
Markus 12,28-34
Liebe leben | 24. August 2025 | 10. Sonntag nach Trinitatis | Predigt zu Mk 12,28-34 | verfasst von Thomas Muggli-Stokholm |
Vor einigen Wochen stiess ich auf ein Inserat der wählerstärksten Partei unseres Landes. Unter dem Titel: Sie haben die Wahl: «Freiheit oder Unterwerfung!» werden wir vor dem Monster-Vertrag mit der EU gewarnt. Die neuen bilateralen Verträge bringen auf sage und schreibe 2228 Seiten nichts als EU-Vorschriften, EU-Regeln, EU-Gesetze und EU-Bürokratie. Sie wollen uns der EU unterwerfen und fremde Richter aufzwingen. Das altbewährte Erfolgsrezept der Eidgenossenschaft, der Bundesbrief aus dem Jahr 1291, umfasst dagegen genau eine Seite und hält klipp und klar fest, was gilt für uns: Keine fremden Richter, keine fremden Herren, Selbstbestimmung. In diesem Sinn sollen nicht die abgehobenen Politiker, Beamten und Richter, sondern wir Bürgerinnen und Bürger das letzte Wort haben.
Mit ihrem Appell steht diese Partei nicht allein da. Die Sehnsucht danach, die komplexe Wirklichkeit mit einfachen, klar verständlichen Formeln zu erschliessen, zieht sich durch alle Lebensbereiche, bis hin zur theoretischen Physik. Da ist die Spitzenforschung seit vielen Jahren mit hohem Aufwand auf der Suche nach der Weltformel, der umfassenden, einfachen Theorie, die alle physikalischen Phänomene im Universum erklären kann.
Eine ähnliche Sehnsucht treibt in unserem Predigttext den Schriftgelehrten zu seiner Frage an Jesus. Er ist spezialisiert auf die Tora, das Gesetz des Alten Testaments. Es umfasst nicht weniger als 613 Gebote. Die Pharisäer fügen ihnen eine Vielzahl von näheren Bestimmungen hinzu, so dass die Zahl der Gebote schliesslich in die Tausende und der Überblick verloren geht. In diesem verwirrenden Durcheinander sucht der Schriftgelehrte das Gebot aller Gebote, gewissermassen die Weltformel für ein gottgefälliges, gelingendes Leben. Ja, welches Gebot ist das erste von allen?
Bevor ich auf die Antwort Jesu eingehe, werfe ich einen Blick auf den Rahmen unseres Textes: Am dritten Tag nach dem Einzug in Jerusalem halten Jesus und die Seinen sich im Tempel auf. Jesus setzt sich mit Pharisäern, Schriftgelehrten und Priestern auseinander. Bis jetzt ging es diesen ausschliesslich darum, Jesus mit Fangfragen zu Fall zu bringen.
Entsprechend unergiebig sind die Diskussionen. Offensichtlich hat Jesus aber in den Kreisen der damaligen religiösen Obrigkeit nicht nur Feinde. Der Schriftgelehrte ist beeindruckt, wie gut Jesus auf die Fangfragen seiner Kollegen reagiert. Seine Frage nach dem höchsten Gebot ist ehrlich gemeint. Er will von Jesus wirklich etwas wissen. So sagt ihm Jesus am Schluss zu, dass er nicht weit vom Reich Gottes entfernt sei. Der Rahmen unseres Textes macht damit konkret, was das höchste Gebot bewirkt: Im Reich Gottes gibt es keine Kategorien. Es gibt nicht Menschen, die grundsätzlich draussen und solche, die drinnen sind. Die Nähe zum Reich Gottes entscheidet sich nicht aufgrund einer Volkszugehörigkeit oder der richtigen Lehre, sondern aufgrund unserer Herzen: Wir sind Gott dann nahe, wenn wir wahrhaftig und offenherzig nach ihm fragen.
Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus setzt in seiner Antwort beim Zentrum des jüdischen Glaubens an, beim Schma Israel aus dem 6. Kapitel des 5. Mosebuchs: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist allein Herr. Die sechs Verse des Schma Israel sind das zentrale Gebet und Bekenntnis des auserwählten Volks. Es begleitet die Gläubigen durch ihren Alltag und bestimmt ihre Identität. Höre, Israel! Beim höchsten aller Gebote geht es nicht um feinsinnige Überlegungen und kluge Worte, sondern darum, zu schweigen und zu hören, was Gott spricht: Er, unser Gott, ist allein Herr. Der Glaube an ihn ist keine Freizeitbeschäftigung, der wir uns nach Lust und Laune widmen. Der Glaube ist ein ständiges Hören darauf, was er uns gebietet und was er von uns und mit uns will.
Höre, Israel! Diese Aufforderung steht im Kontrast zu dem, was in unserer Welt gilt: Da geht es nicht ums Hören, sondern ums Reden. Wer jemand sein will, muss sich präsentieren, zu allem seine Meinung äussern. Wer jemand sein will, muss stets aktiv sein, seine Ressourcen nutzen, seine Fähigkeiten zeigen. Wer sich dagegen auf das Hören einlässt, lässt die Hände ruhen und sucht die Stille, um für Gottes Wort empfänglich zu werden. Dies ist die Grundlage für das Verständnis des höchsten Gebots: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft. Und als zweites: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Als Befehl verstanden wäre dieses Gebot sinnlos und zum Verzweifeln. Erstens kann niemand auf Befehl lieben. Zweitens ist es mit unserer menschlichen Liebe nicht weit her. Wenn uns ein Mensch enttäuscht oder verletzt, verwandelt sich unsere Liebe rasch in Wut und Hass. Und wenn Wünsche und Hoffnungen sich nicht erfüllen, wird der liebe Gott schnell zu „Dem-da-oben“, mit dem wir hadern oder nichts mehr zu tun haben wollen. Das Liebesgebot wird erst aufgrund der Aufforderung zum Hören verständlich: Wir können nur darum lieben, weil Gott unser Gott ist, der ein und einzige, der es gut mit uns meint, der uns das Leben schenkt und uns schon im Mutterleib geliebt hat. Mit unserer Liebe können und müssen wir uns nicht aufschwingen zu Gott, um seinen Anforderungen zu genügen und uns seine Gunst zu verdienen. Unsere Liebe ist die Antwort auf seine Liebe, die immer und überall gilt. Das Wesen der Liebe zeigt sich am Weg Jesu: Jesus hält seine Liebe durch bis zum Tod am Kreuz. Selbst da, wo jeder andere Mensch nur noch Wut und Hass empfinden könnte und seine Gegner verfluchen würde, selbst da bleibt Jesus in der Liebe Gottes. Darum betet er, durchbohrt von den Nägeln und unter grössten Schmerzen, noch wenige Augenblicke vor seinem Tod: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Das Band der Liebe zwischen Jesus und Gott, seinem Vater, hält bis in den Tod und mit der Auferstehung an Ostern über den Tod hinaus. Das höchste Gebot lädt uns ein, zu sehen und zu hören, uns in Jesus versöhnen zu lassen mit Gott und aus seiner Liebe zu leben.
