen gleichermassen sehnen. Unser gemeinsames Erbe, unsere Verheissung.
Mit dem Advent beginnt eine Zeit der Sehnsucht und der Vorbereitung. Wir besinnen uns, halten inne und warten. Gott ist uns schon auf der Spur. Wir rufen «Send herab!»
Um die Welt zu verändern, um uns auf ihn vorzubereiten, brauchen wir Weisheit. Wir brauchen den Wunder-Rat, der uns im Jesajabuch verheissen ist:
«Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heisst Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.» (Jesaja 9,5)
Wir singen die zweite Strophe im RGB 362:
O Weisheit aus des Höchsten Mund, – die du umspannst des Weltalls Rund – und alles lenkst mit Kraft und Rat:- Komm, weise uns der Klugheit Pfad. – Freu dich, freu dich, o Israel, – bald kommt zu dir Immanuel.
Gottes Weisheit umspannt die Welt. Sie lenkt uns mit Kraft und Rat, wenn wir sie lassen. Sie führt uns auf den Weg der Klugheit, lässt uns weise handeln. Sie lädt uns ein, den einzulassen, der uns von Gott erzählt und uns seinen Geist schickt. Das himmlische Kind, der Spross Isais.
Von ihm heisst es im Jesajabuch:
«Und aus dem Baumstumpf Isais wird ein Schössling hervorgehen, und ein Spross aus seinen Wurzeln wird Frucht tragen. Und auf ihm wird der Geist des Ewigen ruhen, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Kraft, der Geist des Wissens und der Furcht des Ewigen.» (Jesaja 11,1-2)
Aus dem abgestorbenen Baumstumpf. Aus unser geschundenen Welt. In all dem, was prächtig war und gefallen ist, spriesst ein neuer Halm. Da wo niemand mehr nach einem Baum suchte, wächst ein neuer. Er bringt die Hoffnung auf neues Leben mit sich und wächst, allem zum Trotz, dem Licht entgegen. All die Geschichten von Gottes Fürsorge, all die Friedensprozesse, die Erfolg hatten; neue Bürgerrechte in den USA, die die Rassentrennung abschafften; Versöhnung in Ruanda nach dem Völkermord, der Fall der Mauer in Berlin; die Milchsuppe in Kappel; all diese historischen Ereignisse und das göttliche Kind, dass da kommt und die Menschen und Gott verbindet. Sie alle zeugen davon, dass auch aus Baumstümpfen Wunder hervorgehen können. Wir singen die 4. Strophe:
O Wurzel Jesse, Jesu Christ, ein Zeichen aller Welt du bist, das allen Völkern Heil verspricht: Eil uns zu Hilfe säume nicht. Freu dich, freu dich, o Israel, bald kommt zu dir Immanuel
Er kommt, der Immanuel, der Gott ist mit uns. Er bringt uns seine Hilfe, sein Heil und tut es doch anders, als wir erwarten würden. Er teilt mit uns den Schmerz, zerbricht am Kreuz. Fühlt sich von Gott verlassen. Schwitzt und weint, ist zornig und hat Angst. Und deshalb hat er das Recht an unserer Seite zu stehen, auch dann, wenn niemand mehr versteht, was wir durchmachen. Weil er weiss, wie es ist.
Und weil er sich unserer Not öffnet, barmherzig ist, kann er unser Herz auch für andere öffnen. Denn der einzige Weg zum Frieden ist Mitgefühl. Wir singen die ersten beiden Strophen auf dem Liedblatt.
O Menschensohn, du teilst den Schmerz – Der Welt berühre unser Herz – Dass wir in dieser dunklen Zeit – Uns öffnen der Barmherzigkeit – Sei wach, sei wach, O Israel – Bald kommt zu dir Immanuel.
