Lukas 10,28-42

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Von Maria lernen | Estomihi | 03.02.2025 | Lk 10,28-42 | Martina Janßen |

I Wie räumen auf. Der Einschulungsgottesdienst war rund und gelungen, wir können zufrieden sein, die ganze Arbeit hat sich gelohnt. Lange haben wir geplant, geprobt, gebastelt. Jetzt hat die letzte Familie die Kirche verlassen, das fröhliche Stimmengewirr vor der Kirchentür verfliegt langsam, nur das Lachen hallt nach. Wir sammeln auf, was liegen- und übrig geblieben ist: die rosa Haarspange auf der Sitzreihe, ein buntes Bonbonpapier, das Taschentuch auf dem Fußboden. Geschäftig huschen wir durch die leere Kirche und sind wohl auch noch etwas länger beschäftigt: Kollekte zählen, Eindrücke miteinander teilen und erste Evaluationen mitteilen, Liederzettel einsammeln, Absprachen treffen, Bühne abbauen, tausend Dinge einpacken, zusammenpacken, zupacken. Ich schleppe eine Materialkiste zur Tür und halte kurz inne. Ein kleines Bild. Wir sind in einer katholischen Kirche zu Gast. Ein Marienbild, schlicht und schön und irgendwie ganz besonders. Die Verkündigungsszene: Als der Engel auf Maria trifft, liest Maria. Ich muss schmunzeln. Eine lesende Maria. Würde ich jetzt auch gerne. Statt Kisten zu schleppen würde ich gerne Seiten umblättern, statt drauflos zu schwatzen einfach schweigen. Maria hat es schon gut, aber: Meine Kolleginnen und ich haben was geschafft, mit Herz und Hand etwas auf die Beine gestellt, uns gekümmert, uns um andere gekümmert und kümmern uns noch, das ist doch eigentlich besser, oder? Nun ja, für Maria als Mutter Gottes gelten eben andere Maßstäbe. Aber halt – das stimmt nicht, mein erster Eindruck täuscht. Mir fällt eine Geschichte in der Bibel ein, in der es auch um eine Maria, Maria von Bethanien, und ihre Schwester Marta geht, um zwei ganz normale Frauen und um die große Frage, was besser ist: in der Stille staunen, fragen und hören oder aktiv tätig sein?

