
Lukas 13,6-9
Gnadenfrist für einen Feigenbaum | Buß- und Bettag | 20.11.2024 | Predigt zu Lk 13,6-9 | verfasst von Dr. Hansjörg Biener |
Jesus erzählte einmal folgende Geschichte:
»Ein Mann hatte in seinem Weinberg
einen Feigenbaum gepflanzt.
Er kam und schaute nach, ob Früchte daran waren –
aber er fand keine.
Da sagte er zu seinem Weingärtner:
›Seit drei Jahren komme ich schon und schaue nach,
ob an diesem Feigenbaum Früchte sind –
aber ich finde keine.
Jetzt hau ihn um!
Wozu soll er dem Boden noch weiter
seine Kraft nehmen?‹
Aber der Weingärtner antwortete:
›Herr, lass ihn noch dieses Jahr stehen.
Ich will die Erde um ihn herum
noch einmal umgraben und düngen.
Vielleicht trägt der Baum im nächsten Jahr
doch noch Früchte.
Wenn nicht, hau ihn dann um.‹« (Lukas 13,6-9 Basis-Bibel)
In einer landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft, wie es die Zeit Jesu war, verstand jeder, wovon hier die Rede ist. Als Stadtkind sind mir Bilder aus der Landwirtschaft nicht gleich verständlich. Doch Gott sorgt schon dafür, dass seine Leute die Bibel immer besser verstehen. Von vier Bäumen möchte ich zunächst erzählen, bevor ich mich frage, wie die Geschichte zu verstehen ist.
Der Nussbaum im Garten meiner Schwiegereltern
Eine erste Verstehenshilfe für den Bibeltext ist mir der Nussbaum im Garten meiner Schwiegereltern. Sie wohnten in der Nähe eines Friedhofs. Deshalb wurde ihr Haus immer an Allerheiligen zum Treffpunkt der Familie. Wer auf dem Friedhof gewesen war, um seine Toten zu ehren, kam für den Rest des Nachmittags zu meinen Schwiegereltern. Und es gab ein jährliches Ritual über die Nussernte. Jeder, der kam, musste als erstes auf einem Zettel schätzen, wie viele Nüsse der Nussbaum getragen hatte. Irgendwann am späteren Nachmittag wurde dann die Zahl bekannt gegeben. Wer die beste Schätzung hatte, bekam einen kleinen Preis. Eine Schachtel Pralinen oder so etwas. In manchen Jahren war die Zahl zweistellig, in den besten sogar vierstellig. Ich habe gut 20 Jahre an diesem Ritual teilgenommen. So kann ich das ein bisschen besser verstehen, wie die Menschen zu Jesu Zeiten regelmäßig die Frucht ihrer Bäume suchten. Was sie von ihren Bäumen ernteten, das war auch ihr Lebensunterhalt. Und offenbar kann es das geben, dass mal mehr und mal weniger zu ernten ist. Aber drei Jahre lang nichts!? Der Nussbaum im Garten meiner Schwiegereltern hat noch eine Nachgeschichte. Eines Tages haben meine Schwiegereltern den Baum fällen lassen. Das herbstliche Sammeln des Laubs wurde ihnen zu viel. Außerdem haben sie befürchtet, dass der Baum einmal aufs Haus stürzen würde. Noch viele Jahre hat die Wurzel Kraft gehabt und immer wieder neu ausgetrieben. Was für ein Baum, der überwiegend seine Frucht brachte zu seiner Zeit!
Der Kirschbaum in meinem Pfarrgarten
Es ist schon lange her, da bezog ein junger Pfarrer seine erste Gemeindestelle. Der Pfarrgarten war – sagen wir mal – etwas renovierungsbedürftig. Also kam eine Gartenfirma. Ich bin, wie gesagt, Stadtkind und konnte nur schwer mit ansehen, wie die Gärtner ans Werk gingen. Efeu: Radikal weg. Büsche: Kaum noch zu sehen. Und dann erst der Kirschbaum. Am Ende lag da mehr am Boden, als noch am Baum war. Doch in den folgenden Jahren kam der Efeu, meine Lieblingspflanze, wieder. Die Büsche wurden wieder blickdicht. Und der Kirschbaum erst: Der Rückschnitt hatte ihm gut getan. In den folgenden Jahren haben wir Kirschen um Kirschen geerntet und in den höchsten Etagen noch etwas für die Vögel übrig gelassen. Das Stadtkind ist nun gläubig geworden. Radikale Rückschnitte können richtig sein. Und da könnte man fast schon an die eigenen Lebenserfahrungen denken oder auch an die Situation in der Kirche, wo Mitglieder- und Aktivenzahlen schrumpfen, aber die Erwartungen gleich bleiben, auch die Erwartungen von Kirchengemeinden an sich selbst. Muss da vielleicht ein radikaler Rückschnitt her, um mit dem Verbleibenden wirklich noch etwas zu bewegen?
