
Markus 15,20-30
Von Gott verlassen? | Karfreitag | 18. April 2025 | Mk 15,20-30 | Lasse Rodsgaard Lauesen |
Die Welt war nie mehr von Gott verlassen als heute, wo Jesus am Kreuz hängt und stirbt mit den herzzerreißenden Worten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es ist, als verlöre er die letzte Verbindung zu Gott und fühlte sich getrennt von dem Vater, dem er sich stets eng verbunden fühlte. Er hatte sich ja sonst darauf verstanden, Gott vom Himmel auf die Erde herabzurufen. Jesus hatte zu den Herzen der Menschen gepredigt, ihre Krankheiten geheilt und sie wieder hinaus in das Leben gesandt mit dem Glauben daran, dass Gott auch in unserer Welt gegenwärtig ist. Aber jetzt, in seinem eigenen tiefsten Leiden, weiß er nicht, wo Gott ist.
Habt Ihr euch jemals von Gott verlassen gefühlt? Habt Ihr Augenblicke erlebt, wo Ihr die Gegenwart Gottes nicht spüren konntet? Wenn wir darüber nachdenken, haben wir vielleicht alle unsere eigenen Karfreitage gehabt, wo wir Gott anriefen, ohne dass wir meinten, eine Antwort zu bekommen. Das muss die tiefste Form von Einsamkeit sein. Wenn Gebete unbrauchbar erscheinen und Gott als eine ferne Gestalt erscheint, die nicht antwortet. Ich glaube, wir alle haben Augenblicke gehabt, wo wir gefragt haben: „Wo bist du, Gott?“ Die Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ sind deshalb auch deine und meine Worte.
Mit dem Tod Jesu stirbt auch all das, wofür er gearbeitet hat, und Gott scheint von der Erde verschwunden zu sein. Gott, der nicht nur Jesus verlassen hat, sondern auch Maria, Maria Magdalena, Johannes und alle, die ihm folgten, weil sie glaubten, dass Gott mit Jesus war und der Bewegung, zu der sie gehörten. Das Gefühl der Gottverlassenheit ist ein Aspekt des Glaubens, und sowohl im Alltag als auch in der Literatur haben Menschen versucht, die Gottverlassenheit zu begreifen. Ich möchte euch nun drei Beispiele für Gottverlassenheit bei Mutter Teresa, den Romanfiguren Niels Lyhne und Iwan Karamasow zeigen.
Als das Tagebuch von Mutter Teresa veröffentlicht wurde, was es ein Schock, dass man entdeckte, dass auch sie sich von Gott verlassen fühlte. In ihren privaten Briefen offenbarte sie nämlich Perioden mit tiefer geistlicher Krise und einem Gefühl, von Gott verlassen zu sein. Das Gefühl von geistlicher Leere und Zweifeln, das sie als eine „finstere Nacht“ beschrieb, war ein Teil ihres persönlichen Kampfes, auch wenn sie mit ihrer Arbeit fortfuhr. Denn sie konnte den Glauben bewahren trotz der „finsteren Nacht“ und des Gefühls der Verlassenheit. Denn auch wenn Gott sie verlassen hatte, war er noch immer gegenwärtig in den Taten der Liebe bei anderen und in ihrem eigenen Dienst. Oft glauben wir, dass es beim Glauben nur um Gewissheit geht, aber vielleicht geschieht es gerade in unserem Zweifel, dass der Glaube erprobt wird, wächst und entsteht.
In dem Roman Niels Lyhne des dänischen Dichters und Nobelpreisträgers J.P. Jacobsen finden wir eine andere Perspektive der Gottverlassenheit. Hier ist es der Atheist, der selbst Gott verlassen hat, aber der sich weiter verlassen fühlt. Denn immer, wenn er jemanden verliert, den er liebt, begegnet ihm das Gefühl von Abwesenheit, nicht nur die Abwesenheit der Menschen, die er verloren hat, sondern auch die Abwesenheit einer göttlichen Instanz, die Trost oder Sinn vermitteln könnte in seinem Leiden, und er fühlt sich doppelt verlassen. Er will gerne an eine Welt ohne Gott glauben, aber er fällt ihm schwer damit zu leben, dass dann alles zufällig wird.
