
Matthäus 6,25–34
Sorget nicht – oder doch? | 15. Sonntag n. Trinitatis | 08.09.2024 | Mt 6,25–34 | Thomas Bautz |
Liebe Gemeinde!
Im Deutschen unterscheiden wir ziemlich genau zwischen verschiedenen Dimensionen des Sorgens:[1] Man sorgt sich um das Wohl der Kinder, um ihre Zukunft; man sorgt sich um die betagt gewordenen Eltern; sind diese inzwischen pflegebedürftig, wird die Sorge sehr konkret, mitunter belastend und man stößt an seine eigenen Grenzen, nicht nur finanziell. Ob Pflegeheim oder häusliche Pflege ist in Einzelfällen schwer entscheidbar. Viele Familien haben aus Platzgründen gar keine Möglichkeit, ihre Eltern daheim, meist ohnehin mit Hilfe einer Pflegekraft, zu versorgen. Die Unterbringung in einem Pflegeheim birgt aber für viele ein großes finanzielles Risiko.
Wichtig ist, dass sich die Großfamilie rechtzeitig – auch mit einer guten Pflegeversicherung – auf die eine oder andere Möglichkeit vorbereitet. Dazu gehört unbedingt Kontaktpflege seitens der Eltern, denn es ist ein Trugschluss, dass die Atmosphäre in einem Pflegeheim automatisch wirksam einlädt, dort neue Kontakte zu schließen. Auch wenn der dortige Sozialdienst sehr kreative Angebote für die Bewohner bietet – die Realität zeigt: Wer vorher eher kontaktarm lebte, wird sich im Seniorenheim auch eher zurückziehen, sich einigeln, keine Initiative für neue Kontakte aufbringen.
Diese Vorbedingung oder Konstellation macht es für das Pflegepersonal und für die Angehörigen nicht leichter: Sie wollen ihrer Pflicht zur Fürsorge nachkommen, möchten sich professionell um die ihnen anvertrauten Senioren kümmern; auch die Familie fühlt sich zur Fürsorge verpflichtet. Erfolgt die Pflege daheim, kann sich die Fürsorge, verbunden mit Zuneigung, durchaus zur Sorge entwickeln: Wie werden wir das alles schaffen?! Zumal es freilich an Professionalität mangelt, während ein Heim auch Entlastungsfunktion hat, besonders wenn beide Kinder berufstätig sind. Manchmal arbeiten die Kinder in einer anderen Stadt, mitunter weit entfernt; dann kann es zur Entfremdung kommen. Diese Beispiele zeigen, dass es eine Dimension der Sorge, nämlich für und um jemanden gibt, die mehr als berechtigt ist und uns in die Pflicht nimmt.
Leider wird das Wort „Sorge“ bei uns auch missbraucht, wenn es etwa floskelhaft verwendet wird: „Nun mach dir mal keine Sorgen, es wird schon!“ – „Keine Sorge, du schaffst das schon!“ Solche Worte sollen angeblich ermutigen oder trösten. In Wahrheit vermitteln sie dem Betroffenen seine Schwäche: Warum kann dieser Mensch die Probleme nicht einfach in die Hand nehmen?! Außerdem entlasten solche Sprüche von der eigenen Verantwortung, denn man könnte doch Hilfe anbieten und auf diese Weise wirkliche Sorgen gar nicht erst aufkommen lassen oder sie minimieren. Ein anderes Problem besteht darin, dass Menschen verlernt haben, über ihre Sorgen und Probleme zu sprechen.
Bloß nicht über Sorgen und Probleme reden. Die Leute könnten denken, man sei ein Jammerlappen, ein Hypochonder, wenn es um medizinische Probleme geht, oder man sei ständig unzufrieden, was natürlich auch der Fall sein kann. Wer vermag das zu unterscheiden? Dauernde Unzufriedenheit kann mitunter ein Indikator für tiefer liegende Probleme sein. Das Gefühl der Unzulänglichkeit: Schwach und gebrechlich: das Alter fordert seinen Tribut; entwurzelt: der eigenen Wohnung, dem vertrauten Heim entrissen. Die bange Frage: Ist mein Leben noch lebenswert? Spukt im Kopf herum, beherrscht Denken und Wahrnehmung als Sorge schlechthin. Diese Sorge lähmt, schnürt den Betroffenen peu à peu die Kehle zu; Altersdepression ist sehr verbreitet.