O Bruder kommst um Mitternacht – Teilst Leiden gibst Geringen acht, – So lass uns gleich dir achtsam sein, – im Nächsten sehen deinen Schein. – Sei wach, sei Wach O Israel – Bald kommt zu dir Immanuel
Mitgefühl, Achtsamkeit, Wertschätzung der Mitmenschen, dazu lädt uns unser Bruder Jesus ein. Mitten in der Nacht kommt er in unsere Welt – das kleine Kind. Der Morgen bricht an, in unserer dunkelsten Stunde.
Gott schickt keinen grossen Mann, der gut reden kann, der weiss, wie man die Massen begeistert und zu seinen Zielen kommt. Nein, Gott ist anders. Er schickt ein Kind. Er schickt diesen Menschen, der am Kreuz sterben und trotzdem den grössten Sieg erringen wird. Dieses Kind, wird den Tod und die Nacht und den Krieg auslöschen und Frieden bringen. In seinem Licht darf alles sein: Alle Ungereimtheiten unseres Lebens, alle Ängste, alle verletzten Gefühle, alle Vorwürfe, alle Schuld, jeder schlechte Gedanke über uns. Denn dieses Kind sieht unsere ganze Geschichte, versteht unser Sein besser als wir selbst. Und wo wir es lassen, kann auch das Dunkelste und in-sich-verkrümmteste unseres Herzens hell und weit und weich werden. Vielleicht getraut ihr euch in dieser Adventszeit dem Licht des Kindes in eurem Herzen Raum zu geben. Und wer weiss, vielleicht zieht mit ihm in der dunkelsten Nacht ein Stück Frieden bei euch ein.
Wir singen die 3. Strophe auf dem Liedblatt:
O Friedenskind, gewinnst den Sieg, – brauchst dafür nicht Gewalt noch Krieg. – Versöhnung lehrst du statt Gericht. – Erleuchte uns mit deinem Licht. – Sei wach, sei wach, O Israel – Bald kommt zu dir Immanuel.
Was wünscht ihr euch, für diese Adventszeit und die Festtage? Worauf hofft ihr?
Ich wünsche mir Frieden. Wenn nicht in der Welt, dann doch wenigstens in meinem Herzen. Ich wünsche mir Verwandlung, dass ich immer mehr aus der Perspektive der Verheissung auf mein Leben und die Welt schauen darf. Und ich bete, dass ich vertrauen kann, dass Gott mit seinen Menschen über alle dunklen Zeiten hinweg unterwegs war und ist. Dass Gott treu ist und uns erlöst, auch wenn es Jahre dauert. Dass Gott Neues schaffen wird und wir mit jedem Tag seinem Friedensreich ein Stück näherkommen.
Und so lade ich euch ein, die neunte Strophe des Lieds im RGB zu singen:
Gott, wir vertrauen auf dein Wort – Es wirkt durch alle Zeiten fort – Erlöse uns, du bist getreu – Komm, schaffe Erd und Himmel neu – Freu dich, freu dich O Israel, – bald kommt zu dir Immanuel
Freu dich, freu dich O Israel – bald kommt zu dir Immanuel!
Amen
—
(Orgel-Impro über das Lied als Musik zur Besinnung)
Pfrn. Silja Keller
Fehraltorf
E-Mail: silja.keller@kirche-fehraltorf.ch
Silja Keller, geb. 1990, Pfarrerin der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Seit 2021 zu 70% tätig als Pfarrerin mit Schwerpunkt Familien und Jugend.
Die Predigt wurde verfasst anlässlich des Singsonntags vom 1. Advent 2024, der von der LGBK (Liturgie- und Gesangbuchkonferenz) und dem von ihr angestossenen reformierten Gesangsprozess enchanté in den reformierten Kirchen der Schweiz lanciert wurde. Ziel dieses Sonntags ist, den Gemeindegesang zu fördern. Für Materialien zum Singsonntag, inklusive diverser Liedvariationen in diversen Musikstilen, den vier Landessprachen und neuer Strophen, besuchen Sie die Homepage enchante-ref.ch.