
Markus 12, 28-34
Eine Sternstunde weist Zukunft |10. Sonntag nach Trinitatis – Israelsonntag | 24. August 2025 | Predigt zu Mk 12, 28-34 | verfasst von Kira Busch-Wagner |
Liebe Gemeinde, einmal im Jahr feiern wir also ausdrücklich Israel-Sonntag. Angesiedelt in der langen Zeit „nach Trinitatis“, dann, wenn es den ganzen Sommer in den biblischen Abschnitten drum geht, auszubuchstabieren, was denn zum Christ-Sein und Kirche-Sein denn dazugehört. Taufe, Abendmahl, gutes Wirken, Bibel und mehr. In etwa das, was Stoff im Konfi-Unterricht ist. Wenn es also den Israelsonntag gibt, dann heißt das: zum Christ-Sein dazu gehört auch die Verbundenheit mit „Israel“. Im umfassendsten Sinne: mit dem jüdischen Volk, Jüdinnen und Juden weltweit, mit jüdischem Glauben, mit der jüdischen Bibel, also Thora, Propheten und Schriften, mit Geschichte und Tradition, auch mit dem Staat Israel. Damit ist natürlich jeder Sonntag ein bisschen Israelsonntag. Hat sich doch die Kirche von jeher dazu entschieden, dass zu ihrer Schrift eben auch das erste, das frühe, das Alte Testament gehört, Gottes Bund und Bundesschlüsse, Israels Errettung aus dem Schilfmeer und alle Verheißungen. Und: dass zu christlichen Gottesdiensten mit großer Selbstverständlichkeit die hebräische Sprache gehört. „Amen“, ja, so sei es, daran halte ich fest; „Halleluja“, lasst uns Gott loben, „Hosianna“, o Herr, hilf doch; es gehören dazu Psalmgebete und Lesungen wie im jüdischen Gottesdienst. Mit einem jüdischen Hauptdarsteller, einem Schriftgelehrten und Lehrer, dem Messias, dem Christus Jesus.
Eine der Geschichten aus dem Leben Jesu in der Überlieferung nach Markus ist uns heute zu hören und zu bedenken denn auch aufgetragen. Wir hören auf den Abschnitt im 12. Kapitel im Evangelium nach Markus:
Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? 29Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft« 5. Mose 6,4-5. 31Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« 3. Mose 19,18. Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; 33und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.
Soweit das Evangelium. Zwei spielen sich die Bälle zu. Auf Augenhöhe. Wir kennen ja von Jesus viele Evangelienabschnitte, in denen er lehrt und auslegt und fortführt. Etwa bei der Bergpredigt. Wir kennen von Jesus Evangelienabschnitte, in den er zuhört, sich ergreifen lässt, selbst dazu lernt. So in der Geschichte mit der syrophönizischen Frau, die sich für ihre Tochter einsetzt. Gegen Ende des Markusevangeliums, kurz vor unserem Abschnitt, gibt es nun eine ganz Reihe von heftigen und nicht immer freundlichen Diskussionen. Aber hier, zum Abschluss jetzt eine, wo Jesus und ein anderer Schriftgelehrter sich gegenseitig bestätigen. Gott lieben von ganzem Herzen, mit aller Kraft, und den Nächsten wie sich, den Nächsten mit der Begründung: er ist wie ich selbst. Aus zweier Zeugen Mund, sozusagen beeidet, so kommt uns das Doppelgebot der Schrift entgegen. Aus Büchern, die in der Kirche als Altes Testament bezeichnet werden. „Höre Israel, du sollst Gott lieben“, aus dem 2. Buch Mose, aus Exodus. Und: „Liebe deinen Nächsten“ aus Leviticus, dem 3. Buch. Angeboten zum Wirken, zum Handeln; angeboten, die Dinge doch in die Hand zu nehmen. Und um der beiden Zeugen willen von größtem Gewicht! Wie kann jemand unter uns sagen, was ja nicht so selten begegnet: „Der Gott des Alten Testaments ist ein anderer als der des Neuen“? Welchen Gott zu lieben sollte Jesus denn sonst meinen als den der Schrift, unseres Alten Testaments. Oder wie kann jemand sagen: „Kirche sollte das Alte Testament aufgeben“. Wo Jesu Lehre und Verkündigung doch offenbar in der Auslegung des sogenannten AT besteht?
