Lukas 6, 36-42

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Muss ich alle Menschen mögen? | 4. Sonntag nach Trinitatis | 13.07.2025 | Lukas 6, 36-42 | Sarah Bach |

Lesung vor der Predigt:

«Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt. Lasst frei, und ihr werdet freigelassen werden! Gebt, und es wird euch gegeben werden: ein gutes, festgedrücktes, gerütteltes und übervolles Mass wird man euch in den Schoss schütten. Denn mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden. Er gab ihnen auch ein Gleichnis: Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen? Kein Jünger steht über dem Meister. Jeder aber wird, wenn er ausgebildet ist, sein wie sein Meister. Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken im eigenen Auge aber nimmst du nicht wahr? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, komm, ich will den Splitter in deinem Auge herausziehen, während du den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann wirst du klar genug sehen, um den Splitter im Auge deines Bruders herauszuziehen.»

Lukas 6, 36-42, nach der Zürcher Bibel

Predigt:

In unseren christlichen Gemeinden wird viel über Nächstenliebe gesprochen – und das ist gut so. Wir fragen uns, wie wir diese Liebe im Alltag konkret leben können. Doch immer wieder begegnet mir als Pfarrerin in persönlichen Gesprächen auch eine Frage, die selten öffentlich gestellt wird. Sie scheint fast ein Tabuthema zu sein:

„Muss ich wirklich alle Menschen mögen?“

Gerade bei solchen Fragen, in denen unser Glaube mit dem echten Leben konfrontiert wird, sind mir zwei Dinge besonders wichtig:
Zum einen möchte ich die Realität unseres menschlichen Lebens ernst nehmen – unsere Erfahrungen, unsere Grenzen, und auch das, was wir in den letzten Jahren dazugelernt haben.
Zum anderen möchte ich aber auch den Anspruch ernst nehmen, den Gott an unser Leben stellt – die Gebote, die uns herausfordern und die unser Leben vertiefen wollen.

Und genau hier geraten wir oft in eine Spannung. Es gibt keine einfachen Antworten – und wir sind eingeladen, uns dieser Spannung zu stellen.

Bei der eben erwähnten Frage treffen nun Anspruch und Realität aufeinander.
Gott gebietet uns, alle Menschen zu lieben – ja, sogar unsere Feinde.

Und doch: Wenn ich ehrlich bin, ich mag nicht alle Menschen. Es gibt Personen, mit denen würde ich keinen Abend verbringen wollen, geschweige denn in den Urlaub fahren – nicht einmal, wenn sie ebenfalls Christinnen oder Christen sind.
Ist das schlimm?

Ich glaube: Nein.
Denn es gibt einen Unterschied zwischen lieben und mögen.

Ich bin überzeugt, dass Jesus nicht von uns erwartet, dass wir mit allen Menschen sympathisieren, auf einer Wellenlänge sind oder dieselben Interessen teilen.

Die Liebe, von der Jesus spricht, geht viel tiefer.
Er fordert uns auf, Menschen zu lieben – selbst dann, wenn wir sie vielleicht nicht mögen. Und das ist tatsächlich möglich.

Oft denken wir, Liebe müsse mit Sympathie oder romantischen Gefühlen zu tun haben. Aber das ist nicht die Liebe, die im Liebesgebot gemeint ist. Jesu Liebe ist eine bewusste, aktive Haltung dem anderen Menschen gegenüber – unabhängig davon, ob wir ihn sympathisch finden.