Du sollst Gott lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft. Die Liebe wird im höchsten Gebot vierfach gekennzeichnet: Sie soll zum einen mit unserem ganzen Herzen geschehen. Das Herz ist in der Bibel das Zentrum der Gefühle, der Emotionen. Die Liebe hat also durchaus eine erotische Seite. So wie Gott seine Schöpfung und uns Menschen leidenschaftlich liebt, so lieben wir ihn und die Nächsten von Herzen und mit Leidenschaft. Zum zweiten sollen wir Gott mit unserer ganzen Seele lieben. Die Seele ist der Sitz unserer Persönlichkeit. Gott mit allem, was wir sind, lieben, heisst dann, dass wir die Distanz aufgeben, so wie Gott es uns in Christus vorlebt: So sehr liebt er die Welt, dass er sich in seinem Sohn in die Welt hineingibt. Ebenso geben wir uns in seine Gegenwart hinein, um in ihm und aus ihm zu leben. Paulus bringt das im Galaterbrief auf den Punkt, wenn er schreibt: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir (Gal 2,20). Zum dritten sollen wir Gott mit unserer ganzen Kraft lieben. Die Kraft bezieht sich auf das Handeln, auf die Gestaltung des Alltags. Die Liebe zu Gott ist keine spirituelle Übung. Wir öffnen uns ihm und hören auf ihn, um unseren Alltag seinem Willen gemäss zu gestalten. Gott lieben mit dem ganzen Herzen, der ganzen Seele und aller Kraft: Das Schma Israel versteht die Liebe umfassend, mit ihren leidenschaftlichen und emotionalen Aspekten und ihren praktischen Auswirkungen. Interessant finde ich, dass Jesus von sich aus noch etwas Viertes hinzufügt: Wir sollen Gott auch mit unserem ganzen Verstand lieben. Liebe ist nicht blind und kopflos. Sie ist vernünftig und führt zur Erkenntnis. So schreibt Paulus in seinem Hohelied der Liebe im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs, dass sein Erkennen jetzt noch Stückwerk ist – er aber dann, wenn Gottes Liebe sich ganz offenbart, vollkommen erkennt, so wie er von Gott erkannt worden ist.
Das höchste Gebot versteht die Liebe also umfassend als Macht, die uns mit allem, was wir fühlen, begehren und tun ergreift – wenn wir hören, uns öffnen für Gott und uns ihm überlassen. Das ist die Grundlage für den zweiten Teil: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In unserer Zeit, wo sich viele von der Kirche lossagen, gilt die Nächstenliebe noch als das am wenigsten umstrittene Überbleibsel des christlichen Glaubens. So sagen mir immer wieder Leute: «Wissen Sie, mit dem Glauben kann ich nichts anfangen. Ich übe lieber Nächstenliebe, statt am Sonntag in die Kirche zu rennen.» Die Frage ist, ob das funktioniert mit der Nächstenliebe ohne Liebe zu Gott. Wie gesagt ist es mit unserer menschlichen Liebe nicht weit her. Und so empfinden wir die Nächstenliebe von uns aus gesehen rasch als lästige Pflicht, die klare Grenzen hat. Wenn jemand unsere Nächstenliebe überstrapaziert, sagen wir schnell: «Ich bin doch kein Pestalozzi.»
Nächstenliebe im Biblischen Sinn ist kein solches Verlustgeschäft: Wenn wir nur lieben können, weil Gott uns liebt, dann müssen wir auch keine Angst haben, dass uns die Liebe je ausgeht. Die Liebe ist eine unversiegbare Quelle: Und je mehr wir aus ihr schöpfen, desto reicher fliesst sie.
Beim Gebot zur Nächstenliebe werden oft die letzten drei Wörter überhört, das «wie dich selbst»: Nächstenliebe hat die Liebe Gottes und die Liebe zu mir selbst als Grundlage. Wer sich selbst nicht liebt, der kann andere nicht lieben. Und mich selbst lieben kann und darf ich einzig, weil Gott mich liebt. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Das ist kein mahnender Zeigefinger, sondern die Einladung zu einem erfüllten Leben: Ich darf und soll lieb zu mir selbst sein, mich mit meinen Bedürfnissen, mit meinen Freuden und Ängsten ernst nehmen, mir Zeit nehmen für mich und für meine Fragen und Ansprüche. Ich darf und soll mir stets neu bewusstmachen, wie wertvoll und einzigartig ich vor Gott bin. Diese Gewissheit, dass Gott mich liebt und schätzt als sein einzigartiges Geschöpf, ist die Basis, um meinen Nächsten meinerseits mit Liebe, Wertschätzung und Respekt zu begegnen.
