Markus 2,1-12
19.Sonntag nach Trinitatis | 26.10.25 | Markus 2,1-12 (dänische Perikopenordnung) | Von Mikkel Tode Raahauge
Vergebung zuerst
Jeder, der das erlebt hat, wird zweifellos die plötzliche Lähmung kennen, die in einem entstehen kann, wenn es geschieht. Ich denke an die Situationen, wo man sehr wohl das Gefühl hat, dass da irgendetwas in einer gegebenen Beziehung ist, was nicht ganz so ist, wie es sein sollte, und der andere dann plötzlich kommt und sagt: „Ich vergebe dir“ – am besten wo man gerade glaubte, dass in Wirklichkeit etwas ganz anderes nicht in Ordnung war. Ich glaube nicht, dass man dieses Gefühl mit vielen anderen vergleichen kann, denn es ist sehr unangenehm, und man kann nie wissen, was man mit einer solchen unvorhergesehenen Vergebung anfangen soll, um die man ursprünglich nicht gebeten hatte.
Es ist der Natur der Sache nach etwas völlig anderes, wenn man sehr wohl weiß, dass man für irgendetwas Vergebung braucht, was man getan hat oder nicht getan hat, oder was man gesagt hat oder nicht gesagt hat. Und wenn dies der Fall ist, dann ist Vergebung etwas vom Wunderbarsten und Befreiendem überhaupt, weil sie gleichsam von Liebe und Fürsorge geprägt ist. Die meisten von uns erinnern sich sicher schon an damals, als wir noch klein waren: Wenn man ein Unglück angerichtet hatte, übrigens klein oder groß, aber dennoch unter allen Umständen erschien es einem völlig unheilbar – und man warf sich seinem Vater oder seiner Mutter in die Arme und sie nahmen sich einem an, hielten einen zugleich fest und sagten etwas, was etwa klingt wie dies: „Sohn (Tochter), deine Sünden sind dir vergeben“.
Alles vergeben, alles wieder gut, und man konnte sein Leben mit gutem Gewissen weiterleben, als wäre nichts geschehen. Und seitdem haben die meisten von uns hoffentlich viele ähnliche Erfahrungen mit dieser Form von Vergebung gemacht, die voll ist von lauter Liebe und Fürsorge. Aber die unvorhergesehene Vergebung, um die man selbst nicht gebeten hatte – vielleicht weil man gerade glaubte, dass es in Wirklichkeit etwas anderes war, das man kritisieren könnte, diese unvorhergesehene Vergebung schmeckt dafür viel mehr als alles andere nach Vorwürfen und Distanz.
Wie also die Worte der Vergebung gehört werden, ob sie befreien oder lähmen, das hängt ganz und gar von dem Zusammenhang ab, indem sie fallen, und in dem Evangelium, das uns heute begegnet mit der Erzählung von dem gelähmten Mann, da klingen sie immerhin mehr nach Vorwurf und Anklage als nach Liebe und Fürsorge. Hier ist eine Schar von Menschen, die mit ihrem Lieben zu Jesus kommen in der Hoffnung, dass er ihn heilen kann. Und da sie sich nicht durch die Tür drängen können wegen der vielen Menschen, die sich dort versammelt haben, da entscheiden sie sich für die eigenartige Strategie, einfach ein Loch im Dach zu öffnen und den Gelähmten einfach auf einer Bahre hinunter zu lassen. Das ist wirklich ein Vertrauen, das ernst gemeint ist. Er muss helfen können, und ihm muss um jeden Preis geholfen werden! Aber nach all ihren vorbildlichen Bemühungen, ihn hin zu Jesus zu bringen, da tut er etwas ganz anderes als das, was sie sicher erwartet hatten. Er sagt nur: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben“.
Ich stelle mir vor, dass sie alle – einschließlich des lahmen Mannes – doch geglaubt hatten, dass es in Wirklichkeit etwas anderes war, das ein Problem war, und dass Jesus zunächst hier ansetzen würde. First things first, wie es heißt, aber statt einer Heilung seiner Lähmung muss sich der gelähmte Mann also zunächst mit der Vergebung seiner Sünden begnügen – eine unvorhergesehene Vergebung, um die er selbst nicht gebeten hatte – und man könnte es ihnen nicht verdenken, wenn sie nicht richtig wussten, was sie damit anfangen sollten. Und auch die Schriftgelehrten beklagen sich, als sie hören, dass Jesus in dieser Weise einem zufälligen Mann so einfach vergibt. Garantiert nicht, weil sie auf etwas anderes gehofft hatten oder aus mehr als das, denn sie interessierten sich ja überhaupt nicht für das Leben und Leiden des lahmen Mannes. All das ist ihnen ganz gleichgültig, aber dass Jesus in dieser Weise Gott lästert, indem er sich Gott gleich macht? Das ist unerhört.
