Lukas 17, 20-33

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Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr | 17.11.24 | Lukas 17, 20-33 (dänische Perikopenordnung) | Von Marianne Frank Larsen | 

Ein Leuchten des Reiches Gottes mitten unter uns

In dem Buch des norwegischen Autors Per Petterson Nicht mit mir (2014)[1] werden Tommy und seine Schwestern erst von ihrer hilflosen Mutter verlassen, dann von ihrem gewalttätigen und ohnmächtigen Vater. Ein paar Wochen kämpfen Tommy und die älteste Schwester Siri einen heroischen Kampf, um sich selbst zu versorgen. Im Alter von 13 und 12 Jahren kochen sie selbst, machen sauber und nehmen sich der kleinen Geschwister an, um die Familie zusammenzuhalten. Aber das endet natürlich damit, dass der Landpolizist kommt, um die Kinder zu holen und sie dort in Pflege zu geben, wo es das Jugendamt bestimmt hat. Das ist nicht derselbe Ort, die kleinen Zwillinge sollen bei den Nachbarn wohnen, Siri wird in der Stadt in Pflege gegeben, und Tommy soll bei einer ganz anderen dritten Familie wohnen. Es ist, als würde alles auseinanderfallen, als der schwarze Volvo des Landpolizisten auf dem Weeg ist mit den Kindern auf dem Rücksitz.

Aber da kommt der Nachbar, Jonsen, aus seiner Einfahrt und bringt den Landpolizisten dazu, das Auto anzuhalten. „Ich bin ja dazu gezwungen“, denkt Jonsen, „das ist nicht etwas, was ich sein lassen kann“. Und dann beugt er sich hinab und sagt durch das offene Autofenster: „Ich nehme Tommy“. Und so geschieht es, dass Tommy nicht bei einer wildfremden Familie in der Stadt wohnt, sondern beim Nachbarn, den er kennt und gernhat. Jonsen ist ein Mann in den 30er Jahren, der im örtlichen Sägewerk arbeitet. Er ist Junggeselle und war nie für etwas anderes verantwortlich als sich selbst und seine Arbeit. Es passt überhaupt nicht in seinen Alltag und seine Routine, dass ein 13-jähriger Junge einzieht. Das ist ein großer Eingriff. Nichtsdestoweniger hat Jonsen also in dem Augenblick, als er den schwarzen Volvo des Landpolizisten auf dem Weg rollen sieht, ein klares Gefühl dafür, dass dies nicht etwas ist, was er einfach sein lassen kann. Der Landpolizist ruft bei der Jugendbehörde an und erhält die Erlaubnis, Tommy bei Jonsen bleiben zu lassen, und daraus entwickelt sich eine schöne Freundschaft und eine große Geborgenheit für den großen Jungen, während er erwachsen wird.

Das ist nicht etwas, was jemand geplant hat. Es ist nicht vorher durchdacht. Es kommt wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Jonsen hat gegessen und getrunken und eingekauft und verkauft und gepflanzt und gebaut, wie wir das im Evangelium hören. Aber plötzlich ist da eine Stimme, die sagt, dass man das Auto anhalten muss. Plötzlich wird ihm klar, dass da etwas ist, was er muss, etwas, was er nicht sein lassen kann, wenn er sich selbst in die Augen sehen will. Plötzlich nimmt sein vorhersehbares Leben eine dramatische Wendung. Eine Wendung zum Besseren wohlgemerkt. Ich könnte auch sagen: Plötzlich stellt sich Barmherzigkeit ein. Das überrascht den Landpolizisten, das überrascht Tommy. Und das überrascht Jonsen selbst.

So ist es nämlich mit dem Reich Gottes. Das ist die Pointe des heutigen Evangeliums – wie das Reich Gottes kommt wie ein Blitz aus heiterem Himmel und uns mitten in unserem Tun unterbricht. Wir essen und trinken, kaufen und verkaufen, pflanzen und bauen – und plötzlich ist es mitten unter uns, oder plötzlich ist er mitten unter uns, er den wir nicht sehen können, der uns aber immer das Reich Gottes bringt, wenn er kommt. Wir können nicht auf das Tun von Jonsen zeigen und sagen: Seht, das ist das Reich Gottes. Wir können überhaupt nicht auf Jonsen selbst verweisen und sagen: Seht, das ist unser Herr. Überhaupt nicht, und es ist gefährlich, wenn wir anfangen, auf jemanden zu zeigen und so etwas zu sagen. Was wir aber können, das ist das, was geschieht, wenn Jonsen aus der Einfahrt läuft und das Polizeiauto anhält, zu deuten als ein Leuchten des Reiches Gottes mitten unter uns, als eine Weise, in der es unsichtbar kommt, eingreift und unser Leben verändert.

