
Markus 12,28b-34
10.So. n. Trinitatis | 24.08.2025 | Predigt zu Mk 12,28b-34 | verfasst von Dr. Hansjörg Biener |
Lassen Sie mich mit zwei erfreulichen Erlebnissen aus dem Berufsalltag eines Pfarrers beginnen, die zum heutigen Predigttext passen:
(1) Manchmal hat man nach dem Religionsunterricht die Freude, dass jemand kommt und etwas nachfragt. Da weiß man dann: Da hat jemand Reli nicht nur abgesessen. Er/sie war auch innerlich dabei und hat mitgedacht.
(2) Manchmal hat man nach einem Gottesdienst die Freude, dass jemand kommt und nachfragt. Da weiß man dann: Du hast nicht über die Köpfe hinweggepredigt. Hier war jemand dabei und hat mitgedacht.
In eine ähnliche Situation führt uns der Predigttext für heute:
Es trat zu Jesus einer von den Schriftgelehrten, der ihm zugehört hatte,
„und fragte ihn: ‚Welches ist das höchste Gebot von allen?‘
Jesus aber antwortete ihm: ‚Das höchste Gebot ist das: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.‘ Das andre ist dies: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Es ist kein anderes Gebot größer als diese.‘
Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: ‚Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er [Gott] ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.‘
Als Jesus sah, daß er verständig antwortete, sprach er zu ihm: ‚Du bist nicht fern vom Reich Gottes.‘
Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.“
(Markus 12,28b-34 Luther-Übersetzung)
[Ich mag] diese Bibelstelle[, denn sie] erzählt von einem gelungenen Gespräch über den Glauben. Das ist schön und mehr, als man oft hat. Auch in den Evangelien werden viele Streitgespräche und wenige Lehrgespräche geführt. Deshalb will ich mit Ihnen zunächst diesem Gespräch nachgehen. Im zweiten Teil der Predigt geht es dann um die Frage, wie Jesus heute mit uns spricht. Eines hat der Schriftgelehrte uns ja voraus: Er konnte mit Jesus von Angesicht zu Angesicht reden. Wir können das nicht.
Ein gelungenes Gespräch über den Glauben
Zunächst zum besseren Verständnis des Bibeltexts. Schon dieses könnte eine Weise sein, darauf zu hören, was Jesus uns heute zu sagen hat:
„Es trat zu Jesus einer von den Schriftgelehrten.“
Er hat zugehört und hingehört auf das, was Jesus sagen wollte. Er war innerlich dabei und hat mitgedacht. Nun traut er sich, etwas zu fragen. Sein Anliegen:
„Welches ist das höchste Gebot von allen?“
Und schon bei dieser Frage sind wir auch bei uns. Ich weiß nicht, ob man heute noch so etwas fragen würde. Wäre das ein Anliegen „von uns“ heute? Hätten wir vielleicht sogar eine Idee? Wenn ich auf die Gesellschaft insgesamt schaue, ist mein Verdacht: Eher ginge es wohl darum, welche der „10“ [Anführungszeichen mitsprechen. Kontrast zu den später genannten Zahlen!] Gebote denn überhaupt noch unverzichtbar sind. Für Kirchenbesucher wird das anders sein. In der Jesus-Zeit war das definitiv anders, denn da wusste man noch von 613 biblischen Ge- und Verboten: Die Frage nach dem höchsten Gebot hatte es also in sich. Manche Schriftgelehrte hätten die Frage abgewiesen. Nach dem Grundsatz: „Alle 248 [!] Gebote und 365 [!] Verbote in der Thora sind wichtig, denn alle sind von Gott.“ Es gab aber auch Schriftgelehrte, die die Frage nach einem wichtigsten Gebot für erlaubt hielten. Manche haben sie sogar in eine ähnliche Richtung beantwortet wie Jesus. Im Predigttext lässt Jesus die Frage zu.
In seiner Antwort zitiert Jesus zunächst das Schma-Jisrael. Das ist das Glaubensbekenntnis, das jeder Israelit zur Zeit Jesu morgens und abends sprechen sollte:
„Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.“
Deuteronomium Kapitel 6, Verse 4 und 5. Das ist ein Zitat aus der hebräischen Bibel, die in der Christenheit als Altes Testament zu den Heiligen Schriften zählt. Aber: Das Schma-Jisrael soll nicht nur gesprochen, sondern auch gelebt werden. Und da durchbricht Jesus, wie wir gehört haben, die erfragte Rangfolge. Er setzt zwei Gebote auf Platz 1. Es folgt ein Bibelzitat, das der Schriftgelehrte ebenso kennt:
„Das andre ist dies: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘“
Levitikus Kapitel 19, Vers 18. Auf diese Weise verbindet Jesus die Gottes- und die Nächstenliebe im berühmt gewordenen Doppelgebot der Liebe.
