Lukas 2,25-40

· by predigten · in 03) Lukas / Luke, 1. So. n. Christfest, Aktuelle (de), Aus dem Dänischen, Beitragende, Bibel, Deutsch, Kapitel 02 / Chapter 02, Kasus, Neues Testament, Predigten / Sermons, Rasmus H.C. Dreyer

1.Sonntag nach Weihnachten |29.12.24 | Lk 2,25-40 (dänische Perikopenordnung) | Von Rasmus H.C. Dreyer |

„Jedes Leiden oder jede Trauer sind zu ertragen, wenn sie nur in eine Geschichte kommen“.

Am Heiligen Abend gegen Mitternacht sind die Strapazen mit Festmahl, Tanz um den Weihnachtsbaum und Geschenken überstanden. Auch wenn viele die Weihnachtsgeschichte in der Kirche am Nachmittag gehört haben, vielleicht auch am Weihnachtstisch gelesen haben, ja dann setzen wir uns dennoch zurecht im Sofa, um Heiligabend mit der Mitternachtsmesse aus der Peterskirche in Rom zu sehen. Hier ist ein guter Anlass, sich an dem päpstlichen Pomp und Pracht zu ärgern.

Ich erinnere mich daran, als der Papst Franziskus zum ersten Mal die Mittagsmesse feierte. Presse und Medienkommentator erwarteten entscheidend Neues vom Papst, der als lebendiger Prediger galt. „Vielleicht wird er sich nach vorn lehnen, sich vom Manuskript lösen und direkt zu den Leuten sprechen“, hoffte man vorsichtig seitens des dänischen Kommentators. Aber nein, der neue Mann auf dem Stuhl Petri predigte trocken und langweilig, gebunden an zahlreiche pastorale Floskeln über Weihnachten. So erinnere ich mich jedenfalls. Die Botschaften waren zwar wahr, aber nur wenig bewegend. Eberhard Jüngel, einer der großen Theologen unserer Zeit (also ein Theologe aus unserer eigenen kirchlichen Richtung), hat sehr wahr gesagt: Gott ist nicht ein langweiliger, sondern ein barmherziger Gott. Deshalb soll eine Predigt nie langweilig sein, sondern barmherzig.

Papst Franziskus ist ja bekannt für seinen jovialen und wenig pompösen Stil. Er fährt in einem kleinen gewöhnlichen Auto umher und nicht in dem päpstlichen Mercedes, trägt weder Papstkrone, rote Papstschuhe oder große Gewänder. Er kommt sanftmütig, ganz in weiß. Er war früher Fürsprecher für die Sache der Armen in Südamerika, und der Name des Papstes erinnert an den bedeutendsten katholischen Heiligen für die Armen, Franz von Assisi. Und es ist wahr, die Botschaft der Weihnacht galt vor allem den Armen und Ausgestoßenen, der Hirten auf dem Felde damals in Bethlehem.

Den Kontrast zur armen Geburt Jesu in die Welt finden wir heute. Josef und Maria gehen in den großen Tempel in Jerusalem, um ihr besonderes Kind darzustellen. Wenn wir diese übersehene Erzählung an diesem übersehenen Sonntag nach Weihnachten sehen, sollten wir eigentlich gerne spüren, worum es in der Weihnacht in Bethlehem ging. Das war die große Wende für die Menschheit – nicht weniger. Weihnachten teilt die Geschichte in ein Vorher und ein Nachher.  Und mitten in diesem Vorher und Nachher steht Jesus, der Knabe, der etwas Besonderes ist. Etwas, was zunächst nur Maria weiß, was den Hirten verkündigt wird – und was der alte Simeon und die alte Anna im Tempel sofort erkennen müssen: Hier ist Gottes Sohn, der Messias – Immanuel, der Knabe, der bedeutet, dass Gott bei uns und mit uns ist. Dieser Knabe wurde das Schicksal Marias, das Schicksal Simeons, ganz Israel und damit alle Nachfolger zum Gottesvolk – wir nennen es Kirche- hier auf Erden.

Der Bericht dieses Tages ist trotz der großen Worte sehr bescheiden. Josef und Maria nehmen ihren neugeborenen Sohn mit in den Tempel in Jerusalem, um ihn dem Herrn darzustellen. Das ist ein Teil des Gesetzes. Als Ausdruck der Dankbarkeit nach der Geburt sollte auch etwas geopfert werden, und für arme Leute waren das normal ein paar Tauben. Hier kommen sie also, Josef und Maria, mit ihrem kleinen Jungen auf dem Arm, mitten in der großen Menschenmenge auf dem Tempelplatz. Und plötzlich erscheinen zwei alte Menschen, Simeon und Anna. Wie sie etwas besonderes sehen konnten an der kleinen Familie, das wissen wir nicht. Auf ihren Köpfen hatten sie ja keine Glorie, das hat die Kunst in der Malerei später hinzugefügt. Nein, es geht um die eine Frage nach etwas ganz Besonderem – eine prophetische Gabe. Wir hörten ja, dass der Heilige Geist über Simeon kam und dass Anna Prophetin genannt wurde. Propheten und Prophetinnen haben eben die Gabe, das sehen zu können, was andere nicht sehen. Sie sehen klar, wo andere blind sind.