Lesung Lk 10,38-42

II Maria und Martha, die ungleichen Schwestern. Marta steht in der Tradition für die vita activa, das aktive, tätige Leben, das mit beiden Füßen fest auf dem Boden steht. Nicht umsonst ist sie Schutzheilige der Kellner und Hausfrauen. Maria dagegen steht für die vita contemplativa, die mystische Schau, das Hände in den Schoß legen und die Gedanken in die Höhe heben. Maria und Marta – das sind zwei unterschiedliche Arten zu arbeiten und zu leben. Wie gut könnten sich die beiden ungleichen Schwestern gegenseitig stützen und ergänzen! Was könnte ihnen nicht alles zusammen gelingen, wenn sie an einem Strang ziehen würden. Doch oft gibt es Streit, Rivalität und Konkurrenz zwischen den beiden Schwestern. Wie oft werden Denken und Tun gegeneinander ausgespielt. Wer ist wertvoller? Der Meister in der Werkstatt oder der frisch gebackene Master aus der Uni? Da gibt es Ressentiments auf beiden Seiten. Was ist besser? An Autos schrauben oder Texte weben? Brötchen backen oder Worte drechseln? Beton mischen oder an Reden feilen? Auf was und wen kommt es an? Hand oder Kopf? Handwerker oder Wortwerker? Blaumann oder Gelehrtentalar? Maria oder Marta? Oft zieht Marta den Kürzeren. Man merkt das nicht zuletzt an der Bezahlung. Diejenigen, die mit Hand und Fuß arbeiten, die körperliche und emotionale Care-Arbeit an jung und alt leisten, die Großraumbüros und Stadtparks sauber halten, die Pakete liefern und Regale befüllen, verdienen sich nicht gerade eine goldene Nase und werden oft auch von anderen gering geschätzt. Und Maria? Wie oft wird sie auch heutzutage angegriffen. Die Hörende und Fragende, die Staunende und Denkende. Was sie tut, ist eben auch im ehemaligen „Land der Dichter und Denker“ nicht unmittelbar praxisrelevant und lässt sich in unserer Verwertungslogik kaum verorten. Lesen macht sich nicht so gut im Lebenslauf, Geisteswissenschaften stehen nicht allzu hoch im Kurs. Es sind doch eher andere Fächer, andere Stärken wie Ingenieurwissenschaften, die etwas gelten, weil etwas sicht- , mess- und brauchbares dabei rauskommt, nützlich und geldwert. Selbst in der Kirche hat Maria es nicht leicht, da scheint manchmal Organisation, Marketing und Eventpraxis wichtiger zu sein als eine gute und zeitintensive Predigt und das damit zusammenhängende Studium, das sich Mühen um das Wort und mit dem Wort, auch im Urtext des Neuen Testaments, was einen immer wieder mit frischem Blick neues entdecken lernt. „Kehrt man zum Griechischen zurück, so meint man, aus einem engen, dunklen Haus in einen Garten voller Lilien zu treten.“ (Oscar Wilde). Wer ist wichtiger, auf wen kommt es an – Maria oder Marta? Die Gelehrte oder die Geschäftige? Wo findet das richtige Leben statt: Im Elfenbeinturm oder auf dem Marktplatz? In der Studier- oder in der Backstube? Das ist die falsche Frage. Nur zusammen sind die beiden Schwestern stark, können sich Bälle zuspielen und unschlagbar sein. Meister und Master – wie schön wäre es, wenn beide sich gegenseitig wertschätzen und achten würden, wenn es ein Gleichgewicht gäbe und das Gefühl: Unterschiedliche Gaben, ein Geist.

III. Wie entscheidet sich Jesus? Beten oder Backen? Meditation oder Management? Andacht oder Arbeit? Wer ist die bessere Jüngerin? Maria oder Marta? Das, was Maria tut, scheint mehr wert zu sein. Sagt Jesus nicht, dass Maria, die Hörerin mit den Händen im Schoß, den guten Teil erwählt hat? Wer so denkt, hat zu wenig nachgedacht – und Lukas nicht genau genug gelesen. Lukas geht es nicht um die Polarisierung zwischen Hören und Tun. Es geht ihm schon gar nicht um das Abwerten des tätigen Dienstes, ganz im Gegenteil: Wie in kaum einem anderen Evangelium spielt bei ihm die Diakonie, der tätige Dienst für andere, eine große Rolle. Für Lukas ist das Hören nicht vom Tun zu trennen. Allein die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die Lukas direkt vor der Geschichte von Maria und Marta erzählt, zeigt das. Da sieht man, wie das Hören auf Gottes Wort in die Tat umgesetzt wird. Und doch – wird denn in unserer Geschichte Marta nicht ermahnt, weil sie so ganz auf ihre Hausarbeit sieht und darin aufgeht? Ergreift Jesus nicht Partei für Maria, die die Hände in den Schoß legt und die Ohren spitzt, wenn Jesus redet? Schon, aber Marta wird nicht ermahnt, weil sie hauswirtschaftet, sondern weil sie dem eine so hohe Bedeutung beimisst. Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe! (Lk 10,41b) Das ist ein entscheidender Unterschied! Zurückgewiesen wird nicht, dass Marta sich nach Hausfrauenart um das leibliche Wohl von Jesus kümmert, zurückgewiesen wird ihre übertriebene Betriebsamkeit. Marta aber machte sich viel zu schaffen. (Lk 10,40) Eine solche übermäßige Sorge soll nicht sein, denn sie kann den Blick auf das verstellen, worauf es ankommt: Das Hören auf das Wort. Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. (Lk 10,39b) Das könnte Marta von ihrer Schwester Maria lernen, das könnten wir alle von Maria lernen: Auch wenn ich alles perfekt managen, planen und ausführen würde, wenn ich rund um die Uhr arbeiten würde und 24/7 in den Social Media präsent wäre und hätte Gottes Wort nicht, wäre ich nichts. Es braucht Gottes Wort. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden. (Lk 10,42) Wie wäre es, von Maria zu lernen? Wie wäre es mit weniger Schaffen, Sorgen und Stress und mit mehr Stille, Schweigen und Staunen? Weniger Hetzen und mehr Hören?

