Matthäus 25,31-46
Letzter Sonntag im Kirchenjahr | 23.11.25 | Matthäus 25,31-46 (dänische Perikopenordnung) | Von Jan Sievert Asmussen
Gnadengabe des Vergessens
Menschen mit gutem Gedächtnis sind anstrengend. Sie bemerken genau, was du sagst und tust. Sie können jederzeit darauf zurückkommen und es dir vorwerfen: Ich erinnere mich, du hast mehrmals eines gesagt und anderes getan. Ich erinnere mich an deine frommen Versprechen. Ich erinnere mich, dass du mich immer wieder enttäuscht hast. Dieses und jenes aus der Vergangenheit wird aufgezählt, und mit jedem Vorwurf schränkt sich deine Freiheit ein. Dein Gegenüber kennt seine Leute.
Solche Menschen mit gutem Gedächtnis tun sich oft schlau auf Kosten anderer. Sie haben jedoch auch selber ihre innere Bilanz über eigene Versäumnisse, und die Liste wächst ständig. Es taucht auf in unbewachten Momenten. Nachts, wenn die Türen zum Inneren offenstehen. Mit jedem Selbstvorwurf wird die Gefangenschaft schwerer. Nichts lässt sich ungeschehen machen. Du hast gewählt, gehandelt und gesprochen, so wie du es getan hast. Keiner kann Worte zurücknehmen, denn sie haben den Mund verlassen. Der Selbstvorwurf ist die schwerste Seelenqual. Immer wenn ein Hauch von Optimismus aufkommt, kann die Erinnerung an das letzte Mal dich erdrücken. Du kaufst neue Topfpflanzen, aber auch die vorigen gingen ein. Du beginnst begeistert mit einem neuen Hobby, aber aus allen Schränken quillt es mit halbfertigen Projekten.
Das Gedächtnis hat immer Recht. Seine Tyrannei ist wohlbegründet und gerecht. Der zünische Ton desjenigen, der dich daran erinnert, was du selbst vergessen hast, ist zwar herb, aber ganz berechtigt. Dennoch gibt es einen Wunsch, der sich meldet bei jedem neuen Schritt, den wir tun, selbst wenn es nur eine weitere Zirkelbewegung ist: Lass diese neue Idee, lass diesen neuen Plan etwas wirklich Neues sein. Lass mich in der Vorstellung leben, dass der Tisch rein ist und alles nochmals ganz völlig offen liegt.
Es gibt nichts, womit wir nicht schon gescheitert sind. Wir sind gebunden. Das Wort „Sünde“ ist der religiöse Begriff für diese Bindung: Du bleibst, was du warst. Du kannst keinem überraschen. Alles, was du bist, ist bereits bis zum Überdruss bekannt. Deshalb wird der Morgen so sein wie der gestrige. Von dir selbst kommst du nie los. Die Vergangenheit hat dich im Griff.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was Befreiung, Vergebung und Erlösung bedeuten kann. Nicht umsonst stammt das Wort Erlösung (dänisch „frelse“) von „freier Hals“, d.h. frei vom Halsring des Sklaven, der nicht über den Kopf gezogen werden kann, sondern von außen durchgesägt werden muss. Die Befreiung von dem Würgegriff des Gedächtnisses deiner selbst und der anderen braucht eine Art des Vergessens. Plötzlich hört dein Peiniger auf, dich für das Vergangene zu tadeln. Gütig geht die Zeit weiter. Oder jemand sagt: „So, jetzt wollen wir nicht mehr an diese Sache denken, jetzt ist es vergessen zwischen uns.“
So erlebt man Vergebung: Obwohl das Verübte eigentlich gesehen immer noch ausgegraben werden kann, ist es absichtlich vergessen und wird nicht mehr hervorgeholt. Es wird immer noch erinnert, aber es sind nicht die Sünden der Vergangenheit, die in Erinnerung bleiben. Stattdessen wird nach vorne gedacht.