„Liebe“ ist in der Bibel nicht zuerst ein Gefühl oder Ausdruck körperlicher und seelischer Anziehung. (Vgl. https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/liebe-liebesgebot-at) Unsere heutigen, romantischen Vorstellungen sind weit später gekommen. Deshalb kann das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe nicht als Befehl eines Gefühls verstanden werden. Gefühle kann man nicht „befehlen“, ein Handeln schon. So wie das Wort im Alten und Neuen Testament gebraucht wird, ist „lieben“ eine Grundhaltung und Umgangsform. Ich versuche mal ein paar Umschreibungen für unsere Zeit: (1) Es ist ein sich-interessieren für andere. (2) Es ist ein dabei-bleiben. (3) Es ist ein sich-auseinander- und ein sich-zusammen-setzen. In beiden Richtungen, die der Predigttext nennt, also: (1) ein steter Umgang mit Gott und (2) ein Umgang mit anderen, der Gemeinschaft bildet. Dieses Bemühen soll so dauerhaft sein, wie wir dauerhaft von uns selbst wissen, und so aktiv, wie wir uns mit uns selbst beschäftigen. Und das tun wir doch fleißig. Wir beschäftigen uns mit dem, was wir sind und wie wir aussehen, wie andere uns sehen. Wir beschäftigen uns mit dem, was wir tun, getan haben oder noch tun wollen. Im Deutsch von Beratungsspalten in Zeitschriften und im Internet: „Wir“ arbeiten Vergangenheit auf. „Wir“ optimieren uns, um Erfolg zu haben. „Wir“ erfinden uns selbst neu, wenn sich der Erfolg nicht einstellt oder die Zeiten sich ändern.
Der Schriftgelehrte nimmt die Antwort Jesu auf und zeigt dabei, dass er Jesus gut verstanden hat:
„Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.“
Der Schriftgelehrte nimmt auf, was Jesus sagt, aber er wiederholt nicht nur. Er führt weiter, und man kann feststellen, der Schriftgelehrte ist wirklich bewandert in der Schrift. Darum fließen ihm aus dem Gedächtnis die Zitate zusammen: Das Schma-Jisrael aus Deuteronomium 6, das Gebot der Nächstenliebe aus Levitikus 19 und all die vielen Stellen aus der prophetischen Kritik an der alltäglichen Gottvergessenheit der Zeitgenossen. Es war eine ständige Mahnung von Amos, Hosea und Co.: Es genügt nicht, am Feiertag fromm zu sein. Es geht auch um die Treue zu Gott und den Menschen in den Tagen dazwischen. Nur ein Beispiel aus dem Prophetenbuch Hosea:
„An Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, / an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern.“ (Hosea 6,6, Einheitsübersetzung)
Was der Schriftgelehrte antwortet, ist biblisch begründet und trotzdem mutig. Schließlich war in der Jesus-Zeit ein wichtiger Teil im Jerusalemer Tempeldienst das Opfer.
Was der Schriftgelehrte sagt, gefällt Jesus, und er würdigt den Schriftgelehrten mit einem persönlichen Zuspruch.
„Als Jesus sah, daß er verständig antwortete, sprach er zu ihm: ‚Du bist nicht fern vom Reich Gottes.‘“
Nicht fern vom Reich Gottes. Welcher fromme Schriftgelehrte wollte das nicht sein! Ich kann mir gut vorstellen, warum dieser Zuspruch nötig war. Mit den biblischen Geboten geht der Schriftgelehrte als frommer Mensch täglich um. Er erlebt, wie sie ihm manches verbieten, was andere tun. Vielleicht erlebt er auch, wie er gelegentlich dem biblischen Maßstab oder den eigenen Idealen nicht entspricht. Darum antwortet Jesus nicht nur auf die äußere Frage nach dem wichtigsten Gebot. Jesus antwortet persönlich, als er sieht, wie persönlich sein Gegenüber das nimmt. Und Jesus sagt: „Dein Bemühen, Gott und dem Nächsten treu zu sein, ist nicht vergeblich.“
Ein vorbildliches Gespräch
Der Schriftgelehrte war mit seinen Fragen und Antworten nahe am Reich Gottes. Doch wie steht es um uns? Probieren wir es aus! Stellen wir uns neben den Schriftgelehrten und Jesus und lernen wir durch Beobachten.
Die erste Beobachtung: Der Schriftgelehrte ist wirklich schriftgelehrt. Ich finde das beeindruckend. Schon damals war sein Interesse an der Bibel auch eine Frage an die Zeitgenossen. Nicht jeder studierte damals die hebräische Bibel so intensiv wie „die Pharisäer und Schriftgelehrten“. Und mehr noch: Der Schriftgelehrte im Predigttext ist immer noch bereit, mehr über Gott zu lernen. So viel Bemühen um das Wort Gottes wird von Jesus einer Antwort gewürdigt.
Eine zweite Beobachtung: Der Schriftgelehrte hört Jesus erst einmal zu. Das war damals vielleicht genauso selten wie heute, wenn über Glaubensdinge gesprochen wird. Zuerst zuhören. Nicht zuerst diskutieren. Das ist nicht so einfach. Wenn wir es besser machen wollen: Wo sind unsere Gelegenheiten, in Glaubensdingen gemeinsam auf Jesus zu hören?