IV Die lesende Maria lässt mich nicht los. Mit der Plastikkiste in der Hand verharre ich, verschaffe mir Raum für Staunen und Schauen. Meine Seele springt aus dem Hamsterrad, all die Betriebsamkeit um mich herum ist für einen Moment nur eine ferne Kulisse. Ich öffne mich für dieses Bild, trete zurück, um wieder neu heranzutreten, stelle die Kiste auf den Boden, um dem, was ich sehe, auf den Grund zu gehen. Mein erster Eindruck hat mich getäuscht, ich projiziere als gestresste Marta zu viel von meinem eigenen Wunschdenken hinein. Das ist keine relaxende Maria mit einem Becher voll mit heißem Tee und einem netten Krimi auf dem Sofa, die sich ihre Me-time gönnt und ihre Work-Life-Balance im Griff hat. Auch das ist gut und nötig. Aber da ist auf den zweiten Blick noch mehr zu entdecken. Die lesende Maria ist ein zentrales Motiv in der christlichen Kunst. Manchmal ist ihre Mutter Anna mit dabei: Da kann man ihr dabei über die Schulter gucken, wie sie Maria das Lesen lernt. Es geht nicht um das Lesen an sich oder Maria als schlaue Frau, die sich mit einer beliebigen Lektüre bildet, entspannt oder zerstreut. Maria, das jüdische Mädchen, liest in den Psalmen und Propheten, diese alten Worte „bewegt sie in ihrem Herzen“ (Lk 2,19). Lesen schafft Zugang zum Glauben, lesend lernt Maria ihren Glauben kennen, der im Judentum wurzelt (angesichts des wachsenden Antisemitismus auch eine Facette dieses Bildes, die man herausstreichen muss). Maria lernt die Verheißungen kennen und lebt in ihnen, antwortet ihnen: „Mir geschehe nach deinem Wort“ (Lk 1,28). Immer wieder hören und lernen, vergewissern und vergegenwärtigen: Die Bilder durch die Jahrhunderte hindurch zeigen die lesende Maria in allen Lebenslagen: als Kind mit ihrer Mutter, bei der Verkündigung, auf dem Wochenbett, während Josef sich um Jesus kümmert, auf dem Esel bei der Flucht nach Ägypten. Maria liest – mit Himmelkrone auf dem Kopf und mit Baby im Arm. Wie Maria von Bethanien Jesu Worten lauscht, immer wieder neu hört und fragt, staunt und lernt, liest Maria, die Mutter Jesu, in den alten Verheißungen. Das kann man von beiden lernen: Auf das Wort hören, damit unsere Antworten, seien sie still oder geschäftig, Grund und Boden haben: „Sei mir (estomihi) ein Fels, eine Zuflucht, eine feste Burg, mich zu retten.“ (Ps 31,3).

Amen

Zitat Oscar Wilde: Oscar Wilde, De profundis, Zürich, 1987, S.124

PD Dr. Martina Janßen

Hildesheim

dr.martina.janssen@evlka.de

Martina Janßen, geb. 1971, Privatdozentin für Neues Testament (Universität Göttingen), Pastorin der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers