
Markus 12,28-34
„Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer“ | Israelsonntag am 24.8.2025 | 10. Sonntag nach Trinitatis | Mk 12,28-34 | erarbeitet von Dr. Rainer Stahl |
„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,
die Liebe Gottes und
die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sei mit Euch allen.“
Liebe Leserin, lieber Leser!
Liebe Schwestern und Brüder!
An den Anfang stelle ich den Bibeltext, der für die Predigt empfohlen wird: Markus 12, ab Vers 28[i]:
- 28a „Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie
miteinander stritten.
- 28b Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn:
- 28c »Welches ist das höchste Gebot von allen?«
- 29a Jesus antwortete:
- 29b »Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein /
der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer,
- 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele,
von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft‘.
- 31a Das andre ist dies:
- 31b ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘
- 31c Es ist kein anderes Gebot größer als diese.«
- 32a Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm:
- 32b »Ja, Meister, du hast recht geredet!
- 32c Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm;
- 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und
seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und
Schlachtopfer.«
- 34a Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm:
- 34b »Du bist nicht fern vom Reich Gottes.«
- 34c Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.“
Gewiss hatte Markus Auseinandersetzungen, die Jesus mit anderen auszufechten hatte, zutreffend erinnert und erfasst. Auf alle Fälle hatte er die Zeugnisse über solche Auseinandersetzungen authentisch dokumentiert – in unserem Zusammenhang zwei: Zuerst Gespräche mit priesterlichen Theologen, mit Sadduzäern, also mit Männern, die neben ihrem eigenen Beruf auch am Tempel in Jerusalem Priester waren und jeweils einmal im Jahr eine gewisse Zeit zu Diensten im Zusammenhang der Opferung von Tieren und Pflanzen am Tempel tätig zu sein hatten. Sodann mit theologisch gebildeten Männern, mit Schriftgelehrten, die um das richtige Verstehen der Texte der Bibel rangen und vor allem in einer Synagoge diese Texte vortrugen und auslegten.
Direkt vor unserer Evangeliums-Lese wurde die Auseinandersetzung um die Frage, ob es eine Auferstehung der Toten gäbe, durchdiskutiert (in den Versen 18-27). Die Einzelheiten dieser Auseinandersetzung führt uns heute Morgen zu weit ab. Festhalten möchte ich aber, dass Jesus für den Glauben an die Auferstehung der Toten eingetreten war. Er hatte seinen Gesprächspartnern geantwortet: „Denn wenn sie von den Toten auferstehen, so werden sie weder heiraten noch sich heiraten lassen, sondern sie sind wie die Engel im Himmel“ (Vers 25). Damit hatte er eindrücklich festgehalten: Ja, es gibt die Auferstehung der Toten, denn Gott ist ein Gott der Lebenden, der auch die Toten in ein neues Leben rufen wird. Ich wiederhole noch einmal die Aussage Jesu Christi in Vers 25: „Denn wenn sie von den Toten auferstehen […], sind sie wie die Engel im Himmel.“ Und ich zitiere seine Aussage in Vers 27: „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.“
Auf diese Auseinandersetzung bezieht sich Markus ausdrücklich und betont, dass ein Schriftgelehrter Jesus zugestimmt hatte: „Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten, [und] sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte“ (Vers 28). Auf diesem Gespräch – dasjenige zwischen dem Schriftgelehrten und Jesus – liegt für uns heute das Schwergewicht:
Zuerst hatte der Schriftgelehrte der Position Jesu Christi, dass es nämlich eine Auferstehung der Toten geben wird, zugestimmt. Danach hatte er eine damals völlig neue Unterscheidung ins Gespräch gebracht – nämlich diejenige zwischen weniger wichtigen und besonders wichtigen Gesetzen in der Bibel! Er hatte aber nicht einfach gesagt: „Ich als Schriftgelehrter und meine Kollegen können das höchste Gebot, das wichtigste Gesetz identifizieren und klar benennen!“ Sondern: Er hatte Jesus aufgefordert, dieses Gebot, dieses Gesetz zu benennen! Das Ringen um die nun kommende Antwort Jesu – das ist die Problemstellung auch für unsere Predigt heute!
Was benennt Jesus als höchstes Gebot, als wichtigstes Gesetz? Er zitiert das Glaubensbekenntnis der jüdischen Gemeinde damals und der jüdischen Gemeinde heute: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft“ (Verse 29-30).