Und eine dritte Beobachtung: Der Schriftgelehrte verbindet, was er verstanden hat, mit seinem Wissen und seiner Lebenserfahrung. Auch das ist vorbildlich und als Ansporn für uns wichtig. Selbst wenn wir uns in Schriftgelehrtheit nicht mit den Früheren messen können: Mindestens beim Thema Lebenserfahrung können wir von klein auf mitreden. Genau wie der Schriftgelehrte bringen wir unser Leben in den Gottesdienst und in Gespräche über den Glauben mit: All das, was in uns Gottvertrauen und Lebensmut weckte, all das, wo wir Gottvertrauen und Lebensmut verloren haben, all das, wo wir wissen, dass wir Fehler gemacht haben. Erwarten wir da ein Gotteswort für uns!
All das ist zu beobachten und zu lernen, wenn wir uns neben den Schriftgelehrten und Jesus stellen. Man könnte hier Vorwürfe hören und in den Verteidigungsmodus übergehen. Es geht uns dann so wie den anderen Menschen unseres Predigttextes. Die wagten nicht mehr, Jesus etwas zu fragen. Doch ich will die Beobachtungen nicht nur zur negativen Selbsterkenntnis verwenden. Ich will sie auch ins Positive wenden, denn Jesus geht nicht so mit uns um wie ein schlechtes Gewissen.
Der Schlüssel liegt in der Frage, wozu uns diese Geschichte erzählt wird. Zuallererst ist sie eine schöne Geschichte, [die erzählt,] wie ein Mensch und Jesus sich begegnet sind und sich verstanden haben. Damit soll uns Mut gemacht werden, unsere eigene schöne Geschichte mit Jesus zu suchen. Dabei kann es in der Tat eine Hilfe sein, wenn man sich der Bibel zuwendet. Die Bibel wird sich in den Glaubensdingen immer besser erklären, je besser man sie kennt. Das ist die alte Empfehlung des Protestantismus. Doch geht es nicht einfach darum, ein bisschen schriftgelehrter zu werden. Es geht darum, dass unser Leben mit Jesus in Kontakt kommt. Und da geht es um jeden einzelnen persönlich und damit auch um unsere ganz persönlichen Fragen. Das ist wichtig! Auch im Blick auf alle die, die nicht gut lesen und verstehen oder nicht mehr lesen oder so lange aufmerksam lesen können wie früher. Und im Übrigen wird auch nicht alles, was uns bewegt, in der Bibel bewegt. Wohl aber kann man es im Gespräch mit anderen Christen und Christinnen bewegen. Deshalb braucht es auch schöne Geschichten von Christenmensch zu Christenmensch.
Versuch einer Aktualisierung
Ich komme zum Schluss und verabschiede uns von dem Schriftgelehrten. Der Schriftgelehrte ist Jesus begegnet: Von Angesicht zu Angesicht, auf Augenhöhe, ja mehr noch von Herz zu Herz. Man hat miteinander gesprochen, und man hat sich verstanden. Das ist schön, und mehr, als man oft hat. Das Ideal eines ehrenwerten, bibelorientierten, gottesfürchtigen Lebens, wie es die Schriftgelehrten gelebt haben, war schon in der Jesus-Zeit nur ein Weg der wenigen. Für die meisten ging es damals primär ums Überleben. Nur klein war die Oberschicht, die „das Leben feiern“ konnte.
Wenn ich mich [in Deutschland] umsehe, gibt es inzwischen eine große Zahl von Menschen, die zuallererst „etwas vom Leben“ haben wollen – und dabei nicht zuerst an das Reich Gottes denken, wie Jesus einmal empfohlen hat. Darum lassen Sie mich mit einer Übertragung für einen lebenshungrigen jungen Mann enden, der von Religion keine Ahnung hat, aber vom vollen Leben:
„Es trat zu Jesus einer, der gesehen hatte, das rund um Jesus immer etwas zu erleben war. Und er fragte ihn: ‚Ich habe schon so viel [von meiner Bucket-List] gemacht. Sag mir: Was ist die ultimative Challenge?‘ Jesus aber antwortete ihm: ‚Die ultimative Herausforderung ist diese: Wer sein Leben ganz an Gott verliert, der hat das Leben. Und noch was: Du sollst das gute Leben der anderen genauso im Auge haben wie dein eigenes. Dann gibt es kein besseres Leben als dieses.‘ Und der Frager sprach zu ihm: ‚Habe ich Dich richtig verstanden, wenn ich sage: Das Glück des Lebens bei Gott zu finden und mit anderen Menschen wirklich zusammen zu leben, das wäre mehr als der Sprung am Bungee-Seil und die einsame Ekstase einer Droge. Das wäre etwas, was wirklich bleibt.‘ Als Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: ‚Du bist nicht fern vom Reich Gottes, denn Du hast schon viel vom Leben verstanden. Ich möchte Dir bei der ultimativen Herausforderung an dein Leben helfen: Komm, folge mir nach.‘ Und niemand wagte mehr, Jesus etwas zu fragen. Jeder spürte: Jesus etwas Persönliches zu fragen, würde Konsequenzen haben.“
Amen.
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Dr. Hansjörg Biener (*1961) ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und als Religionslehrer an der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg tätig. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. (Hansjoerg.Biener (at) fau.de)