
Matthäus 21,1-9
Der Lobgesang angesichts des Leidens | Palmarum | 13.04.2025 | Matthäus 21,1-9 (dänische Perikopenordnung) | Marianne Christiansen |
Seht nun, jetzt fangen wir an, wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr, als wir jetzt wissen.
So beginnt das große Märchen von Hans Christian Andersen „Die Schneekönigin“ über die kleine Gerda, die auf nackten Füßen allein in die Welt geht und schließlich direkt in das eiskalte Schloss der Schneekönigin, um ihren kleinen Freud zu befreien.
Nun beginnt die Geschichte, und sie wird uns klüger machen – oder wird sie das? Oder ärgert uns H.C. Andersen, weil wir immer glauben, dass es darum geht, klüger zu werden? Denn die Geschichte von der Schneekönigin handelt davon, dass es eben nicht das ist, was du weißt, und wie klug du geworden bist, das dich erlösen kann, sondern nur die Liebe, die in den Tod gehen will, um dich zu finden. Und die kann man nicht begreifen. Die kann man nur annehmen und auf sie hören. Vielleicht dann auch an sie glauben.
Seht also, nun reitet Jesus hinein nach Jerusalem, und wir werden Ostern feiern und noch einmal die Geschichte hören und erleben. Wir wissen, er ritt hinein unter Jubelrufen nach Jerusalem, das sich damals wie heute nach Gerechtigkeit, Frieden und Heilung sehnte. Da war wirklich jemand, der glaubte und hoffte, dass er Befreiung bringen würde für die Besetzten und Unterdrückten und Heilung für die Kranken, der eine gerechte Gesellschaft schaffen würde. Und dann waren da Leute, die etwas ganz anderes wollten und seinen Tod planten – das wusste er wohl auch selbst.
Wir wissen schon jetzt, dass er in wenigen Tagen zu Tisch sitzen wird mit seinen engsten Freunden, die ihn alle, jeder, verraten werden, einer schlimmer als der andere. Ihr hört schon jetzt, dass die Freudenrufe in den Straßen, als er hineinritt in das Schloss der Schneekönigin oder das Zentrum der Macht – sich verwandelten in taktfeste Rufe: Kreuzigt ihn, kreuzigt ihn! Denn so sind die Menschen. Und denken wir daran, wie weit unser eigener Mut und unsere Tapferkeit reichen, dann wissen wir auch sehr wohl, dass wir so sind. Wir wissen, dass dies mit Schmerz, Tod und Trauer endet.
Aber nein, das endet eben nicht dort, denn dann kommt der überraschende Schluss: Als alle Hoffnung aus und die Geschichte zu Ende war, stand er auf von den Toten, das Grab war leer, der gefangene Freund befreit. Im Sonnenaufgang kam er durch das Gras gehend von einem anderen Ort als man erwartete und grüßte: Guten Morgen.
„Seht nun, jetzt fangen wir an, wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr, als wir jetzt wissen“ – nein, das tun wir so gesehen nicht. Wir wissen alles schon jetzt, und deshalb wagen wir es, die Geschichte zu erzählen, weil wir glauben und hoffen, dass sie – dass dies alles gut endet im Sonnenaufgang der Auferstehung. Aber vielleicht sind wir zugleich auch etwas verzagt, weil wir sehr wohl wissen, dass nicht wir es sind, die die Geschichte gut enden lassen, und dass uns eher selbst in den zweideutigen Rollen wiederfinden als frohe Anhänger, die Hosianna rufen, wenn das Wetter gut ist und viele mit uns rufen – und dann die sind, die sich aus dem Staube gemacht haben, wenn es wirklich gilt und unser Held sich als ein Verlierer erweist.
Wir wissen es sehr wohl. Trotzdem wiederholen wir es. Die Geschichte wir erzählt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Geschichte wird jedem Kind erzählt in der Taufe: In der Vergangenheit, was Jesus durchmachte; in der Gegenwart, dass du ihm gehören sollst und wir der Kirche angehören sollen, die stets von Ostern erzählt; in der Zukunft von Hoffnung und ewigem Leben, wo Christus kommt und Gericht hält und dem Bösen und der Ungerechtigkeit ein Ende bereitet.