In unserer Lutherbibel ist eine Sache merkwürdig: Dieses wichtige Gebot wird nämlich an der Originalstelle, im Deuteronomium / 5. Buch Mose, Kapitel 6, etwas anders formuliert: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ Ich bin der Auffassung, dass auch im griechischen Original des Markusevangeliums eigentlich steht: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer.“ Zu meiner Konfirmation hatte ich mir die Lutherbibel mit Bildern von Schnorr von Carolsfeld aus dem Jahre 1903 schenken lassen. Dort war übersetzt worden: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Gott“. Dort war also der Begriff „eins / einer“ besser wiedergegeben worden. Allerdings war in dieser Aussage das „Herr“ im griechischen Original in der deutschen Übersetzung mit dem Begriff „Gott“ wiedergegeben worden.[ii]Markus hatte außerdem nicht nur geschrieben, dass Israel, dass jede jüdische Einzelperson Gott „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner / ihrer Kraft“ lieben soll, sondern auch „mit dem ganzen Gemüt“.
Es gibt Belege dafür, dass viele Juden in Auschwitz, als sie begriffen, dass sie ermordet werden würden, dieses Glaubensbekenntnis im hebräischen Original hinausgeschrien hatten: «Šemca Jisra’el ’Adonaj ’Älohenu, ’Adonaj ’ähad» / „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer.“ Es ist aber nicht dokumentiert, dass einer der SS-Männer dieses Bekenntnis verstanden hätte. Aber, so denke ich: Gott hat dieses Bekenntnis gehört und verstanden!
Nachdem die Hamas am 7. Oktober 2023 aus Gaza heraus Israel angegriffen, viele Israelis ermordet und viele als Geiseln genommen hatte, wurde in Tel Aviv eine große Schauwand mit den Fotos aller Geiseln aufgebaut, die in einem Artikel in FOCUS dokumentiert wurde. Über diesen Fotos war das Glaubensbekenntnis geschrieben worden – natürlich ausschließlich mit den Konsonanten dieser wichtigen Worte und der Gottesname, der als „Herr“ zu lesen ist, als Kürzel geschrieben:
«DH’ jj WNjHL‘ jj L’RSJ cMŠ» [von rechts nach links geschrieben – Hinweis von mir] /
«Šemca Jisra’el ’Adonaj ’Älohenu, ’Adonaj ’ähad» [mit Vokalen von links nach rechts geschrieben – Hinweis von mir] /
„Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer.“
Dieser zentrale Satz war im FOCUS-Artikel nicht angegeben und nicht übersetzt worden. Aber: Wer Hebräisch gelernt hatte, konnte das problemlos lesen.[iii]
Unser Bibelwort für die Predigt macht uns also aufmerksam darauf, wie das Glaubensbekenntnis bei unseren jüdischen Nachbarn wirklich lebendig ist, immer wieder den eigenen Ängsten und Hoffnungen Sprache gibt: Dieser Gott, der allein Herr ist / der der einzige Herr ist, ruft uns zur Liebe zu ihm in unterschiedlichsten Situationen heraus!
Können nicht auch wir als Christen diesen Weg mitgehen: uns darauf verlassen, von daher unseren Alltag bestehen? Ich meine: Ja!
Meine Konfirmation war am 30. Mai 1965 in Meiningen gewesen. Das war die Zeit, in der Jugendliche in der DDR auch herausgefordert wurden, an der staatlichen „Jugendweihe“ teilzunehmen. In meiner Landeskirche, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, war ein Jahr vorher in der Synode entschieden worden, diese Spannungsherausforderung »Konfirmation oder Jugendweihe«, beziehungsweise: »Konfirmation und Jugendweihe« nicht auf den Schultern von uns jungen Leuten auszufechten. So hatte mein Pfarrer nie danach gefragt, wer von uns in der Konfirmandengruppe auch zur Jugendweihe gehen würde. Ich hatte beides gemacht: Zum traditionellen Konfirmationstermin am Palmsonntag, am 6. Sonntag der Passionszeit, am ersten Tag der Karwoche – wenn ich mich recht erinnere –, die Feier der Jugendweihe im Theater in Meiningen und sieben Wochen später, am Sonntag Exaudi, am 6. Sonntag nach Ostern, die Konfirmation. Damit wollte ich natürlich ein Stück weit einen Kompromiss leben, vor allem aber wollte ich damit zum Ausdruck bringen, in dieser DDR korrekt leben zu wollen – nicht zu stehlen oder anderes Schlimme zu tun. Aber: Meine Konfirmation sieben Wochen später war für mich Ausdruck meines Bekenntnisses zu Jesus Christus und zur Kirche. Mein Pfarrer hatte mir als Konfirmationsspruch ausgesucht: „Ich halte mich, Herr, zu deinem Altar, dir zu danken mit lauter Stimme und zu verkündigen alle deine Wunder“ (Psalm 26,6+7). Dieses Bibelwort weiß ich noch heute auswendig.
