Lukas 17, 20-30

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Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres | 9. November 2003 | Lukas 17,20–30 | Peter Weigandt |

Als Christen leben wir in einem Spannungsfeld:
Auf der einen Seite ist uns Gottes Gegenwart verheißen – auf der anderen Seite ist das
leere Kreuz: Der Sieger über den Tod ist nicht vorzeigbar, im
Gegenteil: immer wieder erfahren wir Gottes Abwesenheit. Unsere Zeit
ist eine Zwischenzeit. Alltag ist das Normale. Wir haben uns darin
eingerichtet, sind in ihm zu Hause. Und wenn wir uns in ihm schon nicht
wohlfühlen, so beunruhigt uns doch unser Leben im Alltag noch
nicht allzusehr.

Was uns beunruhigt, was uns Angst macht, ist etwas ganz anderes. Das
ist die dunkle Ahnung, es könne am Ende ein ganz anderer Blitz
aufleuchten und nicht der Blitz, von dem Jesus spricht, der Blitz,
der von einem Ende des Himmels bis zum anderen leuchtet. Wir haben
die dunkle Ahnung, unser Blitz könne der eines Untergangs sein,
den wir uns selber bereiten.

Welcher Blitz wird es sein? Wir haben für die Zeit, die vor uns
liegt, nichts in der Hand: kein Zeichen, keinen Hinweis, sie erträglicher
zu erleben. Wir haben allenfalls die Aussicht, daß wir Menschen,
so wie wir leben und unsere Welt gestalten, das Ende dieser Zeit schon
auf den Weg gebracht zu haben.

Aber daß Gott ausbleibt, daß der nicht kommt, der doch gesagt
hat, er werde kommen – das macht uns keine Sorgen. Und so beten wir denn
vor Tisch – wenn wir es denn noch tun -: „Komm, Herr Jesu …“ und
wissen schon nicht mehr, was diese Worte einst waren: das Gebet der ersten
Christen, mit dem sie um das Kommen des auferstandenen Jesus Christus,
um das Kommen der Gottesherrschaft, um das Ende der Zeiten baten. Dessen
Ausbleiben läßt uns kalt.

Wenn wir überhaupt am verschlossenen Himmel, an der Abwesenheit
Gottes leiden, dann doch nur in Grenzsituationen unseres privaten Lebens,
etwa wenn wir einen Unfall erleiden oder ein Mensch stirbt, der uns nahe
war und nach unserem Ermessen noch gar nicht hätte sterben dürfen.
Merkwürdig dabei ist – oder vielleicht auch gar nicht so merkwürdig
-, daß wir in Leid und Unglück meistens nicht die Worte „Dein
Reich komme“ finden, sondern eher schon andere wie das anklagende „Wie
kann Gott das zulassen?“.

Unsere große Hoffnung auf Gottes Kommen ist dahin – wenn wir sie
denn je hatten. Dafür haben wir unsere kleinen und gewiß nicht
unwichtigen Hoffnungen des Alltags, daß die Zeit der Trauer vorübergehen
wird, daß die Schmerzen nachlassen oder einfach wieder bessere
Tage kommen werden. Solche Erwartungen lassen uns nach Enttäuschungen,
nach Leiden, nach Zweifeln und Anfechtungen wieder hoffen. Wir – Sie,
Ihr, ich -, wir leben unseren mehr oder minder bürgerlichen Alltag,
achten auf unser privates Glück und fühlen uns alles in allem
im Bereich der Normalität und Durchschnittlichkeit ganz wohl.

Es gibt zwar keine Sicherheit – eher ist alles offen in unserer ungesicherten
Zeit. Aber dafür vergessen wir, daß der, dessen Kreuz nun
leer ist, zuvor gelitten hat. Und wir vergessen, daß wir, wie
wir vor der Predigt gehört haben, das Leiden als seine Gemeinde
noch vor uns haben. Ist das ein Grund für die Erfolge der Sekten
und Gurus, für den Esoterik-Boom, für den ständig wachsenden
Verbrauch an Rauschmitteln aller Art? Mit einem Bild gesagt: Unser
Haus brennt ja nicht – noch nicht? -, es qualmt höchstens irgendwo
an einer unbedeutenden Ecke ein ganz klein bißchen. Sollten wir
uns deshalb aufregen?

