Lukas 6,27-38

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Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr | 09.11.2025 | Lk 6.27-38 | Sven Keppler |

„Versuche mal das Gegenteil“

I
Donnerstagabend, gegen halb elf. Im Haus ist Ruhe eingekehrt. Ich sitze im Wohnzimmer und lese. Plötzlich höre ich draußen einen dumpfen Knall. Im ersten Moment denke ich: „Da ist wohl eine Mülltonne umgeworfen worden.“ Aber irgendwie klang das anders. Ich gehe zum Fenster. Und tatsächlich: Die gläserne Lutherstele vor unserem Pfarrhaus ist durch und durch gesplittert.

Direkt an der Straße ist niemand zu sehen. Hinten am Marktplatz sind drei junge Männer unterwegs. Aber sie gehen so unaufgeregt, das könnten auch Passanten sein. Ich rufe die Polizei, und die Dinge nehmen ihren Gang.

Liebe Gemeinde, es ist eine ungute Mischung von Gefühlen und Gedanken, die in solch einem Moment in einem aufsteigen. Und das nicht zum ersten Mal. In diesem Jahr sind schon mehrfach Skulpturen in der Innenstadt zerstört worden. Eine Gruppe von befreundeten Künstlerinnen und Künstlern aus unserer Stadt hatte sie gebaut. Ich selbst war auch dabei. Jetzt fühle ich mich hilflos. Und spüre, wie der Zorn in mir hochkocht.

Worte schießen mir durch den Kopf, wie ich die Täter beschimpfen möchte: „Ihr Versager! Alles Schöne müsst Ihr zerstören, weil Ihr selbst nichts hinkriegt im Leben!“ – Ich wünsche diesen Typen, dass sie endlich von der Polizei gefasst werden. Und bin gleichzeitig frustriert, dass die Strafe wohl nur ein paar Sozialstunden wären.

Ich ertappe mich, wie ich ihnen Strafen an den Hals wünsche, die ihnen richtig wehtun. Fahren sie aufgemotzte Autos? Wäre es nicht wunderbar, wenn jemand die so richtig zerkratzen würde? Natürlich erschrecke ich auch über diese Fantasien. Begebe ich mich damit nicht auf dieselbe Stufe wie die Täter? Aber solche Gefühle und Gedanken kommen von selbst, ungefragt…

II
Und jetzt darf ich über die Feindesliebe predigen. Ich lese aus der Feldrede im Lukasevangelium (Lk 6,27-38).

Wer Deine eine Skulptur kaputtschlägt, dem halte auch die andere hin! Tja. Das ist eine Ansage! Wollte Jesus uns überfordern? Wollte er, dass wir unsere Grenzen spüren? Das ich merke: Ich bin wirklich kein Heiliger? Oder fordert er ernsthaft diese Größe von mir? Setzt er mir ein großes Ziel, an dem ich wachsen soll?

Es ist immer das Gegenteil, das ich tun soll. Auf Feindschaft soll ich mit Liebe antworten. Wenn einer mich hasst, dann soll ich im wohltun. Wer mich verflucht, den soll ich segnen. Wer mich beleidigt, für den soll ich bitten. Wenn mich jemand schlägt, soll ich nicht zurückschlagen, sondern mich ihm hinhalten. Und es folgen noch einige Beispiele mehr. Ich glaube, sie werden durch einen ganz bestimmten Gedanken verbunden: Wenn jemand mir etwas Übles antut, dann soll ich nicht genauso antworten.

Das ist ja der Normalfall: Wenn mich Herr X nicht grüßt, dann grüße ich eben nicht zurück. Wenn mir die Nachbarin mir keine Eier borgt, obwohl der Laden zu ist, dann soll sie ein andermal bloß nicht selber ankommen. Und wenn die Amerikaner die Zölle anheben, dann gibt es eben Gegenzölle. Das ist die Logik der Welt. Jesus sagt: Das hilft nicht weiter. So schaukeln sich die Probleme doch immer nur hoch. Das Gute hat keine Chance. Denn sobald einer die Spielregeln bricht, müssen alle immer nur mit Vergeltung antworten. Jesu Einwand ist vollkommen überzeugend. Aber bin ich reif dafür?

III
So richtig erstaunlich werden die Beispiele, wenn jemand mir etwas Gutes tut. Jesus sagt: Es geht nicht darum, dass ich dann auch meinen Wohltätern etwas Gutes tue. Dass ich denen etwas leihe, die mir auch schon einmal etwas geliehen haben. Jesus meint natürlich nicht, dass ich in diesem Fall auch das Gegenteil tun soll. Er fordert mich nicht auf, dass ich mich Leuten gegenüber schlecht verhalte – nur, weil sie mir vorher etwas Gutes getan haben.

Ich vermute, Jesus will auf etwas Anderes hinaus. Er fragt: Wovon machst Du abhängig, wie Du mit einem Menschen umgehst? Reagierst Du darauf, wie er mit Dir umgeht? Oder hast Du einen anderen Maßstab? Und Jesus macht eine klare Ansage: Wie ich mich einem Menschen gegenüber verhalte, das soll nicht davon abhängen, wie er sich mir gegenüber verhält. Wenn der andere mir schadet, soll ich ihm nicht deshalb auch schaden. Und wenn er mir hilft, dann soll ich ihm nicht deshalb helfen.

