Ein Mensch steht unter dem bunt beleuchteten Weltall.

Lukas 1,67-79

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„In sich gehen“ | Lukas 1,67-79 | Michael Schibilsky |

Predigtreihe „Facetten gelebter Frömmigkeit“

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der kommen wird, unser Herr Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Adventszeit ist Krisenzeit, Vorbereitung, Erwartung – eine seelisch anstrengende Zeit. Jeder Advent ist anders. Aber jedesmal ist der Advent anstrengend, überraschend, unerwartet. Das unerwartete Warten.

Von Zacharias, dem frommen Priester aus Judäa und seiner Frau Elisabeth erzählt der Beginn des Lukas-Evangeliums. Sie hatten kein Kind und waren beide hochbetagt. Und es begab sich im ganz normalen Tempeldienst, als Zacharias das Räucheropfer darzubringen hatte, erscheint ihm der Engel des Herrn, verheißt seiner Frau und ihm einen Sohn. Unerwartete Ankunft – Krisenzeit. Zacharias fragt nach einem Beweis, einem Zeichen. Und der Engel antwortet: Ich bin Gabriel, der vor Gott steht und bin gesandt mit dir zu reden und dir dies zu verkündigen. Und siehe, du wirst stumm werden und nicht reden können bis zu dem Tag, an dem dies geschehen wird.

So beginnt die Adventszeit im Lukasevangelium – mit Sprachlosigkeit eines Theologen. Advent ist Krisenzeit, nicht Idylle und Beschaulichkeit.

Diese Jahreszeit lädt uns ein, den Blick nach innen zu richten, weil außen eigentlich nicht mehr viel sehenswertesgeschieht. Nach Zurückgezogenheit ist uns zumute, Fortsetzung des Jahresausklangs am Ende des Kirchenjahres mit den Mitteln des Advents: Fasten ist angesagt, wie das bei Jesaja zu hören war. Sich befreien lassen von dem auferlegten Joch. Sich beschränken, sich der Eile wiedersetzen.

Seit uns der Buß- und Bettag nicht mehr als gesetzlicher Feiertag zur Verfügung steht, müssen wir uns ohne den Schutz und die Grenzen eines solchen Tages dieser Herausforderung stellen, Umkehr in unserer eigenen Lebensgeschichte riskieren. Und auf dem Weg der Einkehr begegnen wir nicht immer nur uns selber – es könnte sein, daß wir wie Zacharias dem Boten Gottes, Gabriel begegnen, mitten in unserem theologischen Nachdenken, mitten in unserer Lebensgeschichte, mitten im Leben dieser Kirche.

In sich gehen:

  • Gott Raum geben in meiner Lebensgeschichte,
  • Gott Raum geben in meiner Theologie,
  • Gott Raum geben im Dienst der Kirche.

In sich gehen, das geschieht in unserer Lebensgeschichte notwendig immer dann, wenn eine Lebensphase sich ihrem Ende zuneigt. Bei Zacharias, dem Vater des Johannes, geht nun also die Zeit zu Ende, in der er mit seiner Frau Elisabeth kinderlos geblieben war. Er ahnte es nur noch nicht. Er konnte es im wahrsten Sinne des Wortes nicht glauben.

Adventszeit ist Krisenzeit.

In der Lebensgeschichte jedes Menschen ereignen sich solche Krisenzeiten dann, wenn ein Lebensabschnitt unweigerlich an sein Ende kommt: Wenn die Kindheit zu ihrem Ende kommt wie im Alter des zwölfjährigen Jesus, wie im Alter der zwölf bis 14-jährigen Jugendlichen, die ja ahnen, daß sie ihrer Kindheit nichts mehr hinzufügen können, an der Kindheit nichts mehr ändern können, die ahnen, daß sie ihre Kindheit jetzt verlassen werden. Das ist Krisenzeit, das ist seelische Schwerstarbeit. Zeit von Orientierungsverlust, Melancholie – oder Euphorie, je nach Gemütsverfassung. Wie bin ich aufgewachsen, worauf bin ich vorbereitet? Was traue ich mir zu?

