Lukas 21,25-33

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Der erste Atemzug der Erlösung | 2.Advent 7.12.2025| Predigt zu Lk 21,25-33| verfasst von Wolfgang Vögele|

Segensgruß

Der Predigttext für den zweiten Advent steht Lk 21,25-31:

„Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wißt ihr selber, daß jetzt der Sommer nahe ist. So auch ihr: wenn ihr seht, daß dies alles geschieht, so wißt, daß das Reich Gottes nahe ist.“

Liebe Schwestern und Brüder,

Brausen und Wogen des Meeres klingen in den Ohren nach. In der Erinnerung baut sich das flüchtige Bild eines Strands im Abendhimmel auf. Die Dünung rauscht sanft und versiegt im ansteigenden Strand. Dicke Pinselstriche orangenen und gelben Lichts am Horizont. Flache Wellen streicheln den Sand, und ein paar Strandgäste sehen entspannt zu. Doch die sanfte Atmosphäre kann sich schnell verändern. Niemand muß an die Hurrikans in der Karibik oder an die Springfluten in der Nordsee denken.

Vielleicht kennen Sie schon den neuen Roman des englischen Bestsellerautors Ian McEwan, mit dem Titel „Was wir wissen können“. Dieser Roman spielt in ungefähr hundert Jahren, im Jahr 2119. Die spannende Lektüre überlasse ich Ihnen, mich interessiert nur ein kleines Detail aus dem Romankontext. Die gesamte englische Insel ist vom Meer überspült. Nur noch die Erhebungen ragen aus dem Wasser. England ist zu einem Archipel geworden, zwischen dessen Inseln unregelmäßig Fähren verkehren. McEwan spricht von einer zurückliegenden großen ‚Disruption‘, mit der die Einwohner sich arrangieren mußten. Sie essen chemisch hergestellte Eiweißkuchen und können nur unter großen Mühen reisen. Mit der globalen Erwärmung ist ein apokalyptisches Ereignis eingetreten.

Ian McEwan hat seine literarische Erzählung entlang aktueller Debatten aufgeschrieben. In Wellen, Fluten und Wasser berührt sie sich mit den apokalyptischen Worten Jesu in Lk 21. Das Brausen und Wogen des Meeres wird zur gefährlichen Bedrohung, zumal Jesus weitere kosmische Veränderungen ankündigt. Sonne, Mond und Sterne werden ihre Bahn verlassen. Bei Jesus gerät die Ordnung des Kosmos disruptiv aus den Fugen, und der Menschensohn steuert von einer Wolke aus die Ereignisbahnen wieder zum Reich Gottes zusammen.

Es ist zu einfach, solche gewaltigen Bilder einfach als realistische Vorhersagen der Zukunft auszugeben. Die Bilder tun ihre Wirkung auch ohne Realismus. Eher zielen solche Aussagen auf Gefühle und Befindlichkeiten der Gegenwart. Sie wühlen die verbreitete Unsicherheit und Angst auf. Damals fürchteten die Menschen das römische Imperium und die politischen Verhältnisse. Heute sehen erschrockene Zuschauer in den Nachrichten Meldungen über Kriege und Terroranschläge. Sie sehen unanständige Politiker, die sich bereichern und Schrecken verbreiten. Sie registrieren zunehmende Ausschläge von Wetterereignissen, von Starkregen und Hagel über Erdrutsche, Lawinen bis zu Super-Hurrikans. In der allgemeinen Verunsicherung – damals wie heute – strahlt der Menschensohn auf der Wolke große Ruhe aus. Nicht die Römer, Vasallenkönige, Legionen und Galeeren herrschen, sondern der barmherzige Gott und sein Sohn, der als himmlische Lichtgestalt aus der Zukunft erscheint.

McEwans Zukunftserzählung zielt aus der Zukunft auf die Menschen dieser, unserer Gegenwart. Denn viele von ihnen haben den Klimawandel geleugnet und Gelegenheiten zum Handeln verstreichen lassen. Jesu Worte zielen auf die Zukunft des Reiches Gottes. Von dort aus wird Glauben eingespurt, bei den Jüngern zuerst und dann bei den ihnen folgenden Christen.

