
Lukas 12,32-48
Das Reich Gottes hängt nicht davon ab, ob wir viele sind oder wenige | 9. Sonntag nach Trinitatis | Lk 12,32-48 | Mikkel Tode Raahauge |
Wenn man erst anfängt nach ihnen zu schauen, tauchen sie überall auf – selbst in den unwahrscheinlichsten Zusammenhängen – und sie erfüllen mich immer mehr mit einer ganz besonderen Form von Verwunderung. Ich denke an die hunderte von sogenannten „Hurra-Worten“, die in unserer Zeit aus irgendeinem Grund so beliebt sind, all diese kleinen phantastischen Worte, die die Sprache aufmischen und würzen sollen und selbst die blödesten Sätze und Zusammenhänge glänzen lassen sollen. Sie tauchen in allen möglichen und unmöglichen Varianten auf, und neulich wurde ich vom Algorithmus aufgefordert, mich an einem Talent-Laboratorium zu beteiligen, wo ich Miteigentümer der Zukunft werden konnte, indem ich „Einfluss, Kompetenzen, ein starkes Netzwerk erlangen und ein starker Teil eines tragfähigen Generationswechsels in demokratischen Betrieben des Landes werden könnte“.
Diese Aufforderung lassen wir mal auf sich beruhen… Aber also: Ich vermute, dass man unter euch sicher auch solchen Hurra-Worten am Arbeitsplatz begegnet ist, die fast alles bedeuten können und deshalb in Wirklichkeit nichts bedeuten. Wir finden sie auch in unserer Volkskirche, wo eines der großen Mantras zurzeit besagt, dass wir Visionen haben müssen: Ich habe ansonsten gelernt, wenn man Visionen hat, soll man zum Arzt gehen, und es geht hier wohl nicht um prophetische Visionen, um die es hier in den Volkskirche geht – leider. Und dazu kommen natürlich alle die anderen wohlbekannten Hurra-Worte wie z.B. Veränderungsbereitschaft, Kooperation, Innovation und dann natürlich das allerschönste von allen, nämlich das Wort Gemeinschaft.
Das Wort taucht überall auf. Und man verstehe mich recht: Ich will hier nicht ironisieren über viele gute Gemeinschaften, die es auch gibt. Keineswegs. Ich hoffe vielmehr sehr, dass wir, jeder von uns, solche verschiedenen Beziehungen eingeht, die von Vertrauen und Liebe geprägt sind. Wir brauchen das nämlich alle, dass wir wissen, Teil von besonderen Beziehungen zu sein, wo wir ganz wir selbst sein können und darauf vertrauen können, dass uns jemand so sieht und liebt, wie wir wirklich sind. Das gilt natürlich nicht zuletzt für unsere Familien und unsere nächsten Bekanntschaften, und die Kirche ist eigentlich auch eine solche Gemeinschaft, und darauf werde ich zurückkommen.
Zunächst aber macht es vielleicht sehr wohl Sinn, etwas darüber nachzudenken, ob das wirklich etwas ist, was man problemlos von jeder Form von Gemeinschaft behaupten und unkritisch verlangen kann – Vertrauen und Liebe. Denn es gibt ja auch Gemeinschaften, die entstehen und wachsen um verschiedene unterdrückende Tagesordnungen. Da gibt es viele Beispiele aus der Vergangenheit und in der Gegenwart. So gibt es Gemeinschaften, die daraus entstehen und davon leben, dass man andere Menschen außenvor hält. Das haben wir wohl alle erfahren. Und schließlich gibt es all die Zusammenhänge – und gerade dort, glaube ich, wird Gemeinschaft als ein solches Hurra-Wort verwandt – wo es nicht so sehr um dies oder jenes geht, sondern nur einfach darum, dass wir viele sind.
