Lukas 21,25-33
07. Dezember 2025, 2. Advent | Himmelsworte | Predigt zu Lukas 21,25-33 | verfasst von Thomas Muggli-Stokholm
Wenn ich auf Wanderungen Pause mache, schaue ich gerne dem Spiel der Wolken zu. Ich bin fasziniert über ihre vielfältigen Formen, die sich ständig verändern. Ich staune, wie sie sich kilometerhoch in die Stratosphäre türmen, weit höher als der Mount Everest. Wolken regen meine Phantasie an: Ich entdecke bizarre Fabeltiere, Riesen und Monster. Und ich entschwebe auf imaginäre Reisen mitten durch diese Pracht.
Wolken sind und bleiben auch ein wichtiges Forschungsthema, insbesondere in Bezug auf das Wetter und die Veränderung des Klimas. Trotz aller Anstrengungen sind ihre Geheimnisse
noch längst nicht entschlüsselt. Ihr Innenleben ist von so vielen Faktoren bestimmt, dass ihre genaue Form und Beschaffenheit kaum je vorhergesagt werden können.
Und Wolken spielen in der Bibel eine zentrale Rolle. In entscheidenden Momenten sind sie untrennbar mit der Offenbarung Gottes verknüpft: Gott geht dem Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten in einer Wolkensäule voran. Bei der Übergabe des Gesetzes am Berg Sinai redet er aus einer Wolke zum Volk. In einer Wolke schwebt er über der Stiftshütte mit der Bundeslade. Bei der Verklärung von Jesus spricht Gott aus einer Wolke
und erklärt den Jüngern: „Dies ist mein geliebter Sohn. Auf ihn sollt ihr hören.“
So steht Jesus in einer langen Tradition, wenn er in unserem Predigttext verheisst, dass der Menschensohn auf einer Wolke kommen wird, mit grosser Macht und Herrlichkeit. Jesus zitiert aus dem Buch des Propheten Daniel, das im siebten Kapitel das Weltende beschreibt.
Der Menschensohn ist der Messias, der nach dem grossen Endgericht die ewige Herrschaft übernimmt. Jesus bezieht diese Prophezeiung zwar auf sich. Am wichtigsten ist ihm aber der Trost für die Seinen. Ihnen sagt er zu: «Wenn aber das zu geschehen beginnt, richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung naht.»
Die Wolken mit all ihren Formen, unerreichbar, geheimnisvoll, Quelle von Phantasien und Sehnsüchten – und jetzt mitten drin der Menschensohn, der aufstrahlt wie die Sonne am Mittag, der seine Macht und Herrlichkeit offenbart, Frieden, Gerechtigkeit und Erlösung schafft. Welch schöne und verheissungsvolle Vision! Wir atmen durch. Wir richten uns auf,
erheben die Häupter und schreiten mutig und voller Hoffnung in die Zukunft.
Tun wir das?
Jetzt, Ende November, habe ich schon vom Wetter her wenig Anlass, staunend in den Himmel zu blicken. Zu dominant sind die Wolken. Und für uns arme Kreaturen, die im Mittelland leben müssen, ist es besonders bitter: Kommt einmal gutes Wetter auf, bildet sich rasch Hochnebel, eine graue Wolkendecke, die weniger fasziniert als bedrückt. Dazu passt der Anfang unseres Textes. Was Jesus da sagt, könnte ein Zitat aus einem Kommentar zur aktuellen Weltlage sein: «Es werden Zeichen erscheinen an Sonne und Mond und Sternen
und auf Erden ein Bangen unter den Völkern, die weder ein noch aus wissen vor dem Tosen und Wogen des Meeres. Und den Menschen schwindet das Leben vor Furcht und in banger Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen. Denn die Himmelskräfte werden erschüttert werden.»
Die Zeichen stehen auf Sturm: Die Weltlage ist chaotisch, die Herausforderungen und Probleme vielfältig und riesig: Kriege, Verschiebung der Machtblöcke, Zerstörung der Natur,
die rasante Entwicklung der KI mit ihren unabsehbaren Folgen, die Macht der Tech-Konzerne, die Ohnmacht der Politik. Viele verzichten unterdessen darauf, sich regelmässig über Aktuelles zu informieren, weil all die schlechten Nachrichten sie zu sehr belasten. Die Versuchung ist gross, sich von der garstigen Welt abzuwenden, den Blick zu erheben und sich im Staunen über das Spiel der Wolken zu verlieren. Riesig ist der Gegensatz zwischen dem Anfang unseres Predigttextes mit seiner nüchternen Beschreibung des desolaten Weltzustands und der Verheissung vom Menschensohn voll Macht und Herrlichkeit in den Wolken. Es fällt schwer, zwischen Realität und Verheissung zu vermitteln.