Der Apfelbaum neben einem Gemeindehaus
Und damit sind wir bei meinem dritten Baum. In der Nähe eines Gemeindehauses stand ein kleines Apfelbäumchen. Man hat mir gesagt, dass der Gründerpfarrer des Sprengels den Baum zum Abschied gepflanzt hat. Er hat da wohl an Luthers Apfelbäumchen gedacht. Von Luther stammt ja angeblich das Wort: Selbst wenn er wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde er als Zeichen der Hoffnung noch ein Apfelbäumchen pflanzen. Über viele Jahre habe ich gesehen, wie das Apfelbäumchen den Ameisen als Zuchtort für Blattläuse diente. Früchte habe ich nur wenige gesehen, ein, zwei Äpfel. Und als Gemeindepfarrer konnte ich mich der Frage nicht erwehren: Ist das auch ein Symbol für die Gemeinde? Könnte es sein, dass ihre Mitglieder von den Blattläusen dieser Welt ausgesogen werden und wenig oder keine Frucht für Gott bringen? Wird von hier aus ausreichend zu mehr Lebensmut und Gottvertrauen in der Welt beigetragen? Ich versuchte mich damit zu trösten, dass die Spendensummen, die die Aktionen des Frauenkreises für Brot für die Welt zusammenbrachten, Frucht waren. Ich versuchte mich zu trösten, dass der Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung Frucht war. Ich versuchte mich mit den vier Kindergärten in unserer Trägerschaft und unserem Resozialisierungsheim für Strafgefangene zu trösten, der Diakoniestation und dem Seniorenheim in Trägerschaft des Diakonievereins. Und natürlich hoffte ich, dass persönliche Früchte, wie sie das Neue Testament (Galater 5,22-23) schildert, im Alltagsleben der Christen und Christinnen wuchsen. Trotzdem kann ich das ein bisschen besser verstehen, wenn der Besitzer des biblischen Baumes Jahr um Jahr Frucht sucht und traurig und sauer wird, wenn er wieder nichts findet. – Und Jesus das offenbar auch auf die Menschen münzt.
Ein Apfelbaum mit Nägeln als Bild fürs eigene Leben
Und noch ein vierter Baum hilft mir zu mehr Verständnis des Predigttexts. Den kenne ich allerdings nicht persönlich. Der amerikanische Schriftsteller James Mitchener erzählte folgende Geschichte, wenn man ihn fragte, warum er immer noch Bücher schreibe: „Als ich fünf war, schlug ein Bauer, der in unserer Straße lebte, acht Nägel in einen alten Apfelbaum, der kaum noch Früchte trug. Im Herbst des folgenden Jahres war es wie ein Wunder. Der alte Baum brachte eine Rekordernte schöner roter Äpfel. Als ich nach dem Grund fragte, erklärte mir der Bauer: Die Nägel, die ich in den Stamm geschlagen habe, wirkten wie ein Schock, der den Baum daran erinnerte, daß er lebte und da war, um Äpfel zu produzieren. Als ich fast 80 war, wurden mir einige Nägel in den Stamm geschlagen: Herzoperation, Schwindelgefühle, ein künstliches Hüftgelenk. Und wie der Apfelbaum beschloß ich, wieder Früchte zu tragen.“ (Readers‘ Digest März 1995, S. 138)
Eine merkwürdige Geschichte, wie da ein Mann in seinem neunten Lebensjahrzehnt sein Leben deutet, Schicksalsschläge als Mahnung zum aktiven Leben versteht und sich noch einmal aufgemacht hat und bemüht „Früchte zu tragen“. Niemals würde ich jemandem nahelegen, dass er Schicksalsschläge so deuten soll. Manchmal aber kann jemand sie als Weckruf verstehen. Offenbar braucht es wie auch in der Pflanzenwelt gelegentlich solche Weckrufe.