Wir wiederholen die Erzählung, die die Welt änderte und ändert und ändern wird. Jedes Märchen, das seitdem erzählt wird von dem jüngsten Sohn, den niemand schätzte, ihm, der kein Pferd bekam, sondern nur einen Ziegenbock oder einen Esel, der aber dennoch der wurde, der schließlich die Prinzessin befreite und zum Helden wird, oder von den kleinen Mädchen mit nackten Füßen, das seinen Freund befreit – alle diese Geschichten sind Nachklänge des Evangeliums vom Einzug Jesu in Jerusalem.
Das hat jedoch nicht die Welt so verändert, dass keine Tyrannen mehr alle Grenzen überschreiten, sie werden bejubelt und verachtet, dass ändert nichts an ihrem Willen, die Welt zu zerstören und andere zu unterdrücken. Können wir wirklich daran glauben, dass Worte die Welt verändern können? Vielleicht erst wenn wir den Glauben daran verlieren, dass es anderes gibt, das dies kann – Geld, Waffen, Übermacht. Wenn all dies sich als leere Macht erweist, die überhaupt nicht zum Besseren wenden kann, sondern nur zerstören kann – erst dann können wir das Wort hören, das sanftmütig geritten kommt als Jesus Christus. Mit ihm kommt die Hoffnung, die etwas anderes als Gewalt, Geld und übermächtige Technologie Sinn macht. Etwas anderes, das wachsen wird mit einer Kraft wie Löwenzahn aus Ruinen. Dafür haben wir nur Worte, die uns stets erzählen, dass wir auf dem Wege sind durch das Leiden zur Auferstehung.
Dieser Weg ist Jesus und seine Geschichte. In der hören und sehen wir, wer Gott ist – und wir können es sogar singen:
Weil du die Krone göttlicher Herrlichkeit dir nicht genommen.
Weil du erwählt hast, arm und geschmäht zu sein, weiß ich, wer Gott ist.
Weil du herabkamst zu den Verurteilten, zu den Geplagten,
weiß ich, dass niemand hier ganz verlassen bleibt, weiß ich, wo Gott ist.
Es werden darum alle Gewaltigen einmal bekennen,
Welten und Wesen und was noch kommen soll: Herr ist nur Jesus.[1]
Seht nun, jetzt fangen wir an – und wir fangen damit an, dass wir den Schluss kennen – wer Gott ist: Dass der Ohnmächtige der Allmächtige ist. Da beginnen wir in der Taufe – heute und an allen Tagen. Diese Geschichte ist nicht Vergangenheit. Sie ist unsere Geschichte, das Märchen unseres Lebens, die Lebensgeschichte der Welt. Gott erzählt sie, und Jesus Christus ist Anfang und Ende, Alpha und Omega. Schließlich werden alle Gefangenen befreit, und alle Opfer erfahren Genugtuung.
Deshalb wagen wir es, in das Hosianna einzustimmen und teilzuhaben an der Freude von Palmarum, ganz gleich was kommt und wo wir uns selbst befinden und in der Geschichte sehen, als froh und befreit oder als die, die nicht erleben, wie sich die Kehle zusammenschnürt in Trauer oder aus Furcht davor, wie es uns selbst und der Welt gehen wird, oder aus Scham darüber, dass wir nicht so sind oder sein können, wie wir nach unserer Meinung sein sollten. Da ist vieles, was den Lobgesang in einem kleinen Menschen ersticken kann, so dass man schließlich meint, dass meine Stimme überflüssig ist.
Das ist sie jedoch nicht. Jeder von uns hat Teil an der Geschichte Christi – von der Wiege bis zum Grabe zum Tod zum Leben. Das gilt für alle Wesen und Welten, und auch für mich. Wenn wir ganz am Ende der Geschichte sind, wissen wir sicher mehr als jetzt, aber gerade jetzt wissen wir genug, um mit dem Anfang zu leben und dabei zu sein als eine kleine einzigartige Stimme in der Geschichte und in dem Gesang und als jemand, zu dem Christus gekommen ist, kommt und kommen wird, um ihn zu befreien.
Ehe wir den Blick nach innen wenden und uns selbst ergründen, sollten wir vielleicht damit beginnen, Ohren und Augen und Sinne zu öffnen, spüren, dass die Sonne auf die Haut scheint, dass der Vogel singt, der nicht Gedanken und Verstand hat wie wir, aber Lebenskraft und die einzigartige Aufgabe, ein kleiner Vogel zu sein. Ein einziger kleiner Vogel von zwanzig Gramm kann so viel Klang hervorbringen, dass er denn Sinn eines Menschen mit der ganzen Kraft des Frühlings trifft. Eine Anemone, die das Gesicht zur Sonne öffnet.