Genau vor dieser Schwierigkeit stehe ich stets neu beim Verfassen meiner Predigten: Wie vermittle ich die Hoffnung, die uns mit Jesus Christus, seinem Leben, seinem Sterben, seiner Auferstehung und seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten geschenkt ist? Wie vermittle ich diese Hoffnung mir und meinen Mitmenschen, die ihr Leben in einer Welt mit rasant zunehmenden Herausforderungen und Problemen meistern müssen?
Jesus hilft uns auf die Sprünge: Glaube und Vertrauen heisst bei ihm nicht, dass wir uns in wolkigen Fantasien verlieren. Er richtet unseren Blick im dritten Abschnitt unseres Textes auf den Boden zurück, mitten in die Welt und macht uns aufmerksam auf ein Wunder, das sich so zuverlässig wiederholt, dass es für uns selbstverständlich geworden ist: Seht den Feigenbaum und alle anderen Bäume! Wenn sie ausschlagen, und ihr seht es, wisst ihr von selbst, dass der Sommer schon nahe ist.
Weist Jesus zu Beginn auf Zeichen des Todes hin, richtet er unsere Aufmerksamkeit nun auf die Zeichen des Lebens, mitten in der Welt, in unserer nächsten Umgebung. Und es ist so:
Hätten wir es nie erfahren, würden wir die Leute für verrückt erklären, die uns weismachen wollen, dass die Bäume und Sträucher, welche jetzt dastehen wie Skelette, trostlos, kahl und leer, dass diese toten Gebilde schon in wenigen Monaten wieder in allen Grüntönen ausschlagen, dass die ganze Natur nach der Winterstarre in üppiger Pracht aufersteht. Die menschliche Vernunft will uns einreden, dass so etwas unmöglich ist. Das Vertrauen hält dem entgegen, dass nichts so gewiss ist wie der nächste Frühling.
Zeichen des Todes, Zeichen des Lebens. Zeichen spielen in der Weihnachtsgeschichte eine wichtige Rolle: Der Engel verkündigt den Hirten in der Heiligen Nacht, dass heute der Retter geboren worden ist, der Messias, der Herr der Welt. Und er fährt fort: «Dies sei euch das Zeichen: Ihr werdet ein neugeborenes Kind finden, das in Windeln gewickelt ist und in einer Futterkrippe liegt.» (Lk 2,12)
An Weihnachten verbindet sich das Grosse mit dem Kleinen: Der Menschensohn, der Messias, der am Ende der Zeiten mit grosser Macht und Herrlichkeit auf einer Wolke erscheint, liegt als Kind in der Krippe. Er muss von Maria und Josef gefüttert und gewickelt werden.
Unser Predigttext ist ein Ausschnitt aus der letzten Rede von Jesus an seine Jüngerinnen und Jünger, quasi sein Vermächtnis: Es stehen harte Zeiten bevor. Mit seiner Kreuzigung werden alle menschlichen Hoffnungen auf seine Macht und Grösse über den Haufen geworfen. Jesus mahnt die Seinen darum in seiner letzten Rede wiederholt zur Wachsamkeit. Sie sollen ihre Augen und Ohren offenhalten, damit sie zwischen Zeichen des Todes und den Zeichen des Lebens unterscheiden können. Sie aber verstehen nichts von diesen Worten. Zu sehr sind sie in wolkigen Träumen von Macht und Grösse befangen. Ja, sie malen sich bis kurz vor dem Ende aus, welchen Chefposten ihnen Jesus in seiner Regierung geben wird, wenn er alle Feinde besiegt und seine Herrschaft aufgerichtet hat. Und so werden ihn die, welche ihm jetzt noch zujubeln und ewige Treue versprechen, verleumden und verlassen.