Dass wir das Tun Jonsens als ein Leuchten des Reiches Gottes deuten können, hängt natürlich damit zusammen, dass wir Jesus so kennen aus den Tagen des Menschensohns damals, als man ihn hier auf Erden sehen konnte. Aus seinen Erzählungen wissen wir, dass der Samariter der Nächste war für den verwundeten Mann, der Samariter, der unterwegs war, um zu essen und zu trinken und zu kaufen und zu verkaufen, der aber unterbrochen wurde durch den Anblick des verwundeten Mannes am Wegrand und der unwillkürlich dasselbe wusste wie Jonsen in dem Roman. Ich bin ja dazu genötigt. Und der den Verwundeten aufhob und ihm Barmherzigkeit erwies.

Aus dem Leben Jesu wissen wir: Wenn er auf dem Wege war oder etwas ganz anderes vorhatte, ließ er sich immer von den Menschen unterbrechen, die ihn riefen, er sah sie; sah ihre Furcht oder ihre Not oder ihr Unglück, und er tat ihnen Gutes mit seinen Worten und seinen Händen. Erwies ihnen Barmherzigkeit, hob sie auf, im wörtlichen oder im übertragenen Sinn, weckte ihre Freude neu.

Vom Ostermorgen her wissen wir, dass Gott all das bestätigte, was Jesus gesagt und getan hatte, ihn erhob, so dass er von da an in unserem Leben stets unsichtbar gegenwärtig sein konnte. Weil wir die Geschichte von Jesus kennen, können wir ihn und das Reich Gottes in den Dingen wiedererkennen, die zwischen uns geschehen, können wir das Handeln Jonsens als einen Impuls von unserem Herrn sehen, ein Leuchten des Reiches Gottes an einem ganz gewöhnlichen Tag in Norwegen im Sommer 1966.

Es ist unsichtbar, und es lässt sich nie beweisen, es ist eine Deutung, eine Weise, bestimmte Augenblicke in unserem Leben zu sehen. Und so wie ich es verstehe, werden wir dazu im heutigen Evangelium aufgefordert: Dass wir uns nicht darin verlieren, zu essen und zu trinken und zu kaufen und zu verkaufen und zu bauen und zu pflanzen, dass wir nie glauben, dass dies alles ist oder dass unser Leben damit steht und fällt, sondern dass wir den offenen Blick bewahren für das Reich Gottes, wenn es kommt wie ein Blitz aus heiterem Himmel und plötzlich mitten unter uns ist – als eine Forderung, als ein Wissen davon, was wir zu tun haben, als Barmherzigkeit, Hilfe, Freude. Weil es so ist, dass wir mit dem unsichtbaren Herrn leben, an den wir glauben.  Mit der Empfänglichkeit oder Erwartung, mit dem offenen Blick, der stets bereit ist, dass er kommt und die Situation verändert. Gerade diese Empfänglichkeit oder Offenheit, die wir zum Ausdruck bringen und worin wir uns selbst festhalten, wenn wir beten: Dein Reich komme. Und bei jedem anderen Gebet.

Das Reich Gottes ist mitten unter uns, wenn Barmherzigkeit geschieht. Wenn Menschen aufgeboben werden. Wenn die Freude beginnt. Der Gottesdienst kann eine Hilfe sein, den offenen Blick für das zu bewahren, denn hier kommt er ja mit dem Reich Gottes in den Erzählungen, die wir hören, und in den Liedern, die wir singen. Er ist unsichtbar, aber wir können deutlich hören, was er sagt. So werden wir daran erinnert, was das Reich Gottes ist und wer Gott ist und was er von uns will. Das wird ganz deutlich, wenn wir die Taufe feiern und wenn wir das Abendmahl feiern. Dass er uns sieht, so wie er Menschen sah, als er sichtbar in der Welt einherging. Dass er auch heute stehen bleibt und uns seine Barmherzigkeit und seine Freude reicht, verborgen im Brot und Wein, ehe er uns aufhebt. Und da ist das Reich Gottes mitten unter uns. Wenn er hier so kommt, dürfen wir auch darauf vertrauen, dass er so auch anderswo kommen kann. Das müssen wir im Auge behalten. Amen.

Pastorin Marianne Frank Larsen

DK 8000 Aarhus C

mfl(at)km.dk

[1] Norwegisch: Jeg negter, 2012