Soviel zum Rahmen, zum Gespräch als Ganzem. Dann aber noch mal zum Inhalt. Der Schriftgelehrte, der Bibelkundige also, fragt: „Was ist das höchste Gebot?“. Ich bin zutiefst überzeugt: das ist keine abstrakte Frage, im Sinne von: hoch, höher am höchsten? Das ist eine praktische: Was ist für mich das höchste Gebot, für uns, woran sollen wir uns denn als erstes halten? Und der Schriftgelehrte erhält die praktische und umfassende Antwort: Halte dich an Gott, halte dich an den Nächsten, entsprechend deiner selbst. Eine Dreifaltigkeit des rechten Handelns. Auf Gott bezogen, auf den Nächsten, wie mich selbst.
Ich gehe noch mal zum Anfang zurück. Der Schriftgelehrte, der sich so einig mit Jesus weiß, der klinkt sich ins Gespräch ein, nachdem er einem Streit zugehört hat. Zwischen Jesus und einigen Leuten, die sich über Auferstehungshoffnung lustig gemacht hatten. Sadduzäer. Auch jüdische Leuten. Ihre Glaubensrichtung ist untergegangen. In den furchtbaren historischen Entwicklungen, die Jesus nicht mehr miterlebt hat, wohl aber die nächste Generation von Jesusleuten, wohl aber Leute wie der Evangelist Markus. Zu dieser Historie gehört die Einnahme des Landes durch die römische Armee. Die Zerstörung Jerusalems. Der Untergang des Tempels. Und damit auch der Untergang praktizierter Religion mit Psalmen auf den Stufen und Gebeten am Altar, mit Opfern, Brand- und Schlachtopfern, die auch der Gelehrte erwähnt. Markus erlebt: all das geht in die Brüche.
Wenn Markus nun schreibt, dass die Zwei, Jesus und der Schriftgelehrte, nun weder zynisch werden noch verzweifeln, dass sie sich einig sind, einander die Bälle zuspielen, dann ist erleben wir eine Sternstunde des Bibellesens, eine Sternstunde des Lernens und Lehrens. Das muss gar kein Dauerzustand sein. Aber Orientierung. Wie in der Antike sich Seeleute an den Sternen orientieren konnten. Wenn Streit und Auseinandersetzung sich an solchem Stern orientieren, dann werden sie fruchtbar.
Jesu Worte beschreiben die Sternstunde so: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und meinen: Du bist ganz nah dran. Du bist im Bereich, du bist mitten drin im Reich Gottes. Ganz hoch greift Jesus.
Wie gesagt, als Markus sein Evangelium zusammenstellt, da erleben die Menschen im Land Israel eine furchtbare, eine sehr dunkle Zeit. Jerusalem belagert, am Ende unbewohnbar, der Tempel zerstört, die Menschen versklavt, das Land entvölkert, die politisch Verantwortlichen und Reste des kämpfenden Truppe im Streit, wie an eine Zukunft zu denken sei. Die Menschen voller Verzweiflung. Wie man mit all dem Elend weiterleben könne. Und wie man das alles verstehen soll: ist das Strafe? oder Prüfung? Handelt es sich um eine Versuchung oder Schicksal? Ist von Gott noch etwas zu sagen oder ist er längst untergegangen, wie schon so oft Völker und deren Götter untergegangen sind.
