
Markus 4,35–41
«Dieses Boot ist voll.» | 4. Sonntag vor der Passionszeit | 09.02.2025 | Mk 4,35–41 | Dörte Gebhard |
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Liebe Gemeinde
Es heisst bei Markus im 4. Kapitel:
35 Und [Jesus] sagt zu [seinen Jüngern] am Abend dieses Tages: Lasst uns ans andere Ufer fahren. 36 Und sie liessen das Volk gehen und nahmen ihn, wie er war, im Boot mit. Auch andere Boote waren bei ihm. 37 Da erhob sich ein heftiger Sturmwind, und die Wellen schlugen ins Boot, und das Boot hatte sich schon mit Wasser gefüllt. 38 Er aber lag schlafend hinten im Boot auf dem Kissen. Und sie wecken ihn und sagen zu ihm: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen? 39 Da stand er auf, schrie den Wind an und sprach zum See: Schweig, verstumme! Und der Wind legte sich, und es trat eine grosse Windstille ein. 40 Und er sagte zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben? 41 Und sie gerieten in grosse Furcht, und sie sagten zueinander: Wer ist denn dieser, dass ihm selbst Wind und Wellen gehorchen? (Zürcher)
Dieses Boot ist voll!
Es ist dunkel und es ist spät.
Es beginnt zu stürmen.
Jetzt sind aber viele in Gedanken schon weit weg – im Kindergottesdienst/in der Christenlehre/in der Sonntagsschule.
Aber segelt nicht gleich ganz davon!
Dieses Boot ist voll.
Es ist dunkel. Ist es schon zu spät?
Es beginnt im Kopf zu stürmen, weil eine menschenverachtende, politische Parole anklingt.[1]
Bleibt trotzdem an Bord!
I Dieses Boot ist voll …er Jünger.
Dieses Boot ist voll …er Jünger.
Dieses Boot ist voll …er Menschen wie du und ich.
Vergleichen sollten wir uns am ehesten mit den Jüngern.
Setzen wir uns am besten zu ihnen ins gleiche Boot, auch wenn es davon noch stärker schwankt als sowieso schon.
Die Jünger sind tatsächlich überwiegend jünger als wir.
Damit sind die Gemeinsamkeiten aber fast schon zu Ende.
Viel mehr fallen die vielen Unterschiede zwischen den jungen Männern auf.
Die einen unter ihnen sind Geschwister: Simon und Andreas sind Brüder, ebenso Jakobus und Johannes. Sie sind miteinander aufgewachsen, haben ihr ganzes bisheriges Leben miteinander verbracht. Sie kennen sich. Mit allen Vor- und Nachteilen, die das hat.
Die anderen sind sich zuvor wahrscheinlich nie begegnet. Sie kennen sich noch kaum. Wieder mit allen Vor- und Nachteilen, die das hat.
Keiner von ihnen hat sich diese Gemeinschaft von 13 Männern ausgesucht. Keiner hat Gelegenheit gehabt, die anderen zuvor wenigstens kurz kennenzulernen.
Keiner konnte prüfen, worauf er sich einlässt.
Als ich Studentin war, habe ich jedenfalls bei jedem Umzug in eine neue WG immer genauer nachgefragt, wer dort alles wohnt und mitwohnt und dazugehört.
Was teilen diese Jünger überhaupt miteinander?
Sie teilen ihre gegenwärtige und künftige Heimatlosigkeit.
Sie teilen die Trennung von ihren Familien.
Sie teilen ihre Besitzlosigkeit.
Sie teilen ihre Schutzlosigkeit jeglichen Anfeindungen gegenüber.[2]
Sie teilen miteinander, was sie alles nicht haben – und dazu ihre ganze Lebenszeit. Bei jedem Wetter.
Nein, sie sind nicht durch ähnliche oder gar gleiche Interessen verbunden wie z.B. eine Fussballmannschaft.
Nirgends ist die Rede davon, dass sie sich untereinander total sympathisch sind oder sofort allerbeste Freunde wurden. Im Gegenteil, Konkurrenzkämpfe um den besten Sitzplatz brechen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aus. Sie sind sich nicht sehr einig und kannten das Projekt der «versöhnten Verschiedenheit» aus dem 20. Jahrhundert noch nicht.
