Matthäus 6,25-34

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„Lilien-Momente“ | 15. Sonntag nach Trinitatis | 08.09.2024 | Mt 6,25-34 | Martina Janßen |

I. „Sorgt euch nicht!“ Tun wir aber. Wir sorgen uns, sorgen vor, sichern uns ab, versichern uns. Die Zahlen sprechen für sich. 183.040 Versicherungsvermittler gibt es in Deutschland (01/24; statistica); 1569 Euro gaben deutsche Haushalte 2022 durchschnittlich im Monat für Versicherungen aus. Da wird mit allem gerechnet. Die Top 7 Versicherungen – neben der Krankenversicherung – sind: Private Haftpflicht (83%), KfZ (81%), Hausrat (76%), Rechtsschutz (46%), private Unfallversicherung (42%), Berufsunfähigkeit (26%) und Risikolebensversicherung (17%). Es gibt auch exotischere: Knöllchenversicherung, Brillenversicherung oder Hochzeitsversicherung (z.B. „Hanse/Merkur“ bis 25.000 Euro; gilt auch für Silberhochzeit u.a.; ab 25 Euro monatlich). Die zahlt beim Beinbruch des Brautvaters. Bei Trennung der Brautleute zahlt sie nicht. Zu riskant darf das Ganze nicht sein, dann werden auch die Versicherer unsicher. Wir sorgen uns, sichern uns ab: sicher in den Urlaub starten dank Routenplanung und Reiserücktrittsversicherung, sorgenfrei in die Zukunft blicken dank privater Altersvorsorge, finanzieller Vorsorge und Vorsorgeuntersuchungen, neue Projekte wagen dank Planungssicherheit. „Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet.“ Tue ich aber. Ist mein Essen fair und gesund? Werde ich nach diesem Espresso noch schlafen können? Habe ich beim Verreisen die richtige Kleidung im Koffer, um für jedes Wetter gewappnet zu sein? Kann ich das wirklich anziehen, ohne Anstoß zu nehmen – rote Pumps zum Talar? Sich sorgen, sich versichern. Ist das nicht menschlich gerade in unsicheren Zeiten? Habe ich Gestern alles richtig gemacht, werde ich Morgen alles richtig machen? „Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen; denn seinen Freunden gibt er es im Schlaf.“(Ps 127,2). Wirklich? Fällt mir das himmlische Manna einfach in den Schoß? Als Kind hatte ich mir vor einer Klassenarbeit das Mathebuch unters Kopfkissen gelegt, statt zu lernen, frei nach dem Motto. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Diese Rechnung ging nicht auf. In der zweiten Stunde am nächsten Tag kam dann das böse Erwachen und ein paar Tage später bei der Rückgabe der Arbeit die Abrechnung. „Sorgt euch nicht.“ Klingt das nicht ein bisschen zu „laissez-faire“, zu „easy going“? Das Leben ist doch anders. Einfach wachsen wie die Lilien auf dem Felde, sein wie die Vögel unter dem Himmel? Schön wäre es, aber ist das nicht zu leicht, zu leichtsinnig? Oder um es mit den Worten der Songwriterin Connie Converse zu sagen und zu fragen: „I have considered the lilies, I have considered how they grow. Tell me, tell me how to be a lily. If you know.“

II. „Erst die ganz Alten könnens vielleicht: In der Sonne sitzen, im Grünen und Blauen des Maitags, der durchblüht ist von Düften und Farben, und frei sein von der Bestätigungssucht, vom Darstellungszwang auf der Bühne des Lebens, die Beifall verheißt.“ (Eva Strittmatter). Vielleicht muss man es erst lernen, vielleicht braucht es ein ganzes Leben, um zu erkennen, worauf es ankommt. Altersweisheit eben. Ich sehe meinen alten Nachbarn vor mir, auf einer Bank im Garten an einem Frühlingstag, die müden Augen geschlossen, ein Lächeln umspielt die Lippen und die gebrechlichen Hände, die einst so viel geliebt, gearbeitet und gelitten haben, ruhen halb geöffnet auf dem Schoß so als wollten sie die Sonne einfangen. Und wenn ich ihm dann komme mit all den kleinen und großen Sorgen, all den Zielen, all dem Zögern und dem Zaudern, dann klopft er mit der Hand einladend auf den freien Platz auf seiner Bank und sagt: „Mien Deern, dat löpt sich allens torecht.“ Und dann sitzen wir beide da, schmunzeln und schweigen, lassen uns von der Sonne streicheln und gucken der Apfelblüte beim Blühen zu. Einfach leben wie die Lilien auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel.