Drei Pole hat also das höchste Gebot: Gott – mich selbst – und den Nächsten. Diese drei Pole dürfen nicht voneinander getrennt werden, weil sie sich gegenseitig bedingen und voraussetzen. Ich kann mich selbst nicht lieben, wenn ich nicht gewiss bin, dass Gott mich liebt. Und ich kann den Nächsten nicht lieben, wenn ich mich selbst nicht liebe. Und ich kann schliesslich Gott und seine Liebe erst dann wahr- und ernstnehmen, wenn ich diese Liebe von meinen Nächsten erfahre.
Kehren wir zurück zum Rahmen unseres Textes. Wie erwähnt, macht dieser Rahmen konkret, was das höchste Gebot meint: Jesus und der Schriftgelehrte begegnen einander in Liebe, respektvoll und offen. Sie hören aufeinander und auf Gott. Der Schriftgelehrte liefert Jesus mit seiner offenen Frage den Steilpass zu Spitzensätzen seiner Verkündigung, die zugleich deutlich machen, wie eng verbunden wir Christinnen und Juden miteinander sind und bleiben. Die Reaktion des Schriftgelehrten macht deutlich, dass ihn die Antwort von Jesus persönlich weiterbringt. In Freundschaft gehen die beiden auseinander.
Ultrakurz ist es, das höchste Gebot – im Vergleich zu den 613 Geboten der Tora und ihren unzähligen Präzisierungen genau gleich wie im Vergleich zu den neuen EU-Rahmenverträgen mit ihren über 2000 Seiten Text. Ja es unterbietet an Länge sogar den Bundesbrief um ein Mehrfaches.
Doch diese «Weltformel der Ethik» hat es in sich: Wohl wird uns die Liebe von Gott geschenkt, umsonst, aus reiner Gnade. Doch wir kommen nie ans Ende mit dieser Liebe. Gebote können wir halten und dann abhaken. Die Liebe bleibt stets geboten. Niemand kann je sagen, für heute habe ich genug geliebt.
Und noch etwas lässt uns staunen: Je mehr wir uns von der Liebe leiten lassen, desto weniger Gebote sind nötig. Ja, am Ende der Zeit, wenn Gott in seiner Liebe alles in allem ist, wird es kein einziges Gebot mehr brauchen. Das leitet uns beim Gestalten unserer Beziehungen im Familien- und Freundeskreis und in der Gesellschaft. Meinungsmacher wie die wählerstärkste Partei, aber auch Parteien und Gruppierungen im übrigen politischen Spektrum sind da besonders angesprochen: Der Umgangston ist heute im Allgemeinen gehässig und lieblos. In meiner Sicht ist das nicht bloss schlechter Stil. Es zerstört auf die Dauer das, was die Schweiz ausmacht – mehr als Monsterverträge und bürokratischer Leerlauf: Vertrauen, Wertschätzung und Respekt. Ja, vielleicht sind die vielen Regulierungen sogar genau die Folge der Missachtung des höchsten Gebots. Wenn alle nur noch ihre Interessen verfolgen, braucht es immer mehr Vorschriften, Regeln, Gesetze und Bürokratie, um das Zusammenleben einigermassen geordnet zu erhalten.
Würden alle ihre Verantwortung wahrnehmen und aus der Liebe Gottes leben, brauchte es keine einzige Vorschrift, keine Gesetze und keine Verbote. Klar, so weit wird es nie kommen. Aber es liegt in unserer Macht, zu einer freiheitlichen Gesellschaft beizutragen: Wenn wir einander zuhören, statt dauernd unsere Parolen hinauszuposaunen. Wenn wir achtgeben, was uns Gottes Liebe gebietet. Und wenn wir unseren Alltag danach gestalten. Dann wird unsere Gesellschaft wohnlicher, friedlicher und menschenfreundlicher. Amen.