Die Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Maren Urner hat das in ihrem Buch zur Kraft der Emotionen wunderbar zusammengefasst:

«Wichtig ist mir zunächst, Liebe nicht auf die romantische Liebe zu begrenzen oder gar zu reduzieren. Gerade im deutschen Sprachgebrauch ist das häufig der Fall, und die drei wichtigsten Wörter »Ich liebe dich« sind meist exklusiv für den:die Partner:in gedacht. Im angelsächsischen Raum dagegen rufen sich durchaus auch mal Kumpels und Kollegen nach dem Training oder dem gemeinsamen Abend »Love you, man!« zu, ohne dass das in irgendeiner Weise sexuell konnotiert ist. Beschränken wir Liebe auf eine Form und die damit verbundene Beziehung, schränkt das unsere Möglichkeit der emotionalen Verbindung zu anderen stark ein. Statt nun unterschiedliche Formen der Liebe in einer Art Nomenklatur aufzuführen und dann verschiedene Definitionen gegeneinanderzustellen, frage ich stattdessen: Wo beginnt Liebe?

Oder anders formuliert: Was ist die Basis von Liebe? Der Kern, auf den wir uns im besten Fall einigen können? Mir gefällt in diesem Kontext die Annäherung des 2022 verstorbenen vietnamesischen buddhistischen Mönchs und Friedensaktivisten Thich Nhat Hanh. Für ihn bedeutet zu lieben, sein Gegenüber verstehen zu wollen. Liebe ist also immer aktiv und ein Prozess, kein Zustand. Er beginnt mit der Akzeptanz. Und die wiederum beginnt bei mir selbst.»[1]

Jemanden zu lieben bedeutet: Ich wünsche diesem Menschen ein gutes, gelingendes Leben – und ich bin bereit, meinen Teil dazu beizutragen, dass es möglich wird.
Dazu müssen wir nicht derselben Meinung sein. Wir müssen nicht über dieselben Dinge lachen oder dieselben Interessen teilen.

Und doch kann ich diesen Menschen als Mensch sehen, ihn verstehen wollen – und das tun, was in meiner Kraft steht, damit es ihm gut geht.

Schauen wir uns den biblischen Text aus der Lesung nochmals genauer an.

In Lukas 6, 36-38 heisst es:

«Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt. Lasst frei, und ihr werdet freigelassen werden! Gebt, und es wird euch gegeben werden: ein gutes, festgedrücktes, gerütteltes und übervolles Mass wird man euch in den Schoss schütten. Denn mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden.»

Das ist ein ziemlich klarer Auftrag:
Wir sollen barmherzig sein – so wie Gott barmherzig ist. Unsere Haltung und unser Handeln sollen etwas von seiner Barmherzigkeit in diese Welt hinein spiegeln.

In den Worten Jesu wird ganz konkret, was das bedeutet:
Wir sollen andere nicht verurteilen. Wir sollen verzeihen, wo Fehler geschehen. Und wir sollen großzügig mit dem umgehen, was uns geschenkt wurde – mit unserer Zeit, unseren Fähigkeiten, unseren materiellen Gaben.

So sollen wir mit unseren Mitmenschen umgehen.
So zeigt sich gelebte Nächstenliebe.

Das heißt nicht, dass ich alle Menschen mögen muss.
Aber das Ziel ist: sie alle lieben zu können.

Und genau da wird es herausfordernd.

Hier holt uns die Realität wieder ein – mit all ihren Spannungen, Brüchen, Grenzen.

Was also kann uns helfen, Anspruch und Wirklichkeit zusammenzubringen – und beides ernst zu nehmen?

Vielleicht kommt Hilfe genau von dort, wo wir sie nicht sofort erwarten würden: aus der Wissenschaft, genauer gesagt aus den Neurowissenschaften.

Dort wird aktuell viel darüber geforscht, was es eigentlich bedeutet zu lieben – als Haltung, als inneres Geschehen, als Lebensweise.
Und spannend ist: Viele Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Lieben lernbar ist.

Natürlich ist Liebe auch ein Gefühl – aber Gefühle stehen nicht isoliert für sich. Sie hängen mit unserem Denken, unserem Verhalten und unserer inneren Haltung zusammen.

Jesus scheint das längst gewusst zu haben.
Denn: Er hätte kein Gebot formuliert, wenn es sich dabei um etwas handeln würde, das wir nicht beeinflussen oder einüben könnten.
Ein Gebot macht nur Sinn, wenn das, worum es geht, auch Teil unseres bewussten Handelns werden kann.