Nun sitzen diese sehr Verschiedenen alle im gleichen Boot.
Es beginnt zu stürmen.
Es ist dunkel und es ist spät.
In diesen wenigen Worten ist die Lage der Menschheit genauer erfasst als es irgendeine wissenschaftliche, umfassende Statistik mit Analyse oder ein stundenlanger Film über die ganze Welt es je könnte.
Alle im gleichen Boot – und es muss übervoll gewesen sein, wenn wirklich alle 13 Männer in einem Boot abgefahren sind. Denn die Fischerboote am See Genezareth waren eher nur für fünf bis zehn Personen ausgelegt, konnten gerudert oder gesegelt werden. Ein solches Boot aus der Antike hat man im Hafen von Magdala aus dem Schlick geborgen.[3] Keinesfalls zu gross für so viele Menschen.
II Unser Boot ist voll …er Angst
Da erhob sich ein heftiger Sturmwind, und die Wellen schlugen ins Boot, und das Boot hatte sich schon mit Wasser gefüllt.
Wenn der See Genezareth in der Morgensonne glitzert, kann man es sich nicht ausmalen. Aber es gibt Gefahren, die wir uns nicht im Entferntesten vorstellen können und die dennoch real sind. Wegen grosser Temperaturunterschiede zwischen Wasser und Land kommt es gegen Abend oder in der Nacht zu teils heftigen Wirbelstürmen auf dem See, die durchaus Unwetterpotential haben. Dann ist eine solche Sturmstillung lebensrettend.[4]
Unser Boot ist inzwischen nicht nur voller Wasser.
Unser Boot ist übervoll von Todesangst.
Dabei sind immerhin vier Jünger an Bord, die Jesus von ihren Fischernetzen weg berufen hatte, die sich also mit Wind und Wellen, auch mit starkem Wind und hohen Wellen, auskennen sollten. Es sind die beiden Brüderpaare, die keinesfalls die erste Nacht auf dem Wasser sind: Simon und Andreas, Jakobus und Johannes. Aber auch sie bestehen offenbar nur noch aus Angst.
Erlerntes? Hundertmal Erlebtes? Versammelte Fachkompetenz? Alles Fehlanzeige!
Bei solchem Wellengang spielt es keine Rolle, ob man schwimmen kann oder nicht. Eher, wie gut man sich festhalten kann, um nicht über die Reling gespült zu werden.
Für einmal sind die Jünger alle einig – in ihrer Angst.
Markus überliefert alles sehr kurz und knapp, aber er hätte wohl aufgeschrieben, wenn einige Mutige noch irgendetwas selbst versucht hätten: das Boot wieder leer zu schöpfen oder wenigstens das Segel zu retten.
Helmut Gollwitzer, Theologe im 20. Jahrhundert, hat offenbar auch einmal im gleichen Boot gesessen und bei Sturm festgehalten:
«Ab Windstärke zehn gibt es keinen Atheisten mehr.»
Windstärke zehn bedeutet: schwerer Sturm. Haushohe Wellenberge, schwere Brecher. Die See ist weiss von fliegender Gischt.
Da wecken die Jünger den offenbar stark überanstrengten und übermüdeten Jesus. Wer sonst könnte auf einem durchgeweichten Kissen auch nur einen Moment weiterschlafen?
Ich weiss nicht, was Ihr Euch überhaupt und wie Ihr Euch Gott bei Euren Stossgebeten in höchster Not vorstellt. Aber Markus malt uns ein dramatisch-einleuchtendes Bild von diesen Augenblicken, in denen es um Leben und Tod geht. Wenn wir – erfüllt von Todesangst – schaffen zu beten, sitzen wir mit den Jüngern im gleichen Boot. Dann wecken wir im Chaos der tobenden Elemente den schlafenden Jesus. Er wacht nicht auf von Nässe, Kälte, Lärm oder den umwerfenden Wellen. Aber er lässt sich wecken von der Angst seiner Jünger. Sogar, wenn sich die Todesangst in einen Vorwurf verwandelt.
Und sie … sagen zu ihm: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?
III Gott ist an Bord
Es ist dunkel.
Es ist spät.
Plötzlich ist es still.
Unser Boot ist immer noch voll – nun aber von Ehrfürchtigen.