Hier stehen sie also – Simeon und Anna – und gehen direkt hin zu dem Kind. Anna bricht aus im Lobpreis und spricht über das Kind zu denen, die um sie herumstehen. Und Simeon nimmt das Kind in seine Arme und sagt die großen Worte: „Siehe, dieses Kind ist dazu bestimmt, dass viele in Israel fallen und viele aufstehen“. Man beachte, dass Israel hier das Volk bedeutet, das Gott gehört. Auch wir sind ein geistliches Israel, das Volk, das Gott folgt.

Könnt ihr aber merken worauf diese Erzählung hinauswill? Simeon und Anna repräsentieren die Zeit vor Christus. Alt und verschlissen sind sie, ihre Zeit ist bald abgelaufen. Aber sie erhalten die besondere Gnade, etwas Neues zu erblicken – ihn, der für immer die Welt verändern wird. Sie sehen die Erfüllung von Gottes Verheißung dort in einem kleinen Kind liegen. Und dann machen sie nur eins, sie ehren Gott und beten ihn an. Zugleich erzählen sie uns etwas Tiefes von dem, was dieses Kind bedeutet. Deshalb sagt Simeon: „Dieses Kind ist dazu bestimmt, dass viele in Israel fallen und viele aufstehen“. Da ist etwas Entscheidendes, das alle erkennen müssen, die Jesus begegnen: Weinachten geht es um ein Entweder-Oder.

Damit habe ich auch gesagt, dass die Welt mit Jesus nicht sogleich zu einem mehr gerechten Ort wird. Denkt nur an die Erzählung, die auch zu Weihnachten gehört – und die in diesem Jahr in dem neuen Netflix-Film von Maria, der Mutter Jesu, aktualisiert wurde. Der Film heißt einfach „Mary“. Aber hier wird uns erzählt, wie König Herodes Jesus nachstellte. Er lässt alle Kinder männlichen Geschlechts umbringen, weil er gehört hat, dass ein König geboren ist. Und ein Diktator duldet bekanntlich nie Konkurrenz, und schon gar nicht geistlichen Widerspruch. Denn Jesus wurde auch geboren für die physisch Armen und Verlorenen, was wir gerade sehen in der Fortsetzung der Weihnachtsgeschichte im Matthäusevangelium.

Søren Kierkegaard macht darauf aufmerksam. In seiner Bibel notiert er gerade zum Bericht über den Kindermord von Bethlehem, den Herodes nach der Geburt Jesu befiehlt, dass dies das „Gegenstück zum Gesang der Engel“ ist, wo sie singen: „Wir verkündigen euch große Freude“. Der Heiland der Welt wird auch „mit Schmerzen und Schreien“ geboren. Und darin hatte Kierkegaard ja ganz Recht: Jesus wurde geboren in Schmerzen von einer Frau in einer Welt, die uns Menschen immer schmerzt.

Deshalb hat Weihnachten nie nur den Klang von Engeln. Es genügt nicht zu sagen, dass mit der Geburt Jesu eine große Freude zu allen Menschen, reich und arm, gekommen ist. Weinachten ist nicht nur Gemütlichkeit, es ist auch Leid, Schmerz und Enttäuschung.  Wenn man die ganze Erzählung von Advent bis Weihnachten mitnimmt: Die Adventszeit, wo Johannes im Gefängnis und am Messias zweifelt, Maria, die heimlich mit Schmerzen in einem Stall ein Kind gebiert, der zweite Weihnachtstag, Sankt Stephans Tag, wo Stephanus als einer der ersten Christen gesteinigt wird wegen seines Glaubens an das Christus-Kind. Simeon, der blinde Prophet, der erst alt und gebrechlich heute den Messias sehen darf. An dem Tag, wo wir nach der zweiten Reihe der Lesungen von der Menschenjagd des Herodes auf die unschuldigen männlichen Kinder in Bethlehem hören. Kinder, die getötet werden aus Angst vor dem Verlust der Macht.

Das war es wohl auch, was Kierkegaard als Wahrheit notierte: Der Heiland der Welt wird in Schmerzen und Schreien geboren.  Denn das Einzige, was wir eigentlich in dieser Geschichte hören, ist das Leid der Mütter über ihre Kinder. Es macht Sinn, dass die Mütter wie im Rama des Alten Testaments geschrien haben; untröstlich haben sie geweint: „Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen“, wie das steht mit einem Zitat aus dem Alten Testament im Bricht über den Kindermord.

