
Lukas 7,36-50
Liebkosungen am helllichten Tag | 11. Sonntag nach Trinitatis | Lk 7,36-50 (dänische Perikopenordnung) | Marianne Frank Larsen |
Da ist so viel bei Solveig, was anders ist. Vielleicht weil sie einmal in Amerika gewohnt hat. Sie föhnt das Haar ihres Sohnes. Sie streicht ihr Tochter über die Wange. Sie überschüttet sie mit Lächeln und guten Worten. In dem Buch des schwedischen Autors Göran Tunström Das Weihnachtsoratorium (Solveigs Vermächtnis) ist sie auffallend großzügig mit Liebkosungen, die man sonst auf dem Lande in Schweden früher in den 30er Jahren nicht kennt. Ganz zu schweigen von Küssen. Da ist Solveig in der Tat eine Pionierin, steht da. Plötzlich eines Tages draußen auf dem Felde kommt sie und umarmt ihren Mann und küsst ihn auf den Mund. Mitten in der Arbeitszeit, am helllichten Tage, während die Nachbaren verwundert dastehen und zuschauen. Das tut man also nicht dort in dieser Gegend im Jahre 1932! Und der Mann windet sich denn auch etwas verlegen aus den Armen seiner Frau und sagt: Das kommt aus Amerika. Und das wird dann zu einer festen Redensart in der Gegend, wenn Leute Lust haben, einander am helllichten Tag zu küssen. Das kommt aus Amerika, sagen sie dann. Als Solveig allzu früh stirbt und ihr Mann aus dem Hof wegziehen muss, ist es dies, woran sie sich erinnern, als er kommt, um sich zu verabschieden: Wie sie dort stand, hell erleuchtet im Schein der Sonne, mit den Armen um den Hals ihres Mannes, wie sie ihn an einem ganz gewöhnlichen Vormittag küsst. Der Nachbar steht und schluchzt, aber die Erinnerung ruft ein blasses Lächeln in ihm hervor, und lässt auch uns lächeln.
Denn wir wissen es sehr wohl. Es geschieht auch in unserem Leben, dass man einen anderen Menschen so liebgewinnt, dass man sich nicht darum schert, ob das, was man tut, der guten Sitte entspricht. Ob alle anderen meinen, dass es angebracht ist. In glücklichen Augenblicken vergisst man einfach sich selbst und was für einen Eindruck man macht. Man hat nur einen Blick für den Mann, das Kind, die Frau, den Freund, die man liebhat. Und man hat nur ein Gefühl für die Freude, die dieser Mensch bereitet. Das muss und soll zum Ausdruck kommen! Das überwältigt einen und verursacht Lächeln oder Tränen, Worte, die man normalerweise nicht verwendet, mit Umarmungen, Liebkosungen oder Küssen – am helllichten Tag.
Oder mit Öl, das nach Myrre duftet. Denn dies geschieht im heutigen Evangelium. Simon und die Pharisäer können hier nur einen peinlichen Auftritt sehen. Eine Frau, die sich aufdrängt mitten in der guten Gesellschaft und das gelehrte Gespräch verstummen lässt durch Küsse und Liebeszeichen, Öl und Tränen, die fließen, Gefühle und Körperlichkeit, die über alles Maß hinausgehen. Das kennen wir hier in der Gegend nicht! Jedenfalls nicht am helllichten Tag. Und schon gar nicht, wenn es eine solche Frau ist. Jesus sieht jedoch etwas anderes als das, was Simon und die Pharisäer sehen. Er sieht die Freude, die die Frau überwältigt, die Liebe, die ihren Ausdruck finden muss und soll, ganz gleich was guter Geschmack ist und allgemeine Sitte. Hingabe könnte man das auch nennen, wenn man sich selbst hingibt und sein Herz öffnet, weil man nur an einen anderen denkt und ihn im Blick hat. Im Gegensatz zu dem Vorbehalt, mit dem Simon Jesus begegnet. Denn er lässt ihn zwar in seine gute Stube hinein. Aber er gibt ihm nicht einen Kuss oder Wasser oder Öl zur Begrüßung, wie man dies tut, wenn man einen Gast empfängt, den man gernhat. Und er sagt nicht, was er denkt, fragt nicht, wagt sich nicht hervor. Er beobachtet, beurteilt, wertet seinen Gast – und geht auf Distanz. Simon will nichts anbrennen lassen.
