Markus 2,14-22

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Der Ruf Levis | 17. Sonntag nach Trinitatis | 22.09.2024 | Mk 2,14-22 | Rasmus Høgh Dreyer |

Woher kommt unsere Existenz? Oder formuliert in unserer alltäglichen Sprache: Wie werde ich zu einem Ich? Das Wort Existenz ist ein typisches Pastorenwort, das in unserer alltägliche Sprache Eingang gefunden hat. Mein Leben ist meine Existenz.

Wörtlich bedeutet Existenz, dass man aus sich selbst herausgerufen ist. Also dass jemand mich herausgerufen hat zu etwas anderem als dem, was ich an sich bin. Eben dies geschieht im heutigen Text aus dem Markusevangelium.

Levi, der Sohn des Alphäus wird aus seinem in den Augen seiner Zeitgenossen erbärmlichen Dasein als Zöllner und Handlanger der Römer herausgerufen. Levi wird mit den Worten gerufen, mit denen Jesus stets seine Jünger zu einer neuen Identität ruft: „Folge mir“, nicht dir selbst. Und Levi erhebt sich und folgt ihm, steht da.

Es wäre schön, wenn wir hier alle etwas Griechisch könnten – denn eben dies sich erheben wird mit demselben griechischen Wort ausgedrückt, das auch für die Auferstehung Jesu verwandt wird. Levi erhebt sich von einem toten Sein-für-sich-selbst zu einem Sein-für-andere. Oder wiederum: Levi beginnt zu existieren. Ihm wird Existenz zuteil, weil er aus sich selbst heraustritt.

Die Art und Weise, wie wir heute das Wort Existenz verwenden, stammt in gewisser Weise von dem dänischen Theologen Søren Kierkegaard. Ursprünglich ist Existenz kein Wort, das etwas mit unserem Dasein und Menschenleben zu tun hat. Für Kierkegaard bedeutet es einfach hervortreten, also dass etwas sichtbar und existierend wird für unsere Augen. Aber Kierkegaard hebt zwei besondere und miteinander verbundene Züge der Existenz für uns Menschen hervor, die auf unser gegenwärtiges Verständnis des Begriffs verweisen. Das bedeutet, wenn ich existiere, bin ich immer „im Werden“. Werden bedeutet bekanntlich, dass etwas unterwegs ist und unfertig, beginnend, veränderlich – ja etwas in dem Sinne, wie wir es im Vaterunser beten: „Geheiligt werde dein Name …“.

Das bedeutet zudem, dass ich als ich selbst, also als existierender, nie damit fertig bin, ich selbst zu sein. Andere können nicht mein Leben leben, ich muss selbst die Verantwortung dafür übernehmen. Und hier müssen wir die Ohren spitzen – denn Verantwortung bedeutet gerade, dass wir jemandem verantwortlich sind. Anders gesagt: Ich muss von jemandem herausgerufen werden, und auf diesen Ruf muss ich antworten.

Eben darum geht es in der Geschichte von der Berufung Levis, und das will sie uns zeigen. Die christliche Auffassung vom Menschen bedeutet, dass wir jemand sind kraft dessen, wer wir vor Gott sind – und wer wir deshalb gegenüber anderen sind, denen wir als Götter begegnen. Levi ist Richter, Gott und sich selbst genug als römischer Zöllner. Er verrät damit seine Landsleute und Glaubensgenossen, die Juden. Jesus sieht jedoch, dass er mehr ist und anderes als dieser Sünder – dass Levi auch ein Mensch vor Gott ist – und deshalb ruft ihn Jesus hinaus ins Leben und die Tischgemeinschaft.

Ich möchte versuchen zu erzählen, was ein solcher Ruf an dich zu dir selbst bedeutet. Erstens bin ich ja schon ein bestimmter Mensch. Ich bin Rasmus, Levi ist Levi. Zweitens aber werde ich erst ich selbst, wenn ich eine andere Stimme als meine höre, die mir erzählt, dass ich dem betreffenden etwas bedeute. Und im allerhöchsten und besonderen Maße gilt dies, wenn ich als Mensch von Gott berufen bin. Dieser Ruf ist es, den ich – mehr als das, was ich geschaffen, getan und gesagt habe – mit allen Menschen gemein habe. Der Ruf Gottes, von dem wir in der Berufung Levis durch Jesus hören, gilt somit dem eigentlich Menschlichen. Nicht das Besondere an mir wird berufen oder gerufen. Nein, es ist das Menschliche an mir, das Jesus in mir hervorruft, ja in jedem Menschen hervorruft, der Ohren hat zu hören (wie er zu sagen pflegt).

Ein großer amerikanischer Denker (Francis Fukuyama) hat einmal gesagt, in unsrer Zeit habe „der Standpunkt an Boden gewonnen, dass das authentische innere Selbst [also mein eigenes Ich] von einem rein innerlichen Wert getragen ist, während es die äußere Gesellschaft ungerecht beurteilt“. Mit anderen Worten halten wir es heute für problematisch, vielleicht kränkend und beleidigend, wenn das Besondere an mir nicht hervorgehoben wird. Wir könnten sagen, dass in dieser heutigen Attitüde gilt, dass andere Menschen oder die Gesellschaft als solche das Besondere an mir respektieren sollen. Es ist dieser Drang nach Anerkennung meiner besonderen Identität, den wir mit der Identitätspolitik verbinden. Das bedeutet, dass alle anderen mich und meine positive Andersheit sehen und akzeptieren sollen. Dieser Drang nach Anerkennung hat freilich nicht nur positive Seiten. Er läuft nämlich die Gefahr, das zu überstrahlen, was wir gemeinsam haben, sei es das Menschliche, unser Land, unser Glaube, die Familie, Stadt usw.