Mindestens in Europa sind die Verhältnisse für uns Christinnen und Christen heutzutage ähnlich kritisch. Die Mitglieder laufen uns davon. In einer zunehmend multireligiösen Gesellschaft sind wir nur noch ein Anbieter unter vielen. Wir können reagieren wie damals die Jüngerinnen und Jünger, die Augen vor der Wirklichkeit verschliessen und uns in wolkigen Träumen nach einem besseren Jenseits, wo ein Chefposten auf uns wartet, verlieren. Oder wir können kämpfen und zu retten versuchen, was noch zu retten ist. Wir legen dann den Fokus auf die guten Dienste der Kirchen, die Seelsorge und die Diakonie. Wir werben bei staatlichen und privaten Stellen um Unterstützung dafür. Das ist sicher nicht falsch. Doch die unabdingbare Voraussetzung für alles, was immer wir auch tun, ist das Hören auf das, was Jesus uns als Vermächtnis mit auf den Weg gibt:
«Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen,» stellt er unmissverständlich fest. Der Advent ist ursprünglich eigentlich eine Zeit der Busse, der Umkehr und des Fastens: Um offen zu werden für das Wunder der Weihnacht, müssen wir uns befreien von unseren Träumen und Illusionen. In diesem Licht erweisen sich schwierige Zeiten als Chance: Viele Jahrhunderte lang waren die Kirchen ein Teil der staatlichen Herrschaft. Ihre Führenden sassen in Palästen und bestimmten von oben herab, was die Menschen zu glauben und zu tun haben. Das ist vorbei. Jetzt ist die Zeit gekommen, die Paläste zu verlassen und aufs Feld zurückzukehren, dahin, wo die Hirten sind, die weltlich gesehen nichts zu bieten haben, keine Macht und keinen Reichtum. Mit ihnen können wir uns neu öffnen für das Zeichen des Messias, des Retters und Erlösers: Das Kind in der Krippe, wehrlos, in Windeln gewickelt, oft schreiend, weil es Hunger hat.
Hier kommt es uns entgegen und scheint auf, das Licht der Welt, hier und nicht in den Palästen der Mächtigen und den Villen der Reichen. Tun wir Busse, freudige Busse, lassen wir das Jammern über verlorene Grösse, die Vorwürfe an die Kirchenleitungen und uns selbst, dass wir zu wenig attraktiv sind, zu wenig sexy und trendy für den modernen Menschen. Stehen wir zu unserer Schwäche und Leere, dann kann Gott sie füllen mit seinem Segen. Wenn wir ruhig werden, still und leise, dann hören, sehen und spüren wir, wie nahe Gottes Reich ist. Wir lassen uns berühren vom Kind in der Krippe.
Seine Schwäche und Zartheit weckt das Wertvollste in uns: Anteilnahme, Barmherzigkeit, Fürsorge, unaussprechliche Liebe.
«Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.»
Das Kind in der Krippe schenkt uns das, was wir uns niemals selbst geben können: Vertrauen, Liebe, Hoffnung. Das ist der unermessliche Schatz, der für nun bleibt, wie Paulus im 1. Korintherbrief schreibt. Und es ist das, was aus dem Jenseits ins Diesseits ragt, das, was am Ende der Zeit vollendet wird, dann, wenn der Menschensohn auf der Wolke erscheint,
in Macht und Herrlichkeit.
Himmel und Erde vergehen. Die knallharte Analyse zu Beginn unseres Textes beschreibt keine Ausnahmesituation. Nüchtern betrachtet ist unser Dasein immer zum Fürchten, weil es zuletzt keine Zukunft hat, die über die paar Jahrzehnte hinausgeht, welche wir hier verbringen. Angesichts des Todes, der uns alle erwartet, wissen wir nicht aus noch ein
und aller Mut entschwindet uns wie nichts. Die Worte Jesu aber bleiben. Denn es sind Himmelsworte, die uns die Gottes Liebe und Vergebung zusagen. Was der Menschensohn auf der Wolke einmal zum Ziel führen wird, können wir jetzt schon üben: Gerechtigkeit, gegenseitige Wertschätzung, Liebe und Zärtlichkeit. Wenn wir uns dabei klein fühlen,
weil wir immer wieder an unseren Grenzen scheitern, können wir uns dem Kind in der Krippe zuwenden: Gott selbst beginnt sein Werk nicht mit grossartigen Analysen, Konzepten und nebulösen Utopien, sondern ganz konkret im Kleinen. Gerade darum hat dieses Werk eine grosse Zukunft. Und diese Zukunft beginnt mit jedem guten Wort und jeder liebevollen Geste, die wir einander hier und jetzt zukommen lassen. Amen.