Oder wenn die Jugendzeit (je nach Ausbildungsgang) zwischen dem 18. und 28. Lebensjahr irgendwann zu ihrem Ende kommt. Studentinnen und Studenten in der Examenszeit ahnen etwas davon, daß die Zeit an der Universität an ihr Ende gekommen ist, daß sie die Freiheit, den Aufbruch dieser Jahre nicht beliebig verlängern können, sondern Abschied nehmen müssen von Freiheit und von der Offenheit dieser Ausbildungszeit, von den wunderbaren Experimenten im eigenen Lebensentwurf – ohne verbindliche Letztverpflichtung auf Lebenslänglichkeit.

Das ist Krisenzeit. Das ist seelische Schwerstarbeit, Zeit von Orientierungsverlust, Zeit von Melancholie oder Euphorie, je nach Gemütsverfassung. Was kann ich mitnehmen in die nächste Lebensphase, was bleibt von dem, was mir bedeutsam geworden ist? Was beherrsche ich und kann es umsetzen im Beruf, in der Partnerschaft, im künftigen Lebensalltag?

In jeder Lebenszeit hat der Advent ein anderes Gesicht. Wenn bei uns Älteren die erwachsen gewordenen Kinder das Haus verlassen haben, sich eigene Räume und Lebensgewohnheiten angeeignet haben, wenn sie kein Argument mehr liefern für familiäre Gestaltung des Advents. Was haben wir den Kindern mitgegeben, was haben wir ihnen zuliebe getan im Advent all der hinter uns liegenden Jahre und was für uns selber? Wie Adventszeit gestalten, wenn wir nicht mehr Rücksicht nehmen müssen auf leuchtende Kinderaugen? Advent auslassen? Einfach weiterarbeiten, sich nicht unterbrechen, sich nicht irritieren lassen?

Jede Adventszeit ist Krisenzeit, Zeit von Orientierungsverlust und Neuorientierung, Zeit der Resignation oder Beschaulichkeit, je nach Gemütsverfassung. Und sie wird umso anstrengender, je mehr gesellschaftlich-religiöse Rollen- und Ritualerwartungen uns Harmonie, Freundlichkeit und Liebenswürdigkeiten abverlangen, egal wie uns zumute ist.

Adventszeit ist Krisenzeit, gerade dann, wenn um uns herum ein fast maßloser äußerer Glanz verbreitet wird, der von jeder Einkehr abzulenken höchst geeignet ist.

In sich gehen – auch in theologischer Reflexionsarbeit. Das geschieht im theologischen Nachdenken da, wo wir uns auseinandersetzen mit dem unübersehbaren Relevanzverlust theologischer Bildung in der Berufsausbildung junger Menschen, die uns mit jeder neuen Hochschulstatistik bitter attestiert wird. Es ist zu einfach, die Schuld bei der Mentalität einer Wettbewerbs- und Spaßgesellschaft zu suchen und unsere Hände in Unschuld zu waschen.

In unserer Theologie bewegen wir uns in Sprachspielen, die vielleicht im Horizont der jeweiligen theologischen Nachbardisziplin gerade noch plausibel klingt, aber bereits in anderen Kultur- und Geisteswissenschaften eher belanglos geworden sind. Um wie viel mehr sind wir sprachlos etwa gegenüber einer Biologie, die ganz anders und viel radikaler in sich geht. Die das Leben erkennt in seinen kleinsten Bausteinen und mit einem genetischen Konstruktionsplan Leben entwirft, modelliert, patentiert – und davon profitiert. Wir sind sprachlos geworden, wenn sich Gestalten des Lebens so offenkundig nicht mehr der Ankunft Gottes verdanken, sondern der Konstruktion von Menschen. Diese Sprachlosigkeit verbirgt sich manchmal hinter fulminanten Begriffskaskaden, äußert sich in unbeirrbarer Binnendifferenzierung, oder in schlichter Kommunikationsverweigerung. Kann es sein, daß es uns ergeht wie dem Zacharias mitten in seinem Tempeldienst? Er begegnet dem Boten Gottes, er erfährt Unglaubliches – und es verschlägt auch ihm die Sprache.