Was uns am Leben hält, ist dass es jemanden gibt, der nach vorne gedenkt; der an das denkt, was Paulus in der heutigen Epistel „ewigen Trost und gutes Hoffen“ nennt (2Thess 2,16). Dass es noch Möglichkeiten gibt. So werden wir gestärkt, schreibt Paulus, zu allem, was wir tun müssen. Was geschehen, getan, zerstört und verloren ist – es verschwindet nicht aus der Welt, wird aber wie am sicheren Ort aufbewahrt, wovon es nicht mehr hervorgeholt wird. Das ist es, was wir in der Kirche unter dem Gericht Gottes verstehen.
Jesus erzählt von Menschen, die zum Gefängnis kommen und einen Gefangenen treffen, den Jesus „den Menschensohn“ nennt. Wie reagieren sie? Auch hier geht es um Gedächtnis und Vergessen, ja geradezu um Selbstvergessenheit.
Gedächtnis: Das ist, zum Gefangenen im Gefängnis Stellung zu nehmen. Ein Gefangener? Was hat er wohl getan, seit er hier sitzt? Verdient er wirklich unsere Hilfe? Sicher nicht! Und falls wir ihm helfen, werden wir es auf keinen Fall versäumen, bei jeder Gelegenheit darauf zu verweisen, dass wir für unsere Güte erinnert werden sollten.
Aber so spricht nur, wer an das Gedächtnis gebunden ist und die Sünde am Gefangenen festbindet. Ins Gefängnis kommen auch andere, die vergessen haben: Sie haken nicht der Identität und den Verdiensten des Gefangenen nach. Sie überlegen auch nicht ihre eigenen Verdienste. Es gibt nur dieses Jetzt, in dem einem Gefangenen Brot und Wasser gereicht wird.
Es ist eine große Befreiung, in dieser Obhut solcher Besucher zu sein. Daher lobt Jesus diese Leute, die vergesslich sind, sowohl in Bezug auf andere als auf sich selbst. Das genau ist Gnade und Erlösung und Vergebung: Dass wir nicht für unsere Übertretungen zur Rechenschaft gezogen werden, sondern dass es für uns einen Ort gibt, an dem wir leben können ohne die schwere Last der Vergangenheit. Ja, mehr noch: Im Gleichnis erinnert der Menschensohn sie an das, was sie getan haben. Aber ihre Antwort besteht nicht in einer Aufreihung ihrer guten Taten. Stattdessen rufen sie aus: „Äh, was haben wir eigentlich getan?“ Es ist bereits vergessen und nicht in einem biederen Gedächtnis festgehalten.
„Vergebt einander – wie der Herr euch vergeben hat, so sollt ihr es auch tun“, sagt Jesus. Gott ist der bewusst Vergessliche, der selbst die großen Versäumnisse unter den Teppich kehrt: Sie sind nicht mehr und stehen nicht zwischen Gott und uns. Wir müssen lernen, es ebenso zu tun: Alles Erinnerte abzulegen und einander nach bestem Vermögen die Möglichkeit geben, neu anzufangen, ohne einander an die Vergangenheit festzubinden.
Anderen so zu begegnen, wie in Vergessenheit, ohne fixiertes Vorwissen: Dazu ermutigt uns Gott, der uns bereits in Vergessenheit aufgenommen hat. Von dort kommt die Kraft, unser eigenes bitteres Gedächtnis abzulegen und erneut zu vertrauen.
In dieser Woche, die heute beginnt, endet das alte Kirchenjahr. Ein neuer Advent beginnt. Denke einmal ein Jahr zurück, zum letzten späten Herbst. Jedes einzelne Ereignis seit damals ist jetzt Teil der Geschichte. Irgendwo, wir sagen: Bei Gott ist es aufgeschrieben. Aber das alles soll vergessen sein. Sonst könnten wir vor lauter Erinnerung nicht leben. Sonst könnte der Gott, der alles neu macht, nichts Neues machen. Zu Weihnachten gibt Gott sich noch einmal an eine Welt hin, an eine eigentlich widerlich dicke Akte in Gottes Gedächtnis. Wie ein neugeborenes Kind, das alles neu macht, indem es von vorn beginnt und unbelastet ist von den Sünden der Vergangenheit: So kommt Christus zu uns. Jeden Tag „zum ewigen Trost und zur guten Hoffnung.“ Amen.
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Pastor Jan Sievert Asmussen
DK-3520 Farum
E-mail: jsas(at)km.dk