Wie können wir nun also «lieben lernen»? Wie sieht das konkret aus?

Ich zitiere hier nochmals Maren Urner, unsere Neurowissenschaftlerin von vorhin:

«Mit meiner besten Freundin habe ich ein Gedankenexperiment entwickelt, bei dem wir uns vorstellen, wie es ist, eine andere Person zu sein. Diese Routine kommt vor allem dann zum Einsatz, wenn wir versuchen zu verstehen, warum ein Gegenüber so handelt, wie sie oder er es tut – vor allem, wenn die Handlung aus unserer Sicht sehr weit entfernt von unseren Vorstellungen und möglichen Reaktionen erscheint. Weil uns das Verhalten der anderen Person vielleicht sogar »irrational« vorkommt. Wir stellen uns dann vor, welche Sorgen und Ängste, aber auch welche Hoffnungen und Wünsche die Person haben könnte. So versuchen wir, besser zu verstehen, was ein guter und was ein schlechter Zustand für sie oder ihn wohl sein mag. Diese Übung hilft uns, die vermeintliche Irrationalität im Handeln anderer aufzulösen. Wenn es gut läuft, kommen wir bei so etwas an wie: »Aus ihrer Perspektive ist genau diese Reaktion jetzt sinnvoll!« Und auch wenn wir niemals selbst so handeln würden, hat uns die kleine Routine sicherlich bereits das ein oder andere Mal zu einem verständnisvolleren Umgang mit anderen Menschen gebracht. Wer sich ein wenig in der Psychologie auskennt, hat in unserer Übung bestimmt schon das dahinterliegende Konzept der »Theory of Mind«, also »Theorie des Mentalen«, erkannt. Gemeint ist damit die Fähigkeit, sich und anderen mentale Zustände zuzuschreiben und diese als Ursache für das eigene oder fremde Verhalten zu begreifen, um so Handlungen verstehen und antizipieren zu können.»[2]

Das ist spannend – und zugleich auch herausfordernd, besonders in der aktuellen Zeit.
Genau in dieser Spannung bewegen wir uns, wenn wir uns auf Gottes Einladung einlassen: barmherzig zu leben und unsere Nächsten zu lieben. Ich lade euch ein, ein solches Experiment der «Theory of Mind» in den nächsten Tagen mal auszuprobieren, wenn ihr in einer Situation seid, in der ihr ein Gegenüber nicht versteht, unsympathisch findet oder euch nervt. Ich habe dies bereits einige Male versucht und es hat meinen Blick in vielen kleinen Momenten verändert.

Das Schöne – und vielleicht auch das Entscheidende – ist:
Gottes Aufforderungen kommen nie ohne seine Zusagen.

Deshalb lohnt sich der Blick zurück an den Anfang des Textes, den wir heute schon gehört haben:

«Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!» – Lukas 6, 36

Gott selbst ist barmherzig mit uns.
Er liebt uns, versteht uns – sogar dann, wenn wir uns selbst nicht verstehen.
Und er liebt auch die anderen – selbst die, mit denen wir vielleicht Mühe haben.

Darauf dürfen wir vertrauen.
Unsere Liebe entsteht nicht im Leeren. Sie hat ein Fundament: Gottes Liebe zu uns und zu unseren Nächsten.

Wir dürfen Anteil haben an dieser göttlichen Liebe – was für ein Geschenk!

Amen.

Sarah Bach

Bern

sarah.bach@methodisten.ch 

Sarah Bach, geb. 1992, Pfarrerin der Evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz und Doktorandin der Theologischen Ethik am Institut für Sozialethik der Universität Zürich.

[1] Urner, Prof. Dr. Maren. Radikal emotional: Wie Gefühle Politik machen (2024), S. 52.

[2] Urner, Maren. Radikal emotional: Wie Gefühle Politik machen (2024), S. 84.