Oder ist doch schon etwas mehr zu sehen? Die apokalyptischen Drohungen
bekommen wir am Morgen mit der Zeitung frei Haus geliefert. Die technischen
Spielereien von Filmen wie „Der Krieg der Sterne“, „Star
Trek“ oder „Matrix“, gleich ob sie modelltechnisch
oder digital realisiert sind, wirken fast erholsam gegenüber dem
Krieg der Sterne, an den Großmächte oder solche, die es
gerne wären, denken. Natürlich will ihn keiner haben. Aber
wer garantiert, daß er nicht kommt? Das Wort „Apokalypse“ hat
sich sogar schon in der Pop-Sprache eingenistet …

Woche für Woche gibt es Neues: Tests mit Raketen, die Atomsprengköpfe
tragen können, in Pakistan, Indien, Nordkorea; Spuren atomwaffenfähigen
Materials im Iran; Wachsen der Ozonlöcher über beiden Polarregionen;
Sturzfluten und Erdrutsche, weil zuviel tropischer Regenwald abgeholzt
wurde; Abschmelzen des Eises an den Polkappen – die Reihe läßt
sich beliebig verlängern. Ohne Zahl sind die Untergangsszenarien
– ganz zu schweigen von den beunruhigenden Nachrichten über die
katastrophale Lage bei der Finanzierung des Gesundheitswesens, der doch
nicht so sicheren Renten, der sich ständig vergrößernden
Steuerlöcher und der riesigen Schuldenberge, die eine von uns durchaus
gewollte und mitgetragene Politik in Jahrzehnten angehäuft hat.
Und alle diese Bilder, sie sind Bilder nicht von Schicksalsschlägen,
sondern von uns Menschen verursachter Katastrophen, gleich welchen Ausmaßes
und wenn sie auch treffen werden, die eigentlich niemand will, aber riskiert
werden, und die weit und breit keiner ernsthaft aufzuhalten versucht.
Etwas zynisch könnte man sagen: Untergang nach Art des Hauses …

Genau hier wird deutlich, was uns trennt von der Situation der Christen
zur Zeit des Lukas, damals im ersten Jahrhundert. Anders als sie haben
wir Weltgeschichte wie die eigene Geschichte nicht nur passiv erlebt
und oft auch erlitten, sondern aktiv mitgestaltet und gestalten sie
auch heute noch aktiv mit. Wir wählen unser Parlament, und wenn
wir nicht zur Wahl gehen, treffen wir auch eine Entscheidung, und die
von uns gewählten Parlamentarier entscheiden wiederum, und wenn
sie es nicht tun, hat auch dies Folgen.

Wenn die ersten Christen getrost auf Gottes Weltlenkung vertrauen konnten,
wenn für sie das Gebet aktivster Ausdruck christlichen Lebens
in der Welt war, dann ist das heute zu wenig. Denn das hieße:
Abschieben von Verantwortung, die wir Menschen übernommen haben.
Mancher mag hoffen, daß ja hinter einer sich anbahnenden, hausgemachten,
kleineren oder größeren, vielleicht sogar apokalyptischen
Katastrophe sich für die Erlösten die Seligkeit eröffnen
könnte. Doch das ist ein teuflisches Spiel. Vielleicht leiden
wir doch mehr, als wir wahrhaben wollen, und vielleicht ist gerade
das Abschieben, das Verdrängen, das Nicht-wahrhaben-Wollen unser
Leiden.