Je mehr nämlich, desto besser, und zusammen sind wir stärker und können viel ausrichten. Was das dann eigentlich ist, was man ausrichten will, das ist vielleicht in Wirklichkeit nicht so wichtig, wenn es darauf ankommt. Das braucht nicht notwendigerweise etwas besonders Böses oder Gutes zu sein, was man tut. Es geht darum, irgendetwas zu bewirken – gemeinsam! So dass man der Umwelt beweisen kann, dass man eine Existenzberechtigung hat und vor allem eine Relevanz dabei. Denn wer würde denn auf die Idee kommen, der Mehrheit zu widersprechen? So spielt die Musik ja nicht in dieser gefallenen Welt. Hier müssen die Wenigen der Mehrheit weichen, hier kann es nichts nützen, dass man sagt: Auch wenn wir wenige sind, sind wir es doch, die Recht haben. Nein, wenn man das Reich, die Macht und die Herrlichkeit haben will, muss man auch eine Mehrheit haben, das gilt im Parlament, das gilt sonst in der Gesellschaft, und einiges könnte darauf deuten, dass sich dieses Denken auch in der Volkskirche eingeschlichen hat.
Denn hier sollen wir bekanntlich Visionen haben! Wohlgemerkt nicht von prophetischer Art. Vielmehr Visionen, die festhalten – um nun bei den Hurra-Worten zu bleiben – dass wir also eine Gemeinschaft sind, offen sind für Veränderungen, kooperativ und innovativ, die etwas, ja irgendetwas ausrichtet. Was das dann ist, das ist in Wirklichkeit gar nicht so wichtig, wenn es darauf ankommt. Nur – wenn jemand kommt, dann können wir unserer Umwelt zeigen, dass wir nicht nur wenige sind und dass wir deshalb auch unsere Berechtigung und unsere Relevanz haben.
Darüber könnte man vieles sagen, ich könnte lange darin fortfahren. Vielleicht ist das Ganze ja aber eigentlich nur eine etwas verklemmte Liebeserklärung an die Volkskirche, die wir so lieben und vor deren Zukunft wir uns fürchten. Und dann stelle ich mir übrigens nicht vor, dass Ihr gekommen seid, um meine sauren Bemerkungen zu hören (die habt Ihr nun reichlich gehört), sondern um das Evangelium zu hören. Das kommt nun hier, und hört aufs Neue, was der Sohn Gottes uns heute sagt.
„Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es hat eurem Vater wohlgefallen, euch das Reich zu geben“. Das bedeutet: Vor Gott, in Bezug auf Gott – da ist nie die Menge entscheidend. Auch nicht in der Kirche. Denn das, was die Kirche Gottes erwartet, nämlich das Reich Gottes, hängt nicht davon ab, ob wir viele sind oder wenige, so wie das auch nicht abhängt von unseren Visionen oder ob wir bereit sind für Veränderungen, kooperativ und innovativ genug – sondern es hängt allein ab von dem, was Gott gefällt. Und das bedeutet auch, dass die Gemeinschaft, die die Kirche ist, dass dies auch nicht eine Gemeinschaft ist, wo es überhaupt Sinn macht zu sagen: „Je mehr, desto besser!“ oder „Gemeinsam sind wir stärker!“ Dies ist vielmehr eine Gemeinschaft, wo wir zusammen schwach sein können – und uns nicht dauernd darum sorgen müssen, ob wir viele genug sind und ob wir unsere Berechtigung und Relevanz haben.
Denn dass Gott beschlossen hat, uns das Reich zu geben, das bedeutet ja nicht, dass wir auch die Macht und die Herrlichkeit haben. Macht und Herrlichkeit sind vielmehr Gott vorbehalten, denn eben das ist es, was das Reich Gottes bedeutet: Wir können unser Leben im Vertrauen und in der Liebe leben, es wagen, ganz wir selbst zu sein, und darauf vertrauen, dass Gott uns sieht und liebt als die, die wir wirklich sind – und ganz ohne dass wir irgendetwas ausrichten, um das erst zu verdienen. Unsere einzige Aufgabe, die ist somit „nur“ dies, dass wir das Reich Gottes erwarten. Dass wir dabeibleiben, darauf zu warten, und das können wir schon jetzt. Das verlangt nichts anderes von uns als dies, dass wir es erwarten. Und bis es eines Tages sichtbar hervorbricht wie die Morgenröte am Horizont der Zukunft, können wir ja passend in der Zwischenzeit so zusammenleben, wie wir von Anfang an geschaffen sind, in wahrer Gemeinschaft und Geduld – mit uns selbst und miteinander. Und in Vertrauen auf den Gott, der unendliche Geduld mit uns hat. Im Namen Jesu. Amen.
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Pastor Mikkel Tode Raahauge
Skovshoved, DK 2930 Klampenborg
Email: mitr(at) km.dk