In sich gehen in unserer theologischen Reflexion, das ist gedanklich Schwerstarbeit, eine Zeit von drohendem Orientierungsverlust, verbunden mit Resignation oder Selbstgenügsamkeit, je nach Disziplin und persönlicher Neigung. Es läßt uns doch nicht kalt, wenn junge Menschen der Theologie keine signifikante Erkenntnisfähigkeit, keine Gestaltungskraft für ein ganzes Berufsleben mehr zutrauen. Was bedeutet es für unsere Theologie, wenn wir selber nicht recht glauben, es mit einer fundamentalen Wahrheit für das Leben jedes Menschen zu tun zu haben. Sprachlosigkeit kann sich manchmal auch durchaus beredt äußern.

Gott Raum geben in unserer Theologie, nicht unserer jeweiligen Theologie mehr Raum verschaffen wollen, uns unterbrechen lassen in unseren Lieblingsgedanken, umkehren, nicht zur fleißigeren Betrachtung aller denkbaren Theorieepochen und prominenter theologischer Systeme, sondern zur Genauigkeit des Gedankens, der etwas weiß von seiner Endlichkeit, von seinem begrenzten Horizont.

In sich gehen in dieser Kirche vor den Toren des alten Innenstadtkerns Münchens, einer Kirche, die im zurückliegenden Jahr bittere Zeiten hinter sich gebracht hat. In sich gehen in einer Landeskirche, die nicht mit einem Lächeln über den Wolken schwebt – „wie sind so frei“ –, sondern da präsent sein will, wo Menschen auf uns warten, oder schon nicht mehr mit uns rechnen.

Natürlich kann uns eine turbulente und veranstaltungsreiche Advents- und Weihnachtszeit solche Enttäuschungen versüßen, natürlich ist Weihnachten ein Fest mitten aus unserer Kernkompetenz. Aber werden wir dazu als Kirche wirklich noch gebraucht?

Bei Lukas können wir nachlesen, wie sich Gott ereignet: In unerwarteter Gestalt, als Beunruhiger, als Herausforderer, als Widerspruch zu allem, was uns bisher wichtig und heilig gewesen ist.

Wie ereignet sich Einkehr in biblischer Erfahrung, in der Erfahrung des Priesters Zacharias: Es ereignet sich mitten im regulären Tempeldienst. Hier überrascht ihn der Engel, hier verschlägt es ihm die Sprache. Was für eine Geschichte! Erwartungszeit, Vorbereitungszeit ist Krisenzeit. Auch bei Zacharias.

Gott selber bereitet sein Kommen vor, durch einen Boten mit Namen Johannes, der ebenso wenig erwartbar war. Und als Zacharias nach der Geburt seines Sohnes Johannes wieder anfängt zu sprechen, da ist seine Sprache anders geworden.

So heißt es im Predigttext zum 1. Advent des Jahres 2000:

„Zacharias wurde vom heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach: Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David – wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten – , daß er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, daß wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen.“

Und dann der Geburtstagswunsch des ergrauten Vaters Zacharias an seinen neugeborenen Sohn Johannes, der Blick auf dessen Zukunft, seine Lebensbestimmung, die Verknüpfung mit der Ankunft Jesu: Johannes steht für die gesamte Tradition seines Volkes, erinnert Jesus als den messianischen Davidssohn, der Israel errettet und erneuert (vgl. J.Roloff, GPM 89. Jg., S.9):

„Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen.

Denn du wirst dem Herrn vorangehen,

daß du seinen Weg bereitest,

und Erkenntnis des Heils gebest

seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden,

durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes,

durch die uns besuchen wird

das aufgehende Licht aus der Höhe,

damit es erscheine denen,

die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes,

und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.“ Lukas 1, 67-79

Randvoll ist dieser Lobgesang mit den Bildern des Advents, randvoll mit Erinnerungen, die zuerst dem Volk Israel gelten. „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk.“

Befreiungsgeschichte wird hier besungen. Jesu Ankunft ist Errettung aus der Hand aller Feinde, aus der Hand aller, die uns hassen.