Und das heißt: Wo wir heute Bedrohungen unseres Lebens, unserer
Welt von apokalyptischen Ausmaßen sehen – da ist kein Anzeichen
einer bevorstehenden Wende. Denn diese Bedrohungen kommen nicht von Gott,
sondern von Menschen. Und denen können wir nicht in der Haltung
des Zuschauers begegnen – denn wir werden nichts sehen, was uns weiterhilft,
keine Sicherheit verheißenden Zeichen, nichts.

Erich Fried hat diese Situation einmal so beschrieben:

Es ist geschehen
und es geschieht nach wie vor
und wird weiter geschehen
wenn nichts dagegen geschieht

Die Unschuldigen wissen von nichts
weil sie zu unschuldig sind
und die Schuldigen wissen von nichts
weil sie zu schuldig sind

Die Armen merken es nicht
weil sie zu arm sind
und die Reichen merken es nicht
weil sie zu reich sind

Die Dummen zucken die Achseln
weil sie zu dumm sind
und die Klugen zucken die Achseln
weil sie zu klug sind

Die Jungen kümmert es nicht
weil sie zu jung sind
und die Alten kümmert es nicht
weil sie zu alt sind

Darum geschieht nichts dagegen
und darum ist es geschehen
und geschieht nach wie vor
und wird weiter geschehen

Und trotzdem: was sich erschreckend vor uns auftürmt, will letztlich
keiner. Es ist das Ergebnis von Macht- und Interessenkonflikten. Es ist
das Ergebnis von Gesetzen, die es nur deswegen gibt, weil sie befolgt
werden – wie der so oft berufene Sachzwang. Er ist das Ergebnis von Entscheidungen,
deren Folgen noch gar nicht abzusehen sind, die aber dennoch gefällt
werden. Es liegt nicht an einer besseren Ethik oder Moral, ob es ein
drohendes Debakel, Fiasko oder Desaster – gleich welchen Ausmaßes
– abzuwenden gelingt. Da müssen vielmehr Systeme geändert werden.

Systeme funktionieren so gut, wie ihre kleinsten Einheiten funktionieren.
Und die sind wir, jede und jeder von uns. Systeme können geändert
werden. Aber gewollt werden müssen diese Änderungen, und
durchdacht werden – nicht nur von einigen. Und Zuschauer – und dazu
gehört auch die mit jeder Wahl weiter anwachsende „Partei
der Nichtwähler“-, Zuschauer, die nur auf ihre ewige Seligkeit
aus sind, können nichts wollen, genauer nichts wollen wollen.
Wollen wir?

Wo aber bleibt das Reich Gottes, von dem Jesus – so der Evangelist Lukas
– sagt, es sei mitten unter uns? Wo wirkt es? Vielleicht dort: Wo sich
ein junger Mann liebevoll seiner Frau annimmt, die an einer nicht heilbaren
Krankheit leidet, die noch Jahre dauern kann – und sie nicht verläßt;
wo eine Fünfzehnjährige, die ein Kind erwartet, von den Eltern
nicht vor die Tür gesetzt wird; wo ein schwieriger Mitarbeiter
in einem Betrieb nicht gemobbt, sonder ausgehalten wird. Dort, vermute
ich, wird etwas davon spürbar, daß es so ist, wie Jesus
sagt: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Gottes heilende und heilschaffende
Kraft ist erfahrbar, auch in der Gegenwart – jetzt ist der Tag des
Heils.

Das Reich Gottes ist unter uns, weil Jesus unter uns ist. Denn er ist
derselbe, gestern und heute und wiederkommend: der leidende und am
Kreuz getötete Jesus. Auf ihn ist zu sehen und nicht Ausschau
zu halten nach irgendwelchen Zeichen. Damit richten sich die Blicke
auf uns, die wir ihm nachfolgen, jetzt sein Werk weiter tun wollen.
Und das heißt: helfen, trösten, befreien, aus der Enge der
Gesetzlichkeit heraustreten, oder weiter ausgreifend: Verantwortung
für die Welt übernehmen – auch wenn ein Wort wie Weltverantwortung
im Neuen Testament nicht zu finden ist.