Im Rest ihres Lebens werden die Mütter um die Gräber ihrer Kinder kreisen. Und auch wenn etwas besonders Lebensbejahendes darin liegt, dass wir einander so sehr lieben, dass wir untröstlich sind, wenn wir einen Verlust erleiden, weil wir die Liebe nicht verleugnen wollen, um der Trauer zu entfliehen, so meldet sich da immer die Frage: Was sollen wir dem sagen, der trauert? Und was sollen wir einer Mutter sagen, die ihr Kind verloren hat? Was wagen wir überhaupt zu sagen? Welchen Trost können wir geben? Warum mussten die Kinder sterben, während Jesus leben durfte?

Eine Pastorin, die ihren Sohn verlor, erzählte, dass ein großer Trost darin lag, im Untröstlichen akzeptiert zu werden, dass andere nicht von ihr forderten, weiter zu kommen. Eine ältere Frau, die selbst ihr Kind vor vielen Jahren verloren hatte, kam zu ihr und sagt: „Die zehn ersten Jahre sind die schlimmsten, aber es vergeht kein einziger Tag, ohne dass ich an meinen Sohn denke“. Die Trauer verschwindet nicht einfach, sie verändert vielleicht nur ihren Ausdruck.

Das Alte Testament kennt viele grausame Geschichten von Kindern, die sterben. Das tut unsere Zeit auch. Das tut unser Jahr 2024 auch. Sogar in den Gebieten, wo Jesus selbst gelebt hat. Gehen wir in der Zeit länger zurück, so kannte man im alten Israel auch den Schmerz in der Trauer. Eine der am schlimmsten Betroffenen war Hiob, der von Gott und dem Satan auf die Probe gestellt wurde. Er verlor alle seine Söhne und Töchter in einem Wüstensturm, der sein Haus umwehte, so dass es über ihnen zusammenstürzte. Aber später ging es Hiob besser, er bekam sieben neue Söhne und drei neue Töchter, aber das änderte dennoch nichts an dem Tod der ersten Kinder. Neue Kinder ersetzen nicht die toten Kinder. Jedes Kind ist unersetzlich, Hiobs Kinder, Rahels Kinder, Bethlehem, Israels, Gazas, Ukraines Kinder. Jedes Kind.

Und auch wenn wir nicht alle das Gefühl kennen, die ganz große Trauer selbst, so können wir uns noch daran erinnern, dass Bethlehems Kinder Teil einer größeren Geschichte waren. Das entfernt nicht die Trauer der Mütter der getöteten Kinder oder macht das gar verständlich, aber es zeigt uns, dass Trauer und Leid mit der Zeit ertragen werden können, wenn sie Teil einer Geschichte werden. Mit anderen Worten: Dass es Sinn macht.

Eben dies war es, was Karen Blixen einmal in einem Gespräch sagte: „Jedes Leiden oder jede Trauer sind zu ertragen, wenn sie nur in eine Geschichte kommen“. Eben dies will das Evangelium uns heute sagen. Es will eine Geschichte zur Verfügung stellen, die man bis zum Schluss gelesen haben muss, um die Leidensgeschichte Jesu kennenzulernen. Bis hin zum unfassbaren Punkt von Ostern ist da Raum für die Trauer und Klage von Menschen und Müttern, und auch hier können wir hingehen und Trost finden. Viele von uns Tragen das Kreuz, aber Gotte trägt das schwerste Kreuz für uns. Die Leiden der Frauen haben Teil, am Leiden Jesu, das in Gottes Leiden eingeht. Die Trauer hört damit nicht auf, sie wird in immer größeren Lebensräumen getragen: In mir, in Jesus, in Gott.

Da ist unsere Geschichte, die Leidensgeschichte zu allen Zeiten für alle Menschen. Dann ist da die Geschichte Jesu zu Weihnachten, von Vertreibung, Schmerz und Todesdrohungen, Flucht und Heimkehr in ein ungewisses Schicksal in neuer Umgebung in Nazareth. Es wird schließlich auch eine Geschichte, die von einer Mutter handelt, die ihr Kind verliert. Maria mit dem toten Jesus auf ihrem Schoß. Jesu Tod für uns, wo er Schmerz und Leiden auf sich nahm, um an dieser Stelle Hoffnung und Glauben zu schaffen. Das verweist uns an die souveräne Geschichte Gottes mit uns allen. Denn Jesus gibt allem Leiden, Schmerz und Tod eine Bedeutung, weil er sie auch spürt.  Sie gilt auch für ihn, und er nimmt sie mit sich und auf sich, um es zu überwinden.

Ich glaube, das war das Entscheidende, was Simeon und Anna spürten, als Maria und Josef Jesus in den Tempel brachten.

Weinachten ist noch immer ein Fest der Freude. Aber das wird immer noch erzählt. Amen.

Rasmus H.C. Dreyer, phd, Dozent

Predigerseminar Aarhus

Hatting/Horsens

Email: rahd(at)km.dk