Ab dem Alter von 18 Jahren war ich den Weg des Theologiestudiums in Jena, der Arbeit an der Theologischen Fakultät, des Wechsels zur Arbeit mit verschiedensten Aufgaben in der Kirche gegangen – zuletzt der Arbeit für den Martin-Luther-Bund hier in Erlangen. Mit allen Entscheidungen, mit allen Chancen, die ich genutzt habe, habe ich versucht, auch von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und aller Kraft Gott zu lieben, wie es in Vers 30 gesagt wird: „[…] du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft“.
Dieses Gebot, dieses Gesetz werden wir nur erfüllen können, wenn wir zugleich die Folge ernst nehmen, die Jesus benannt hatte: Hatte er doch noch ein weiteres Gebot, ein zweites Gesetz als gleichwichtiges benannt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Vers 31).
Jesus hatte hier ganz großartig reagiert. Er hatte sich zu einer Erkenntnis mit Blick auf uns Menschen bekannt: Wer sich selbst ablehnt, wer mit sich selbst nur Probleme hat, bleibt immer daran gebunden, um sich selbst zu kreisen, bei allem immer sich um sich selbst zu kümmern. Wer aber sich selbst so annimmt, wie sie oder wie er ist – sich mit allen „shortcomings“, sich mit allen Unzulänglichkeiten annimmt –, eine solche Person kann für die Mitmenschen Liebe aufbringen, kann auch diese mit ihren „shortcomings“, mit ihren Unzulänglichkeiten annehmen.
Versuchen wir, uns in dieser Woche auf diese Einsichten einzulassen. Versuchen wir, unseren Alltag von diesen Einsichten her zu gestalten. Unser Bibelwort bietet uns eine großartige Summe dafür an – der Schriftgelehrte hatte zu Jesus gesagt:
„Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm;
und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft,
und seinen Nächsten lieben wie sich selbst,
das ist mehr als alle […] Opfer“ (Verse 32-33),
Wer das versucht, wird den eigenen Lebenssinn nicht verfehlen, sondern wird ihn erreichen. Das ist mein Wunsch für uns alle!
Amen.
—
„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“
Predigtlied:
EG 420,1-5: „Brich mit den Hungrigen dein Brot…“
—
[i] Den Text gebe ich auf der Grundlage der Lutherübersetzung, revidiert von 2017, gegengeprüft mit dem griechischen Original des Novum Testamentum Graece, 28. Auflage. Die beiden Übersetzungsmöglichkeiten in Vers 29 werde ich ausdrücklich diskutieren.
[ii] In der Lutherbibel von 1903 sind die letzten Aussagen über Gott / über den Herrn unterschiedlich: Deuteronomium / 5. Mose 6,4: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Herr“. Markus 12,29: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Gott“. In der Lutherbibel 2017 lauten die Aussagen folgendermaßen: Deuteronomium / 5. Mose 6,4: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer“. Markus 12,29: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein“. Sowohl im hebräischen Original des Glaubensbekenntnisses als auch im Zitat im griechischen Neuen Testament wird derselbe Begriff für „Gott“ verwendet: „Herr“!
[iii] Vgl.: Foto von Amit Shabi in: Pierre Heumann und Josef Hufelschulte: Die Schicksalsfrage. Mehr als 220 Menschen hat die Hamas bei ihrem Terrorangriff auf Israel verschleppt. Ihre Angehörigen bitten weltweit um Unterstützung. Aber kann die Welt bei der Befreiung der Geiseln helfen?, FOCUS 44/2023, S. 44-47, Foto auf S. 44-45.