Daß uns dabei Hohn und Spott, Leiden und Erfolglosigkeit nicht
erspart bleiben werden, damit können wir rechnen. Das können
wir aber auf uns nehmen, weil wir die feste Hoffnung haben, daß er,
der auferstanden ist von den Toten, kommt, daß er uns nicht verloren
gehen läßt, daß wir bei ihm geborgen sind – gegen die
Angst vor der Angst, wir könnten uns eines Tages unter veränderten
Lebensbedingungen wiederfinden.

Liturgie:

Psalm: Ps 90 i. A. (EG der EKKW 735) oder Ps 90,1-12

Lesung: Röm 14,7-9

Lieder: EG 155,1; 450,1-3; 152,1-3; 153; 421,1

Kyrie: Manchmal fühle ich mich in die Enge getrieben, und die Angst
zu versagen schnürt mir die Kehle zu. Manchmal rinnt mir der Sinn
meines Lebens wie Wasser durch die Finger, und die Öde der Hoffnungslosigkeit
grinst mich aus allen Ecken an. Manchmal schmeckt der Trost biblischer
Wahrheit wie abgestandenes Bier, und mein Gebet scheitert schon an der
Anrede. Dann werfe ich mich dir in Arme, Gott, und bitte:

Gloria: Wie eine Mutter tröstend ihr Kind in die Arme nimmt, so
weist du mich nicht ab, Herr, sondern hältst mich, damit ich nicht
noch tiefer falle.

Licht scheint mir entgegen. Ich sehe den Weg. Zuversicht geht mir zur
Seite, meine Angst ist verflogen, mein Fuß wird leicht auf der
Straße, die heimführt.

Gott, ich danke dir und singe:

Tagesgebet: Gott, Vater, wie im Himmel, so auf Erden. Wir halten Ausschau
nach dir, daß die schwierigen Probleme der Welt uns nicht den
Blick verstellen. Laß uns den weiten Horizont hoffnungsvoller
Erfahrungen schauen durch Jesus Christus …

Gebet: Wir waren allein mit unseren Fragen und Zweifeln, mit unseren
Sorgen und Enttäuschungen, auf unsren Irrwegen und in unseren
Sackgassen. Nun wissen wir wieder: Du bist bei uns, Gott. Du bist in
deiner Liebe immer bei uns gewesen, im Glück, auch in der Not.
Wir haben es nur nicht immer gemerkt. Vergib uns, Herr.

Hilf uns, dein Wort im Wort der Menschen zu hören, die uns gut
zureden. Hilf uns, deine Liebe in ihrer Geduld zu erkennen, in ihrer
Freundlichkeit und in Hartnäckigkeit. Dann werden auch wir deine
Boten sein.

Wir werden uns um Verständnis mühen, wo uns Gleichgültigkeit
und Ablehnung begegnen. Wir werden unser Wort sagen, auch wenn man nicht
auf uns hört. Wir werden Vertrauen schenken, auch wenn man uns Mißtrauen
entgegenbringt. Wir werden Liebe schenken, ohne nach Gegenliebe zu fragen.
Wir werden Hoffnung wecken, wo sich Schwermut und Hoffnungslosigkeit
breitmachen – in deinem Geist, in der Kraft deines Sohnes Jesus Christus.

Wir freuen uns, daß er da ist – für uns alle, und auch für
die, die sich abgewandt haben.

Quellen: Kyrie, Gloria (angelehnt an): Zum Gottesdienstbeginn. Hg. v.
Horst Nitschke. Gütersloh 1981. S. 132.

Tagesgebet: Liturgieentwürfe für das Kirchenjahr. 2. Aufl.
Frankfurt 1985. S. 358.

Gebet (frei nach): Christian Zippert: Neue Gottesdienstgebete. Gütersloh
1981. S. 85.


Dr. Peter Weigandt
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