Markus schreibt sein Evangelium für diese Menschen. Mit ihren Fragen. Mit ihrer Verzweiflung. Und denen, die nach Jesus fragen, zeigt er: ja, auch Jesus geht auf sein Ende zu, er geht in den Tod. Und in all dem Streit bis kurz zuvor, da ist er sich mit einem anderen der Schriftgelehrten einig: Höre Israel. Du sollst deinen Gott lieben von ganzem Herzen. Er ist einzig. Er ist Gott allein. Und deinen Nächsten sollst du lieben. Wie dich selbst. Er ist wie du.
Keine Schönwetterauslegung. Markus hofft! Und er gibt den Menschen, die Schreckliches erlebt haben und noch Schreckliches vor sich sehen, etwas in die Hand. Er ermächtigt sie in ihrer Ohnmacht. Das könnt ihr tun. Das ist euch möglich. Was immer euch geschieht, das habt ihr in der Hand, niemand kann es euch nehmen: Gott lieben von ganzem Herzen und den Nächsten. Ihr seid selbst Maßstab. Das könnt ihr in der Nachfolge Jesu, das könnt ihr aus den Schulen der Schriftgelehrten. Darin besteht doch Einheit. Was Markus den Menschen an die Hand gibt, das schenkt gemeinsame Zukunft, auch dann, wenn Tempel, Schlacht- und Rauchopfer untergegangen sind. Inmitten von Tod und Elend, inmitten von Horrornachrichten und Zukunftsängsten gibt der Evangelist Markus Orientierung mit einer Sternstunde von Einverständnis.
Du sollst Gott, den einen, einzigen, deinen Herrn lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, mit all deiner Kraft. Und deinen Nächsten wie dich selbst.
Das kannst du tun. Es liegt in deiner Hand. Der Herr, unser Gott, hat sich dir in die Hand gelegt.
Es gibt zu dieser Stelle im Markusevangelium ein jüdisches Gegenstück. Die Geschichte – sie spielt ca 50 Jahre später – vom Ende des großen Rabbi Akiba. Dem auch die Nächstenliebe immer ganz, ganz wichtig war. Jedenfalls: unter der Folter der Römer (gleichfalls eine Parallele zu Jesus), geht er auf den Tod zu. Da spricht er das Schma, diesen Satz: Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein, ein einziger Gott, du sollst ihn lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele … – man könnte auch übersetzen: mit dem ganzen Leben. Seine Schüler sehen Akiba sterben, sie sind verzweifelt, und er antwortet ihnen: „Ich habe immer überlegt, ob ich das verstehe, ob ich das kann: ‚von ganzer Seele, mit ganzem Leben‘. Jetzt ist es dran!“ Und damit haucht er sein Leben aus.
Uns selbst steht keine Folter bevor. Nicht am Kreuz. Und nicht durch Eisenkämme, die die Haut abziehen. Aber wir wissen um Folter und Elend und Krieg anderswo. Wir wissen von den Geiseln in den Tunneln der Hamas, von den hungernden Menschen im Gaza. Wir wissen von Gewalttätern und Kriegstreibern.
Das Evangelium nach Markus legt uns heute in die Hand:
Mit anderen auf Augenhöhe das Unsere tun: Den einen und einzigen Gott Israels lieben von ganzem Herzen, mit dem ganzen Leben und den Nächsten lieben. Eine, einen wie ich selbst.
Und der Friede Gottes, höher als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne. Im Lehrer Christus Jesus. Amen.
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Liedvorschläge:
All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad … EG 440
Laudate omnes gentes … EG 181,6 (auch geeignet zum Abschluss von Ps 122)
Du meine Seele, singe … EG 302 (besonders Str. 2: Jakobs Gott!)
Lobet den Herren … EG 447 (als Segenslied besonders Str. 6-8)
Gott ist König … (EG Anhang Baden 566, besonders Str. 2: „Sein Gesetz ist gut“. Muss man einüben!)
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Kira Busch-Wagner, Jg 1961, Pfarrerin in Karlsruhe, Schwerpunkte im christlich-jüdischen und im ökumenischen Gespräch.