In dem Roman Die Brüder Karamasow von Dostojewskij kämpft Iwan mit dem Gedanken an einen guten und gerechten Gott in einer Welt voller Leiden. Er verwirft nicht notwendigerweise Gott. Aber er kann nicht einen Gott akzeptieren, der das Leiden Unschuldiger zulässt. Sein Schmerz liegt nicht nur an der Abwesenheit Gottes, sondern in der Erkenntnis einer Welt, wo Gott zu schweigen scheint. Er erlebt dasselbe Paradox wie Jesus am Kreuz: Kann Gott gegenwärtig sein und zugleich weit fort zu sein scheinen? Dazu müssen wir hinzufügen, fort ist nicht weg oder verschwunden und gar tot, denn wer fort ist, nach dem kann man rufen. Und der Gläubige hat noch immer jemanden, den man anrufen kann, auch wenn Gott fort zu sein scheint – wie bei Jesus, der noch immer Gott „meinen Gott“ nennt.
Jesus war ganz Mensch und konnte sich von Gott verlassen fühlen, ja, aber er war auch ganz Gott. Deshalb kommt Gott den von Gott Verlassenen entgegen, indem er für uns am Kreuz stirbt, ohne eine Form von Schutz. Wenn wir das Kreuz betrachten, sehen wir deshalb nicht nur Leiden, wir sehen auch einen Gott, der unseren Schmerz teilt und sich in Ohnmacht offenbart. Das zeigt uns eine Wahrheit, die wir oft übersehen – Gott kann gegenwärtig sein in einer Weise, die wir nicht immer verstehen.
Im Leiden können wir deshalb Trost suchen bei Gott und ihn finden, eben weil er dort vor uns war. Und wir sollen unseren Schmerz nicht verbergen, weil wir glauben, dass Glaube bedeutet, stark zu sein. Am Kreuz sehen wir einen Gott, der nicht etwas verbirgt. Ein Gott, der sich demütigen und schwach machen lässt, weil er uns dort begegnen will, wo wir sind. Die um uns sind, können einen schwachen Gott nicht ertragen, sie reagieren mit Schweigen oder Hohn, denn wer will an einen schwachen Gott glauben? Es geht ihnen erst spät auf, dass er wahrlich Gottes Sohn war.
Wir könnten uns deshalb passend fragen: Können wir Gott im Leiden erblicken? Sind wir gut genug vorbereitet für den Tag, wo wir vielleicht unser Leben als von Gott verlassen erleben und schwach werden? Eine Strategie ist immer gewesen, dass man sein Vaterunter kann oder einen Psalm, um die Finsternis auf Distanz zu halten. Jesus zitiert ja den Psalm 22, der mit Gottverlassenheit beginnt, aber mit den Worten schließt „Denn er hat’s getan“. Vielleicht zitiert Jesus diesen Psalm, um uns daran zu erinnern, dass Gott eingreifen wird, wie gottverlassen unsere Welt auch zu sein scheint. Und er behält Recht, aber das wissen wir erst in drei Tagen.
Karfreitag schließt im Dunkel, aber die Finsternis behält nicht das letzte Wort. Wenn wir Perioden erleben, wo Gott abwesend zu sein scheint – wenn wir uns verlassen fühlen – wie Jesus am Kreuz, dann ist es leicht zu glauben, dass die Finsternis das Ende ist, dass wir allein dastehen. Aber wir sind nicht allein, auch wenn die Finsternis, die wir gesehen haben, eine gemeinsame menschliche Erfahrung ist. Und wir sind auch nicht allein in der Finsternis, Gott ist in der Finsternis. Denn Gott greift ein in unser Leben, auch wenn wir uns am meisten verlassen fühlen, dies hier ist nicht das Ende. Die Auferstehung steht uns bevor, und mit ihr kommt die Hoffnung auf einen Gott, der stets das letzte Wort hat. Amen.
Pastor Lasse Rødsgaard Lauesen
Pårup
DK-5000 Odense
E-Mail: lrl(at)km.dk