Ganz anders die Frau, deren ganzes Leben auf dem Spiel steht. Mit dem Gleichnis von dem Geldverleiher, der zwei Schuldigern ihre Schuld erlässt, deutet Jesus sowohl ihr überschwängliches Auftreten als auch die Vorbehalte Simons. Er lässt zudem Simon selbst die Schlussfolgerung ziehen: Dass der, dem die größte Schuld erlassen ist, natürlich auch am meisten liebt. Die Frau liebt, wie sie es tut, mit Küssen und Zärtlichkeiten und Tränen und Öl, weil sie in Jesus einer Barmherzigkeit begegnet ist, die nicht nur einzelne Verfehlungen überdeckt, die sie begangen hat, sondern ihr ganzes Leben. Sie handelt in so vollkommener Hingabe, weil sie in seinen Augen eine Akzeptanz gesehen hat, der sie in keinem anderen Blick begegnet ist, und schon gar nicht in den herabwürdigenden Blicken um den Tisch. Sie findet, dass sie den Körper und das Leben missbraucht hat, die sie bekommen hat, und doch hat sie in seiner Stimme gehört, dass sie geliebt ist, dass ihr vergeben ist, befreit zu einem neuen Leben. Deshalb überwältigt sie die Liebe und die Freude. Deshalb verschwendet sie das Öl und beugt sich sogar nieder, um seine Füße mit ihrem Haar zu trocknen. Ihre Dankbarkeit kennt keine Grenzen.
Wir begegnen derselben Barmherzigkeit jedes Mal, wenn wir hier in die Kirche kommen. Eine Barmherzigkeit, die nicht nur einzelne Verfehlungen überdeckt, die wir begangen haben, sondern unser ganzes Leben und alles, woran wir zu tragen haben, was nicht so wurde, wie es hätte sein sollen. Das verbirgt er in seiner Liebe. Oder mit den Worten des Psalms gesagt: Er verbürgt uns in seiner Liebe. So wie er kam ins Haus des Simon damals vor langer Zeit, kommt er heute in dieses Haus. Wir können ihn nicht sehen, aber wir können hören, dass er dasselbe sagt, was er zu der Frau sagte, die ihr Leben missbraucht hatte: Deine Sünden sind dir vergeben. Gehe hin in Frieden. Das eben ist es, was er uns und unseren Kindern sagt, wenn wir die Taufe und Abendmahl feiern. Da ist dann die Frage, ob wir reagieren wie Simon, reserviert sind, werten, beurteilen, Abstand halten, weil wir nicht meinen, etwas schuldig geblieben zu sein, das uns vergeben werden müsste. Oder ob wir uns selbst in der Stimme wiederfinden, die uns dazu befreit, neu zu beginnen, und in dem Blick, der uns sieht als geliebte Menschen trotz allem, was wir vertan haben und bereuen.
Die Frau kam mit duftendem Öl. Die Lieder, die wir hören und singen, sind das Öl, mit dem wir ihm heute danken. Wie der Duft sich damals vor langer Zeit in dem Hause ausbreitete als merkbarer Ausdruck für Hingabe und Freude, so breitet sich der Klang der Töne und der Stimmen in diesem Haus an diesem Tag aus, während sie zum Himmel steigen als ein genauso spürbarer Ausdruck für genau dasselbe. Und kommt die Freude des Herzens nicht von allein, wird sie vielleicht hervorgerufen und verstärkt von der Schönheit, die unsere Ohren erreicht.
Die Frau kam auch mit Liebkosungen, genauso überrumpelnd und überschwänglich wie die von Solveig an jenem Sommertag in Schweden. Wenn die Freude uns überwältigt, sollen wir unsere Liebkosungen füreinander verwenden. Geht hin im Frieden und seid großzügig mit Liebkosungen und milden Worten, helfenden Händen und Küssen – auch am helllichten Tag. Amen.
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Pastorin Marianne Frank Larsen
DK 8000 Aarhus C
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