Jesu Worte wollen trösten. Nicht die politischen, meteorologischen und astronomischen Mächte bestimmen, was auf dieser unberechenbaren Erde geschieht, sondern der allmächtige und barmherzige Gott und der Menschensohn. In Gottes Auftrag jongliert der Menschensohn mit den großen kosmischen Bällen. Die Menschen erscheinen da als kleine Pünktchen, als vernachlässigbare Staubkörnchen im Weltall.

Staubkörnchen? Da erhebt sich Einspruch. Kann man ihm, dem Menschensohn, trauen? Gerade bei Lukas erscheint Jesus als Menschensohn mit Vorgeschichte. Die biographische Spur des kosmischen Retters läßt sich zurückverfolgen bis zur Krippe von Bethlehem. Und davor: Im Neuen Testament begegnet der kosmische Retter schon vor seiner Geburt. Die schwangere Maria, Jesu zukünftige Mutter und ihre schwangere Verwandte Elisabeth, Mutter des zukünftigen Täufers Johannes begegnen sich. Beide ungeborenen Kinder im Bauch fangen an zu hüpfen (Lk 1,41-44). Und dieses wunderbare vorgeburtliche Hüpfen im Paradies des mütterlichen Bauches weist auf eine ganz menschliche Spur des Glaubens hin.

Was immer über den Menschensohn, den kosmischen Retter in den Wolken zu sagen ist, wie auch immer die Zukunft der Menschheit zu beschreiben ist, der Menschensohn ist niemand anderes als der Embryo, den Maria im Bauch trägt. Maria gebiert ihn dann ohne Wehenschreiber, ohne Hebamme und ohne Erstuntersuchung U 1. Er wird abgestillt, lernt krabbeln, stehen, laufen. Als Zwölfjähriger diskutiert er im Tempel selbstbewußt mit erbosten Schriftgelehrten. Später heilt er, er predigt, erteilt Ratschläge, redet in Gleichnissen und sammelt Jünger und Glaubende um sich. Der apokalyptische Theaterdonner aus Kometenschweifen und Sturmfluten steht erst noch bevor. In Bethlehem wird kein Superheld geboren. Superhelden wie Captain America retten zwar auch die Welt, aber am Ende sind doch die kinofreundlichen Explosionen und der Nervenkitzel wichtiger als Rettung und Heilung.

Bei Jesus von Nazareth als Menschensohn verhält es sich genau umgekehrt. Vor den kosmischen Umbrüchen steht die Menschwerdung Gottes. Noch viel mehr: Diese Menschwerdung ist der kosmische Umbruch. Sonne, Mond und Sterne rücken darüber in den Bühnenhintergrund.

Mit dieser schwierigen Hausgeburt beginnt die Erlösung. Sie ist eines der normalen Ereignisse dieser Welt. Wir alle haben das hinter uns, ohne uns erinnern zu können: die Enge des Geburtskanals, der erste Schrei, die Durchtrennung der Nabelschnur, die aufgeregten Gesichter der Geburtsbegleiterinnen und -begleiter. Die Geburt Jesu wirft ein Licht auf alle Geburten. Aber es gilt auch das Umgekehrte: Viele Millionen Geburten jedes Jahr werfen ein Licht auf diese eine, höchst besondere Geburt vor mehr als zweitausend Jahren. Am Anfang der Erlösung steht die Hilflosigkeit des Babys, steht das Schreien des hungrigen Kindes, steht das Stillen. Sind so kleine Hände: Die Erlösung beginnt ganz, ganz menschlich und ganz, ganz vorsichtig. Der Erlöser der Welt wird in der ersten Wochen viel geschlafen haben. Der Menschensohn brauchte die Fürsorge seiner Eltern. Ohne diese Geburt Jesu, die wir im Advent und an Weihnachten feiern, wäre alles andere nichts: Predigertätigkeit, Kreuz und Auferstehung.

Die Geburt erleuchtet sozusagen die Erlösung und wirft ein besonderes Licht auf sie. Die Menschlichkeit Jesu läßt sich aus seinem Leben, aus seinen Predigten und aus seinen öffentlichen Auftritten nicht mehr herauskürzen.