Verträge funktionieren aber eigentlich genau so. Verträge beschreiben immer einen Tausch. Wenn Du mir etwas gibst, gebe ich Dir auch etwas. Das können ganz unterschiedliche Dinge sein: Wenn Du mir Lebensmittel gibst, bekommst Du von mir Geld dafür. Wenn Du meine Kandidatur unterstützt, mache ich Dich hinterher zum Schatzmeister. Wenn der Iran kein Uran anreichert, gibt es keine Sanktionen. Jesus hat also etwas anderes im Sinn, als eine Vertragspartnerschaft. Er sagt nicht, dass Verträge schlecht sind. Aber ihm geht es um etwas Anderes.

IV
Unser Verhalten soll einen ganz besonderen Maßstab haben. Ich soll mich nicht abhängig machen davon, wie andere sich mir gegenüber verhalten. Sondern ich soll mich an etwas anderem ausrichten. Und Jesus sagt auch ganz klar, woran: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Wir sollen uns Gottes Verhalten zum Vorbild nehmen. Denn Gott macht sich ja auch nicht davon abhängig, wie wir uns ihm gegenüber verhalten. Dann wäre es schlecht um uns bestellt. Sondern Gott entscheidet frei. Egal, was wir tun: Gott entscheidet sich für das Gute. Gott ist treu. Und barmherzig. Und Jesus sagt: Dieser Gott ist Euer Vorbild. Er ist Euer Maßstab.

Jetzt wird auch deutlich, warum der Maßstab von Jesus so herausfordernd ist. In meinen Gefühlen bin ich ganz Mensch. Verflixt nochmal, ich wünsche mir, dass den Vandalen ihr Lieblingsstück zerschlagen wird. Damit sie einmal spüren, wie sich das anfühlt. Ich wünsche mir, dass die Kriegstreiber ihren angehäuften Reichtum verlieren.

Aber Gott erinnert mich daran, dass ich selber nicht unfehlbar bin. Dass ich Gott gegenüber auf Vergebung angewiesen bin. Dass er barmherzig mit mir ist. Jesus ist für mich gestorben. Obwohl ich ihm noch nichts dafür gegeben hatte. Und wo soll es hinführen, wenn auf jedes Verbrechen mit einem Gegenverbrechen geantwortet wird? Auf jede Gewalttat mit Gewalt? Die Welt würde im Blut versinken.

Der 9. November zeigt das wie kein anderer Tag. 1918 wurde die Republik ausgerufen und das Kaiserreich beendet. In den Jahren danach versuchten die Feinde der Republik alles, um ihrerseits die Demokratie zu zerstören. Kein Zufall, dass Hitler fünf Jahre später seinen Putsch versuchte und dass 20 Jahre später, 1938, die Synagogen brannten. Der 9. November 1989 zeigt jedoch, wie es anders geht: Wenn auf Mauern nicht mit Mauern geantwortet wird, sondern wenn Mauern eingerissen werden!

Was würde passieren, wenn man die Zerstörer aus meiner Heimatstadt mal so richtig demütigen würde? Wenn man sie fassen würde und am Marktplatz an den Pranger stellte? Wenn wir sie beschimpfen und bespucken würden? Der Hass in diesen Menschen würde doch nur umso tiefer sitzen! Sie würden sich vielleicht nicht mehr trauen, etwas öffentlich zu zerstören. Aber es würde in ihnen arbeiten, wie sie sich heimlich rächen könnten. Und alles würde nur noch schlimmer!

V
Aber die Gegenfrage muss man stellen: Ist die Forderung von Jesus nicht weltfremd? Überfordert er uns nicht? Weil wir eben nicht das Zeug haben, so wie Gott zu lieben und zu verzeihen? Weil allein schon unsere Emotionen es nicht zulassen? Weil es so weh tut, die andere Wange hinzuhalten!

Jesus ist nicht weltfremd. An einem Punkt wird das ganz deutlich. Es stimmt, er sagt uns: Macht Euch nicht abhängig von Eurem Gegenüber! Lasst Euch stattdessen von der Liebe leiten. Denn ihr werdet selbst von Gott geliebt! Reagiert nicht auf Gleiches mit Gleichem! Aber Jesus weiß genau, dass Menschen normalerweise so handeln. Er setzt sogar voraus, dass sie das auch weiterhin tun werden. Und genau das sollen wir uns zunutze machen.

Denn er setzt darauf, dass Teufelskreise durchbrochen werden können. Wenn Menschen sich barmherzig verhalten, dann wird es auch die entsprechenden Reaktionen geben. Jesus sagt: Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.

Und wenn nicht? Werden die Randalierer wirklich aufhören, wenn man sie nicht demütigt? Wenn das Experiment scheitert, dann gilt weiterhin Jesu Regel: Zahlt nicht mit gleicher Münze zurück. Denn Einer wird Euer gutes Verhalten auf jeden Fall gutheißen. Und der ist schließlich der höchste Richter! Amen.


Pfarrer Dr. Sven Keppler
Versmold
sven.keppler@kk-ekvw.de

Sven Keppler, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen. Seit 2010 in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Versmold. Vorsitzender des Versmolder Kunstvereins. Autor von Rundfunkandachten im WDR.