Der dänische Humorist Storm Pedersen hat in dieser Hinsicht Recht, wenn er in einer seiner Aphorismen sagt:

„Es ist eine verrückte Welt, im der wir leben“.

„Sie ist, wie sie immer war, wir sind es, die verrückt sind“,

Ja, so war die Welt immer aus den Fugen geraten, weil wir Menschen sie bewohnen. Wir wollen gern gesehen werden.

Lasst mich wieder auf Levi als Beispiel zurückkommen: In den Augen Christi ist es nicht das Besondere an Levi, was ihn zu etwas Besonderem macht – all das bedeutet ja nichts für Jesus. Die Gnade Gottes übersieht alles, was wir definiert haben; er übersieht alle sozialen Statussymbole und Besonderheiten, die mir nun einmal eigen sind. Jesus übersieht, wer ich gerne sein will, und ruft mich in eine dauerhafte und stets neu beginnende, werdende und erneuernde Existenz. Wir könnten die Worte Jesu an Levi – „Folge mir“ – so übersetzen: Vergiss dich selbst, vergiss dein einzigartiges Ich – dann wirst du ein neues Leben mit anderen und für andere bekommen. Weil du wiedererkannt bist als ein Mensch wie alle anderen Menschen.

Ich glaube, das Heilige und Universelle im Menschen ist nicht, wer ich bin; das Heilige ist vielmehr das Unpersönliche, das Allgemeinmenschliche in einem Menschen. Wir sind geschaffen von demselben Gott – wir sind in den Augen Gottes gleich. Alles Unpersönliche in mir, das ist all das, was mir gegeben ist, was mir erzählt wurde, was ich aus der Vergangenheit übernommen habe.

Denkt euch: Mein ganzes Leben ist übernommen. Ich habe es von Gott bekommen, es wurde mir von meinen Eltern erzählt und geformt. Das Menschliche in meinem Leben ist das, was ich bekommen habe, in das ich eingetreten bin und wozu ich geworden bin. Es ist nicht die Person Rasmus H.C. Dreyer, in der Gott etwas ganz Besonderes sieht, oder von der ich – ok, vielleicht manchmal aus reiner Eitelkeit – möchte, dass anderes etwas Besonderes sehen. Was Gott in mir und dir – und in Levi sieht, ist das Allgemeinmenschliche. Oder wie es der Apostel Paulus in einer berühmten Stelle formuliert: „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Christus“ (Galater 3,26-28).

Paulus versucht uns zu erklären: Wenn wir auf Christus getauft sind, sind wir auch gleich mit Christus. Also haben wir im Glauben eine Gleichheit im waagerechten Sinne, d.h. untereinander. Und eine Gleichheit die sozusagen nach oben reicht: Wir sind gleichgestellt mit dem eigenen Sohn Gottes und dürfen Gott unseren Vater nennen. Die Taufe ist somit unser Halt. Von hier aus bewegen wir uns wie ein Schiff um den Ankerplatz. Aber immer fest verankert und in Veränderung zugleich.

Der Leiter der dänischen Heimvolkshochschule Krogerup Rasmus Meyer schlug vor einigen Jahren einen neuen Begriff vor; Bereitschaft für Veränderung. Meyer sieht es als eine Aufgabe der Heimvolkshochschule, junge Menschen auf Veränderung vorzubereiten, verankert in sinnschaffenden und verpflichtenden Gemeinschaften. Ich glaube, er hat Recht. Der Mann von der Hochschule übersieht nur die alte grundtvigsche Pointe, dass wir durch das Verhältnis zu Gott Menschen werden. Das Soziale, die Gemeinschaft macht nur Sinn, wenn es in etwas aufgehoben ist, was größer ist. Wenn die sozialen Unterschiede, die individuellen Vorzüge oder Mängel aufgehoben sind. Und das ist nur möglich für Gott.

Denkt an Levi. Der Ruf Gottes gab seinem Leben Sinn und hob sein altes Leben auf. Jesus übersah seine Besonderheit – wir könnten sagen seine Sünde. Aber der Ruf Jesu war eine Wiedererkennung Levis als Mensch unter Mitmenschen.

Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård ist weder Theologe noch gläubig, aber er versteht genau, was Christentum ist, nämlich die Gnade, diese Gnade, die Jesus Levi erwies. Knausgård schreibt:

„Die Gnade ist der Gegensatz des Sozialen… das Soziale ist ein System von Unterschieden… die Gnade hebt alle Unterschiede auf, in ihr sind alle gleich. Die darin enthaltene Radikalität ist so groß, und der Gedankengang, der dahintersteht, so verschieden von allem anderen, dass es eigentlich unmöglich zu fassen ist, was das bedeutet. Aber darum und um nichts anderes geht es im Christentum“. Amen.

Rasmus H.C. Dreyer, PhD,

Dozent am Predigerseminar Aarhus

Hatting/Horsens, Dänemark

Email: rahd (at) km.dk