Sollten wir komplizierten und verwickelten Geschöpfe mit dem schweren Kopf und dem verletzlichen Körper dann nicht das Haupt und den Lobgesang noch mehr erheben in Dankbarkeit, dass wir eben jetzt unter der Sonne existieren, gerade jetzt gemeinsam mit der übrigen Schöpfung singen und dafür danken, dass wir existieren und alles existiert und eben jetzt da ist.
Und mehr als das. Sollten wir nicht wie Kinder und Säuglinge und betrunkene Leute – von denen man die Wahrheit hört – Hosianna singen, dem Heiland und Versöhner, weil wir noch mehr wissen vom Schöpfer und dem Licht als Vögel und Blumen. Wir haben gehört, dass er in die Welt gekommen ist und in das Herz hineinreitet, um zu heilen.
Denn gewiss ist es wahr, dass der Lobgesang der unmündigen Kinder gleichsam in unseren Mündern mit der Zeit verstummt, weil wir mit dem Alter erfahren und erleben, dass sie die Kehle verschnürt – aus Furcht davor, wie es uns selbst und der Welt ergehen wird, oder weil wir uns dafür schämen, dass wir nicht so sind oder sein können, wie wir meinen sein zu sollen – wir können uns sogar dafür schämen, dass wir nicht mehr froh sein können wie Kinder, weil das Leben uns mit Krankheit oder Tod getroffen hat, oder weil wir Unglück und Böses verschuldet haben oder Opfer von Bosheit wurden. Da ist vieles, was den Lobgesang verstummen lassen kann in einem kleinen Menschen, so dass man schließlich meint: Auf meine Stimme kann man wohl verzichten. Der Lobgesang ist für die Glücklichen und Kinder und einfältige Toren, die die Welt noch nicht kennen.
Wahrlich. Wenn wir die Strahlen der Sonne spüren, denken wir auch an die globale Erwärmung und unsere Schuld daran. Wenn wir die Vögel hören, denken wir an die Kürze unseres Lebens und das Frühjahr, das längst vorbei ist und nie wiederkommt, und wenn wir die Blumen sehen, denken wir daran, wie verletzlich das Leben ist angesichts von Gewalt und Bosheit, und wie wenig dazu gehört, die schönen Blätter zu zertrampeln und zu zerstören.
Wenn wir an Palmarum den Gesang der Kinder hören und die Rufe aus Jerusalem an den Mann auf dem Esel: Hosianna du, Davids Sohn, dann erinnern wir uns auch daran, dass dieselben Stimmen wenige Tage später in den Ruf einstimmten: Kreuzigt ihn, kreuzigt ihn, als er ihnen als geschundenes dornengekröntes Tortur-Opfer vorgestellt wurde.
Doch eben deshalb sollen wir Menschen mit dem schweren Bewusstsein den Lobgesang der Kinder und Unmündigen singen. Denn es ist der Verlierer, das Opfer, der Geschundene, für den wir singen. Wir loben den Gott, der sich nicht fernhält von den Leidenden und dem zerstörten Leben, sondern sich dort hineinbegibt, um den Tod zu überwinden und das Böse und die Schuld zu überwinden und das Leben neu zu schenken: Vergeben und aufgerichtet, mehr noch als das, was der Vogel des Frühlings weiß – die Welt versöhnt mit Gott aus seiner Liebe.
Das ist in Ordnung. Du darfst mitsingen. Du sollst den Lobgesang wahrnehmen, auch du, der weiß, dass es meistens in Tränen endet, wenn du beginnst. Für das Leben, das kommende Frühjahr.
Das Glück und das Leben, die sind auch da, wenn du es nicht sehen kannst. Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Er kommt, wenn es am Finstersten ist, und er kommt zuletzt. Und deshalb können wir jeden Tag lobsingen in der Erwartung des neuen Tages und letztlich in Erwartung des ewigen Lebens. Amen.
Bischöfin Marianne Christiansen
Ribe Landevej 37
DK-6100 Haderslev
Email: mch(at)km.dk
[1] Dänisches Gesangbuch Nr. 57, Übersetzung (Jürgen Henkys) Deutsch-Dänisches Kirchengesangbuch Nr. 57