Vom Baby zum Menschensohn verläuft biographisch ein sehr weiter Lebensweg, der in seinen Folgen und Nebenfolgen für den Glauben bedacht werden muß. Und trotzdem: Der Menschensohn, der nur mit den Sternen spielt, wäre nichts weiter als ein antiker Superman. Der Menschensohn, der in die Krippe hineingeboren wurde, strahlt mehr aus, so viel mehr, daß daraus Vertrauen wächst.

Lukas redet von Kopfheben und Aufsehen. Wer den Kopf hebt und ins Weite sieht, hat mit einer ersten, selbstbewußten Geste seine Niedergeschlagenheit hinter sich gelassen. Wachsam zu sein zeigt sich als eine doppelte Aufgabe. In der einen Dimension kreist Wachsamkeit um die nüchterne und sachliche Betrachtung der Welt. Katastrophen und Krisen dürfen nicht in Panik versetzen. Kurzschlußreaktionen helfen nicht weiter. Wer auf die gegenwärtigen Schrecken der Welt blickt, kann durchaus zusammenzucken. Das ist verständlich. Aber im nächsten Schritt wird er überlegen, wie er wirksam reagiert und hilft.

In der zweiten Dimension kommt zu diesem nüchternen Realismus das Warten im Advent hinzu. Wer glaubt, wartet auf Weihnachten, wartet auf das Kind, den Erlöser. Wer so wartet, hofft auf Gott. Warten verbindet sich mit Vorfreude. Darin unterscheidet sich das Warten auf Gott von allem anderen Warten.

Wachsamkeit im Advent verbindet Realismus, Nüchternheit und Hoffnung. Der Realismus gilt der Welt, wie sie ist. Die Hoffnung gilt dem Kind in der Krippe. Wer beides, Realismus und Hoffnung zusammennimmt, gewinnt Aufmerksamkeit und Gewißheit. Erhebt eure Häupter.

Nur so wird die Vision des Lukas verständlich. Christen sind keine Unheilspropheten. Sie erkennen im kleinen Kind in der Krippe den kommenden Retter. Und sie erkennen im kommenden Retter das kleine Kind. Es will von der Geburt bis zum Erlöser in den Wolken zeigen, wie die Gnade Gottes mitten in der von Schrecken heimgesuchten Welt aufscheint.

Und das tröstet. Trotzdem ist die Krippe kein Idyll. Und der Erlöser in den Wolken will mehr als eine bessere Welt schaffen, die die Politiker nicht gestalten konnten. Advent bedeutet: Gott macht sich sichtbar. Er zeigt sich den Menschen. Er zeigt sich den Menschen in einem kleinen Kind. Dieses kleine Kind ist die große Hoffnung, Gottes Antwort auf die Schrecken dieser Welt. In diesem Kind sagt Gott: Ich erlöse euch von dem Bösen.

Heute ist der zweite Advent. Wir warten auf Weihnachten, an dem wir die Geburt des kleines Kindes feiern. In ihm hat sich Gott gezeigt hat wie in keinem anderen Menschen. Seine Geburt, nicht die Superkraft des Menschensohns bringt den Kosmos ins Wanken. Mit dem ersten Atemzug dieses Babys beginnt unscheinbar und zärtlich die Erlösung.

Und der Friede Gottes übertrifft all unsere Befürchtungen und Schrecken. Er wächst aus einer schlichten Geburt. Er bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Nachbemerkung:

Ian McEwan, Was wir nicht wissen können, Zürich: Diogenes Verlag 2025, Leseprobe. Wachsamkeit im christlichen Sinn bedeutet Warten und Nüchternheit, Sachlichkeit. Mit dem Begriff der Sachlichkeit habe ich mich in folgendem neuen Aufsatz beschäftigt: Sachlichkeit. Eine Beschwörungsformel der protestantischen Verhaltenslehren, tà katoptrizómena, H.6., Nr. 158, 2025, https://theomag.de/158/PDF/wv104.pdf.

Prof. Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).