Es heisst nach der Sturmstillung:
Und sie gerieten in grosse Furcht, und sie sagten zueinander: Wer ist denn dieser, dass ihm selbst Wind und Wellen gehorchen?
Gott ist an Bord.
Er sitzt in Jesus Christus mit uns im gleichen Boot.
Wir glauben es nicht, wir wissen:
Gott erspart uns die Nacht und den Sturm nicht.
Er wartet, bis wir ihn wecken mit unserer Angst.
Gott mutet uns zu, dass wir beten.
Dafür teilt er mit uns die Heimatlosigkeit in einer Welt, in der alles wankt.
In Jesus Christus teilt mit uns die Erfahrung zerrissener Familien, durch Flucht und Vertreibung, in aller Lebensgefahr und auch in tiefer Resignation.
Er teilt in Jesus Christus die totale Schutzlosigkeit, mit der Menschen z.B. wegen ihrer Hautfarbe oder wegen ihrer Religion oder ihrer Herkunft leben müssen.
Gott teilt allen, die nichts haben, seine Liebe mit.
Gott ist an Bord. Die Jünger haben – für einen Moment – keine Angst, sondern staunen ehrfürchtig. Und wir sind dabei.
Denn wir sitzen im gleichen Boot … in der Kirche.
Einige Kirchen im Norden, z.B. in Ahlbeck auf der Ostseeinsel Usedom, haben eine sogenannte Spitztonnenholzdecke. Statt an eine flache Decke schaut man nach oben wie in ein Schiff hinab. Es wirkt, als sässe man unter einem umgekehrten Bootsrumpf.
Manchmal beschleicht mich der Gedanke, dass die Kirche insgesamt einem gekenterten Boot gleicht. So, als ob die Kirche kopfüber auf dem Wasser treibt, steuerlos den Stürmen ausgeliefert.
Nichts blieb der Kirche im Laufe der Zeit bis heute erspart.
So oft war es dunkel. So oft schon schien alles zu spät.
Wir glauben es nicht, wir wissen: Früher war keinesfalls alles besser. Paulus bewahrt uns mit seinem 2. Brief an die Korinther ziemlich nachhaltig vor dieser Idee. Wir haben von seinen Leiden in der Lesung gehört.
Aber ganz gleich, in welchem Zustand das Boot ist oder wie wild die Wellen der Welt toben:
Gott ist nahe.
Er lässt sich wecken von uns, wenn wir schreien vor Angst.
Gott mutet uns zu, dass wir beten.
Unser Boot ist tatsächlich voll – auch Paulus und seine Leute sitzen mit drin. Auch dieser Apostel hat die Angst durchlebt und wie die zwölf Jünger zur Ehrfurcht gefunden. Er schreibt im Rückblick auf den lebensbedrohlichen Sturm in seinem Leben:
Wir bezweifelten, überhaupt mit dem Leben davonzukommen.
Und wir dachten schon,
das Todesurteil wäre über uns gesprochen.
Wir sollten aber lernen,
nicht auf uns selbst zu vertrauen.
Auf Gott sollten wir vertrauen,
der die Toten auferweckt.
Er hat uns vor dem sicheren Tod gerettet
und wird es wieder tun.
Auf ihn setzen wir unsere Hoffnung,
dass er uns auch in Zukunft retten wird. (2. Kor 1,8b–10 = Lesung)
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in jeder Gefahr in Christus Jesus. Amen.
PD Dr. Dörte Gebhard, Pfarrerin in Schöftland/Schweiz
Mail: doerte.gebhard@web.de
[1] Vgl. zu «Das Boot ist voll.»: https://www.swissinfo.ch/ger/politik/fluechtlingspolitik-im-zweiten-weltkrieg_75-jahre-nach-das-boot-ist-voll/43549998, abgerufen am 3. 2. 2025.
[2] Vgl. Strecker, Christian: Berufung (NT), in: wibilex. Quelle: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/49978/, abgerufen am 3. 2. 2025.
[3] Vgl. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Boot_vom_See_Genezareth, abgerufen am 3. 2. 2025.
[4] Vgl. https://www.die-bibel.de/ressourcen/efp/reihe1/4-vor-passionszeit-markus-4, abgerufen am 3. 2. 2025.