Eine bedrohliche und eine tröstliche Deutungsmöglichkeit
In Jesu Geschichte ist es kein Nussbaum und kein Apfelbaum, sondern ein Feigenbaum, und drei Jahre lang ist der Besitzer schon ohne Erfolg gekommen. Verständlich ist es, dass er sich ärgert und seinem Gärtner sagt:
„Hau ihn um! Wozu soll er dem Boden noch weiter seine Kraft nehmen?“
Das liegt offenbar, wie die Baumbeispiele gezeigt haben, in der Logik des Gartenbaus. Und verstehen kann ich es auch, wenn man es auf die religiöse Welt anwendet. Wie viel Mühe und Zeit habe ich auf manche Menschen und Dinge verwendet, ohne sichtbare Ergebnisse. Und wenn ich an manche Besuche und Gespräche denke, die irgendwie ergebnislos blieben: Es gibt so viele andere, die ich hätte besuchen können, und vielleicht wäre die Zeit woanders besser eingesetzt gewesen. Doch sollte Gott wirklich mit solch einer Logik auf die Gemeinde und die Menschen schauen? Ich finde die Vorstellung beunruhigend und bedrückend. Sollte es so sein, dass Gott vielleicht nur eine bestimmte Zahl von Malen in einem Christenleben anklopft, Frucht sucht und dann nicht mehr? Mich bewegt deshalb der Gärtner, den es um den Baum reut. Ich kann mir gut vorstellen, dass er die Enttäuschung des Besitzers teilt. Und doch fängt er das Handeln an.
„Herr, lass ihn noch dieses Jahr stehen.
Ich will die Erde um ihn herum noch einmal umgraben und düngen.“
Ein Jahr noch mit besonderer Zuwendung. Vielleicht kommt doch noch eine Frucht, die zeigt: Dieser Feigenbaum ist doch noch nicht nutzlos. Noch hat er sein Lebensrecht im Garten. Und ich für mich höre, wie er seinem Herrn die Hacke vor die Füße wirft.
„Wenn nicht, hau [Du] ihn dann um.“ Wenn’s schon nötig wird, dann mach‘s selbst, ich bring‘s nicht fertig.
Vielleicht höre ich als Pfarrer dieses Gleichnis mit ganz eigenen Gedanken, weil mir so viele Stellen aus der Bibel einfallen, wo die Gemeinde Gottes mit einem Weinberg, einem Obstgarten oder Acker verglichen wird. Und an einigen Stellen wird auch erzählt, dass Gott vergeblich nach Früchten sucht und sagt:
„Dann eben nicht.“
Im Lied vom unfruchtbaren Weinberg, Jesaja 5, beispielsweise. Und es gibt ja auch Christen und Christinnen, die unsere volkskirchlichen Gemeinden als fruchtlose Gärten ansehen, weil da nichts zu sehen sei von heiligem Leben und zeugnishaftem Glauben. Und sie fragen sich höchstens, warum Gott diese fruchtlosen Gärten noch immer nicht umpflügt. Da halte ich mich erneut an jenem Gärtner fest, der dem erzürnten Eigner in den Arm fällt und noch ein Jahr erbittet. In dem Gärtner des biblischen Gleichnisses sehe ich nicht so sehr den fürbittenden Pfarrer oder die Ehrenamtlichen, die auch vor Gott für ihre Gemeinde einstehen. Wie sollte ich für mich wissen, dass ich kein fruchtloser Baum bin? Für mich ist der Gärtner Jesus selber, der für seine Gemeinden diese Schonfrist erbittet. Er ist es, so will ich hoffen, der dafür sorgt, dass wir noch eine Chance haben, egal, wie es bisher mit uns ausgesehen hat.
Amen.
—
Dr. Hansjörg Biener (*1961) ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und als Religionslehrer an der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg tätig. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. (Hansjoerg.Biener (at) fau.de)