Dieses Benediktus, dieses frühchristliche Lied, einer der ältesten Texte aus dem Neuen Testament, das seit alters her zum Morgengebet der Kirche gehört, stellt den Advent Jesu in einen weltweiten Horizont.

Gott bleibt sich in seinem Handeln treu, er führt das Neue herauf. Weil Gott sich des ersten Kommens Jesu in diese Welt erinnert, können wir uns auf seine Wiederkehr verlassen. Was Gott begonnen hat, das wird er auch vollenden.

Darum geht es in dieser Adventszeit: Erinnerung an die Zukunft Jesu, an seine Wiederkunft. Sehnsucht – das ist der eigentliche Geschmack des Advents.

  • Advent ist bereits vorbereitet. Advent hat sich schon ereignet.
  • Wir kommen nicht zu spät, auch wenn die Adventszeit dieses Jahres um eine Woche kürzer ist als in anderen Jahren.
  • Wir kommen nicht zu spät, wenn wir erst jetzt beginnen mit unseren Vorbereitungen auf das aufstrahlende Licht aus der Höhe.

Wenn das stimmt, wenn das die Mitte unseres Glaubens ist, dann können wir auf andere Weise in diese adventliche Krisenzeit gehen: Unser Leben ist erwartungsvoll, voller Sehnsucht. Diese Glaubenshaltung ermöglicht uns Unterbrechung dieser überladenen und belasteten Vorweihnachtszeit.

  • In sich gehen, umkehren, wenn wir uns selber aus dem Blick verloren haben.
  • In sich gehen, umkehren, wenn die Anforderungen von außen uns so fest im Griff haben, daß wir uns nicht mehr wiederfinden.

Advent ist nicht Vorwegnahme von Weihnachten. Es ist die Fortsetzung der Bußzeit mit adventlichen Mitteln, Unterbrechung der Weihnachtsstimmung rund um uns herum.

In sich gehen:

  • Gott Raum geben im Dienst der Kirche.
  • Gott Raum geben in meiner Theologie,
  • Gott Raum geben in meiner Lebensgeschichte,

Wir bekennen den gekreuzigten Jesus von Nazareth,

wir bekennen den auferweckten Christus,

wir bekennen den wiederkommenden Messias.

wir erwarten seine Herrlichkeit.

Das ist der Dienst der Kirche.

  • Nicht wir beenden die theologische Sprachlosigkeit, sondern Gott hat geredet.
  • Nicht wir vermitteln Erkenntnis Gottes. Gott hat uns erkannt. Mit allem, was uns heilig ist.
  • Nicht wir verhelfen der Theologie zur akademischen Relevanz, geben ihr Überzeugungskraft und Glanz, Gottes Wahrheit hat uns überzeugt,

sie hat uns überwältigt,

sie gibt der Welt einen neuen Schein.

In sich gehen – Gott Raum geben auch in der Krisenzeit unserer eigenen Lebensgeschichten: Nicht wir erzwingen das Gelingen unserer Lebensgeschichten, nicht wir verleihen unserem Leben Sinn, wenn wir erzählend sie begreifen.

Er macht mit unserem Leben Geschichte, Gottes Geschichte mit uns.

Nicht wir lösen die Krisen, die als Unübersichtlichkeit und Orientierungsangst an den Schwellen unserer Lebensübergänge lauern, sondern er verheißt, bei uns zu sein auch am unbekanntesten Ort. Er hat unserem Leben Sinn versprochen, als er uns ins Leben rief. Er läßt uns unser Leben verstehen, wenn er wiederkommt in Herrlichkeit. „Denn er hat besucht und erlöst sein Volk.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Prof. Dr. Michael Schibilsky