Aber dann fragt Jesus sie: „Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin?“ Für die meisten von uns läge es näher zu fragen: „Was ist das Beste?“ Von seiner Lähmung geheilt zu werden oder die Vergebung der Sünden zu empfangen? Und was sollen wir darauf antworten? Wir wissen ja eigentlich sehr wohl, die gnädige Vergebung der Sünden, das ist die Hauptsache des Evangeliums, ja das ist in Wirklichkeit das ganze Evangelium, weder mehr noch weniger. Aber Hand aufs Herz: Wäre es dann doch nicht besser, wenigstens aus unserer Perspektive gesehen, wenn Gott erstunsere Leiden beseitigen würde, so klein sie auch sein mögen, und dann könnten wir uns danach der Vergebung der Sünden widmen? First things first …
Ich glaube, dass viele von uns geneigt sind so zu denken. Ich bin es auch selbst, aber aus der Perspektive Gottesgesehen ist es offenbar umgekehrt. Oder besser gesagt: In der Perspektive Gottes gesehen, da besteht unsere eigentliche Lähmung unser eigentliches Leiden vor allem in der Sünde. In unserer Selbstsucht und Hängen an dem, was wir haben. In unserer Neigung, all das zu übersehen, was wir getan oder nicht getan haben und all das zu überhören, was wir gesagt oder nicht gesagt haben. Und vor allem in der lähmenden Furcht davor, zuzugeben oder schlimmer noch darin entlarvt zu werden, dass man tatsächlich ein Unglück verursacht hat – groß oder klein übrigens, das aber im klaren Rückblick unter allen Umständen einem als völlig katastrophal erweist, als nicht wieder gut zu machen.
Sein Leben unter diesen Bedingungen zu leben, darin liegt bestimmt keine Befreiung. Die meisten von uns erinnern sich sicher an damals, als wir noch klein waren: Wenn ein Unglück verursacht hatten und zuweilen das Gefühl hatten, wir müssten uns vor unserem Vater oder unserer Mutter verbergen, bis wir schließlich den einzigen Ausweg wählen mussten, den wir kannten, nämlich sich ihnen in die Arme zu werfen in der Hoffnung, das Wort der Vergebung zu hören, das voll ist von Liebe und Fürsorge: „Sohn (Tochter), deine Sünden sind dir vergeben“.
Und nun ergehen diese Worte heute wieder von höchster Stelle, so wie sie damals an den gelähmten Mann ergingen. Alles vergeben, alles gut, um uns zu rufen aus der Gefangenschaft in der Freiheit, wo wir vor Gott unser Leben mit gutem Gewissen fortsetzen können, als wäre nichts geschehen. First things first; erst die Vergebung der Sünden, und dann können wir uns immer mit all den anderen Leiden beschäftigen. Und weil die Worte ergehen vom Sohn Gottes, der sich offenbar gnädig sowohl um das eine wie das andere kümmern kann und will, weil er in Wort und Tat Gott gleich ist, so ist dies unvorhergesehene Vergebung, um die wir gar nichtgebeten haben, weil wir glaubten, dass es in Wirklichkeit an etwas ganz anderem lag, so ist sie, wenn sie von ihm kommt, alles andere als Vorwurf und Distanz.
So ist Vergebung dagegen eine göttliche Zusage, dass die Arme Gottes für uns weit offen sind, ganz gleich was für Unglücke wir verursacht haben mögen, ganz gleich wir blind und taub und gelähmt vor Furcht wir sein mögen – damit wir uns stattdessen darauf konzentrieren können, zu leben, wie wir geschaffen sind. Ein freies Leben in Liebe zu Gott und unserem Nächsten, weil wir es nun wagen, darauf zu vertrauen, dass wir selbst wie auch unser Nächste im Namen Jesu die gnädige Vergebung der Sünden hat. – auch wenn wir selbst anfangs nicht darum gebeten haben. Ja, so ist sie in Wirklichkeit das ganze Evangelium. Weder mehr noch weniger – und noch nie haben wir sonst Ähnliches gehört. Amen.
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Pastor Mikkel Tode Raahauge
Skovshoved, DK 2930 Klampenborg
Email: mitr(at) km.dk