
Lukas 10, 41
Wieder begegnen wir der eilfertigen Martha im heutigen Text. Wir kennen sie als die, die sich Sorgen macht um vieles und die geneigt ist, das eine zu übersehen, das nottut. Und wir begegnen auch ihrer Schwester Maria. Sie sitzt im Haus – und bleibt sitzen! Als Jesus das letzte Mal zu Besuch war, saß sie auch – zu seinen Füßen – und hörte ihm zu, während Martha die vielbeschäftige Wirtin war, die den Tisch deckte, Essen machte und für alles sorgte, bis es ihr schließlich zu viel wurde und sie sich darüber beschwerte, daß Maria nie etwas tat.
Und wenn wir weiter im Johannesevangelium nachlesen, dann hören wir von den beiden Schwestern einmal mehr, als Jesus sie auf dem Wege nach Jerusalem kurz vor Ostern besucht. Das Osterfest, das das letzte Osterfest Jesu werden sollte. Auch hier wird hervorgehoben, daß Martha für das Essen sorgte, und dann steht da, etwas merkwürdig, daß Lazarus einer von denen war, die mit Jesus zu Tische saßen.
Ja, was denn sonst – das fehlte ja noch. Lazarus war tot und wurde wieder lebendig, und Jesus hatte ihn wieder zum Leben erweckt, und nun geben sie eine Festessen für Jesus. Sollte Lazarus da nicht dabei sein?
Plötzlich kann man das Familienleben vor sich sehen, so kann man wohl das Zusammenleben der drei Geschwister nennen.
Martha ist die immer aktive, organisierende – und besorgte. Maria mehr die träumende und nachdenkliche und wohl etwas unpraktische – aber auch mehr sorglos. Lazarus verschwindet mehr oder weniger zwischen den beiden Schwestern, die je in ihrer Weise stark sind.
Sie füllen einen großen Raum, die beiden Schwestern. Sie reden und sorgen für die Dinge. Zunächst hören wir gar nichts über Lazarus, und als wir von ihm hören, ist er tot – und die Schwestern stehen auch hier (vielleicht natürlicher Weise) im Mittelpunkt.
Und womit füllen die das Bild aus? Ja, mit Klagen, die allmählich zu Vorwürfen werden. „Wärst du hier gewesen, wäre mein Bruder nicht gestorben“. So sagen Martha und Maria zu Jesus, als er kommt.
Es hat mich beeindruckt, daß ein Kollege seinen Überlegungen über diesen Text die Überschrift gab: Jammerweiber. Sind Martha und Maria wirklich Jammerweiber, und liegt es Frauen wirklich näher, um eine bestimmte Situation zu kreisen mit einem „Wenn nun …“? Wenn nun Jesus etwas früher gekommen wäre, wäre das nicht passiert. Sie hatten in der Tat Jesus benachrichtigt, daß Lazarus krank war, und auch wenn Jesus nun wußte, daß Lazarus tot war, hatte er sich nicht beeilt, zu kommen. So viel wissen die Schwestern nicht, und es mag recht hart klingen, aber es ist dennoch so, daß sie genötigt sind, ihren Bruder loszulassen, damit er überhaupt die Möglichkeit erhalten kann zu leben.
So hart es auch ist, hören zu müssen, daß wir mehr Gott gehören als einander und mehr als wir uns selbst gehören – so befreiend ist es auch.
Als Jesus den toten Lazarus ruft und ihn dazu bringt, aus dem Grabe zu kommen – da, so meine ich, ist es von großer Bedeutung, daß Jesus sagt: Löst die Binden und laßt ihn gehen.
Lazarus soll zwar selbst sich erheben und herauskommen, aber die anderen, die Schwestern und Nachbarn, sollen ihn aus all dem wickeln, in das sie ihn eingewickelt haben. Auch ehe er tot war, wirkt es, als hätten ihn andere an Händen und Füßen gebunden und sein Gesicht verdeckt. In den Erzählungen haben wir Lazarus auch nicht sehen können. Nun sagt Jesus, daß sie ihn freigeben und gehen lassen sollen.
Der Text ist also komplizierter, als es unmittelbar den Anschein hat.
Bislang sind die Schwestern und Nachbarn damit beschäftigt gewesen, die Schuld für den Tod es Lazarus zuzuweisen: Wärest du hier gewesen … Hätte er nicht bewirken können, daß Lazarus nicht starb.
Wenn, wenn und wenn …, dieses wenn, das alles unwirklich macht. Nun ist Lazarus tot, und als Jesus eingreifen will in die faktische Situation, ja da wollen sie das auch nicht. So war es nun auch wieder nicht gemeint: Er stinkt schon…
Aber so wie Jesus das Leben Gottes versteht, ist es konkret. Das Leben und der Tag, die wir in den Händen halten, sind das, was sie sind. Es hätte natürlich anders sein können, wenn. Aber es ist, was es ist.
Es ist auch nicht das, was es vielleicht einmal werden wird – Marthas Antwort: das Leben am jüngsten Tag. Gottes Leben ist nun, sagt Jesus, es ist gegenwärtig und es ist allumfassende Wirklichkeit – und umfaßt auch den Tod als einen Teil des Lebens.
Du siehst es gerade vor dir, sagt Jesus zu Martha. Ich bin das Leben Gottes, ich bin die Auferstehung und das Leben, verstanden als Leben, das den Tod umfaßt und also großer ist und stärker als der Tod. Aber solange ihr nicht wirklich glaubt, daß das Leben stärker ist als der Tod, wickelt ihr immer noch das Leben ein mit den Banden des Todes, so daß es unfrei, gebunden und blind wird – so wie ihr Lazarus sowohl lebendig als auch tot eingewickelt habt.
Aber jetzt soll er befreit werden – nicht so sehr um seiner selbst willen, sondern damit ihr glaubt, daß ihr in mir Gott und das Leben Gottes seht.
So bleibt Lazarus weiter ein Opfer in seinem Leben: Er wurde unsichtbar in der Geschwisterschar – und als er nach seinem Tod sichtbar wird, wird er das Opfer des Hasses der Juden gegen Jesus.
Das letzte, was wir von ihm hören, ist daß die Hohenpriester beschließen, daß auch sie Lazarus töten wollen, weil seinetwegen viele Juden zum Glauben an Jesus fanden.
Lazarus, der in seinem Leben nie zu Worte kam – uns wird nur von den Schwestern berichtet, Gott gebrauchte dennoch sein Leben und seinen Tod und ließ sie für andere leuchten.
„Laß, Gott, auch uns wie Sonnen sein,
wie Himmelslichter, wenn auch klein“
(Grundtvig, aus dem Lied „Morgenstund hat Gold im Mund“).
Löst ihn und laßt ihn gehen:
„Geht nun frei,
wohin es sei,
an Gottes Gnad euch haltet!“
Amen.
Pfarrerin Hanne Sander
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