III. „Sorgt euch nicht um euer Leben.“ Wenn all das Alltägliche ruht, man sich und anderen nichts mehr beweisen muss und das Karussell aus Wünschen, Pflichten und Sorgen stillsteht, werden einem Momente geschenkt, in denen Leben nichts als leben ist. In einer Auszeit vielleicht, einer freien Woche oder einer Stunde am Tag, wenn man alles abschaltet, was einen in Gang hält, wenn die Sorgen von einem abfallen und man die Hamsterräder der Welt einfach laufen lässt. „Dat löpt sich allens torecht.“ Nicht fragen: komme ich an, bei mir und bei anderen? Einfach innehalten, da sein im Moment, offen sein. Einfach blühen, atmen, leben. Lilien-Momente. Die werden einem geschenkt, wenn es einem ganz gut geht – oder ganz schlecht. Nehmt hin und lebt. Es gibt sie, diese Lilien-Momente auch in Betonwüsten und sterilen Klinikfluren, die blühen unter Gottes Schutz und Schirm in Schnee und Sturm, zwischen Felsen und Stein bis an die Ränder der Nacht. „Wenn ich krank gewesen bin // (Sehr krank und in Krankenhäusern) // Kannte ich gut den Lebenssinn // Und er war einfach zu äußern: // Licht auf der Haut. Und der grüne Duft von Fichtennadelseife.// Und die Freiheit zu gehen in irdischer Luft, //die ich atmend begreife. / Und Sonnenwärme ist fast schon zu viel. // Und ein Ereignis der Morgen. // Und Leben leicht wie ein zielloses Spiel. // Und Hysterie sind die Sorgen, // mit denen man sich die Tage vergällt // und die Freude am Dasein vernichtet. // Und wunderbar ist das Bild dieser Welt, //wenn man es richtig belichtet.“ (Eva Strittmatter).

Das kann dann der Sinn von allem sein. Der Duft von Fichtennadelseife, das träge Atmen flirrender Sommerwiesen, widerhallende Schritte, „das Gehen ein Tanz, das Wort ein Gesang“ (Michel Houellebecq). Die Dichter ahnen es und die Denker. Leben ist Gegenwart. „Nur die Gegenwart ist; das Vor und Nach ist nicht. […] Die wahrhafte Gegenwart ist somit die Ewigkeit.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel). Es gibt Momente in meinem Leben, die waren ganz kurz und flüchtig, die sind mir in den Schoß gefallen, haben sich in mein Herz genagt und in mein Hirn gebrannt. Die schmecke und spüre ich als sei ich noch mitten drin. Wenn mich jemand fragt, wann warst du glücklich, sage ich: dann – in diesen lichten Momenten, wo Leben nichts als leben ist: „I’ll walk around wearing the morning sun // The sun by day // The moon by night // And blooming would be my delight!“ (Connie Converse).

IV. „Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen. Sorgt euch nicht.“ Nichts wollen, nicht müssen, vielleicht auch nichts können. Einfach leben ohne Angel, ohne Köder, weder den Fang von Gestern wiegen noch die Netze in die Zukunft auswerfen. Nicht daran denken, was habe ich verpasst und versäumt, was könnte ich Morgen gewinnen oder verlieren? Das geht nicht immer, so ist es nicht auf unserer Welt. „Glückseligkeit besteht nur in Augenblicken“ (Caroline Schlegel-Schelling). Es mag ja meistens sein wie es immer ist, all das Planen und Prüfen, das Sorgen und Versichern. Aber manchmal muss man es sein lassen, das Prognostizieren und Evaluieren hinter sich und gut sein lassen. „Dat löpt sich allens torecht.“ Manchmal muss man leben wie die Lilien, sich ohne doppelten Boden ins hier und jetzt fallen lassen: „They never toil, they only bloom // They never feel chilly //Or tired or silly.“(Connie Converse). Das hat nichts mit Pflichtvergessenheit, der Beherrschung von Entspannungstechniken, Work-Life-Balance-Strategien oder der sorgfältigen Lektüre von Wellness-Ratgebern zu tun. Das hat mit Vertrauen zu tun. „Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.“ (1 Petr 5,7). In Gottes Hand ist immer mehr als Verwehn’n und Vergeh’n. Ich kann meine Hände in den Schoß legen und für Gottes Segen öffnen. Nehmt hin und fühlt: Das Spiel von Wind und Licht auf der Haut, den Regen auch. Nehmt hin und seht das Licht: das Grünen und Blauen eines Nachmittags im Mai, durchblüht von Düften und Farben. Nehmt hin und spürt des Nachts: „Einige Tropfen himmlischer Ruhe aus den Augen der Sterne träufeln herab“ (Sophie Mereau-Brentano). Hier und jetzt und in Ewigkeit. „Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat“. Und sein Glück, das Gute, Gottes Güte. „Schmecket und sehet, wie freundlich der HERR ist.“ (Ps 34,9).

Amen

Predigtlied „Geh aus, mein Herz“ (EG 503,1-2.9-10)

Nachweise der Zitate:

  • „Die Alten können’s vielleicht…“: Eva Strittmatter, Mai in Pišt’any, Berlin 1986, S. 73.
  • „Wenn ich krank gewesen bin…“: Eva Strittmatter, Die eine Rose überwältigt alles. Gedichte, Berlin/Weimar 31979, S. 128.
  • Das Gehen ein Tanz“: Michel Houellebecq, Suche nach Glück. Gedichte, Hamburg 2003, S. 133.
  • Nur die Ewigkeit ist…“: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss (Theorie Werkausgabe 9), Frankfurt a. Main 1970, S. 51f.
  • „Glückseligkeit besteht nur…“: Caroline Schlegel-Schelling [hg. v. Sigrid Damm], „Lieber Freund, ich komme weit her schon an diesem Morgen“, Leipzig 1979, S. 112.
  • „Einige Tropfen himmlischer Ruhe…“: Sophie Mereau-Brentano [hg. Katharina von Hammerstein], „Wie sehn’ ich mich hinaus in die weite Welt“, München 1996, S. 87.
  • „I’ll walk around wearing the morning sun“: Connie Converse: „I have considered the lilies“ (https://www.youtube.com/watch?v=Tmo7__7Y-gc).

PD Dr. Martina Janßen

dr.martina.janssen@evlka.de