Diese bedrohliche, weil das Leben hemmende Sorge befällt heutzutage alle Altersgruppen, außer den Senioren, in Variation auch Kinder und Jugendliche: Sie fühlen sich unzulänglich, haben Angst, in der Schule zu versagen, werden depressiv. Das ist kein neurotisches „Sich-Sorgen-Machen“, wie wenn sich jemand ständig Sorgen macht, womöglich über ein- und dieselbe Sache, Person oder über ein Ereignis, dessen eventuelles Eintreffen (noch) gar nicht im Bereich des Möglichen liegt.
Nach allgemeinem Verständnis ist „Sorge“ elementar verbunden mit Besorgen und Versorgen; man besorgt sich Lebensmittel für den täglichen Bedarf oder auf Vorrat – im Wohlstandsland Deutschland meist im Übermaß. Davon wird später viel weggeworfen. Etwas sorgsamer (!) kümmert man sich um Einrichtungsgegenstände für das Wohnen und selbstverständlich um ein Auto. Es gibt nur einen Ort, wo man zurückgezogen, in Freiheit wohnen und sein Leben individuell einrichten kann. Und das Auto ist nach wie vor des Deutschen liebstes Kind!
Auch der Staat hat eine gewisse Fürsorgepflicht,[2] oder? In manchen Bereichen vermisst man diese Fürsorge des Staates bzw. der von ihm beauftragten Ministerien und Gremien: die Wohnungsnot allen voran. Man kann nicht wirksam etwas ändern, solange Rechtsgrundlagen zugunsten der Immobilienhaie bestehen und so weiterhin der Mammon, das unrechtmäßig erworbene Kapital, diesen lebensnotwendigen Bereich beherrscht. Wie ignorant muss man sein, um solche Nöte der meisten Bürger zu verdrängen oder nur sporadisch anzugehen?!
Verstärkte Fürsorge wäre auch dringend notwendig in den Lebensbereichen, wo extremer Mangel herrscht: Lehrermangel; Mangel an Auszubildenden im Handwerk; Mangel an Pflegekräften; Mangel an Personal für den Öffentlichen Nahverkehr (Bahn und Bus). Woran es dagegen offenbar nicht fehlt, ist die nicht unbeträchtliche Anzahl der Berufe und Personen, die auf Kosten vieler Bürger, besonders der Kleinverdiener und des Mittelstandes leben, sich an ihnen bereichern. Eine Demokratie sollte die Bürger noch konsequenter vor Cyber-Kriminalität, vor Betrugsmaschen im Internet und vor anderen Betrügereien im Bereich von Vertragsabschlüssen, die absichtlich nicht transparent sind, schützen.
Es heißt: „Der Staat greift danach ein, wenn sich Menschen in Not befinden und bedürftig sind. Insbesondere die Zahlung von Sozialhilfe oder Wohngeldzahlungen an einkommensschwächere Mieter beruhen auf dem Fürsorgeprinzip.“[3] Dennoch bleiben viele Menschen nicht ausreichend versorgt, auch wenn man an Grundversorgung im Gesundheitswesen oder an Vermittlung von Arbeitsstellen denkt. Fürsorge und Versorgung haben aber eine Kehrseite; sie sind ambivalent.
Mit Fürsorge des Staates durch Behörden und Einrichtungen sind über die Jahrzehnte auch die Ansprüche in der Gesellschaft enorm gestiegen. Nicht jeder ist bereit, für geringen Lohn oder überhaupt zu arbeiten, wenn die staatliche Unterstützung (Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe) ausreicht. Es wird dann vergessen, dass Arbeit oder eine Beschäftigung Sinn vermittelt und das Selbstbewusstsein stärkt. Hier müsste bereits die Schulausbildung einer grassierenden Tendenz Abhilfe schaffen, wonach das Leben vorwiegend an materiellen Bedürfnissen orientiert ist: Eine vertiefte Sinn- und Wertevermittlung sollte gegenüber reinem Wissenstransfer Priorität haben.
Heidegger geht so weit, das Dasein als Sorge zu bestimmen, weil es nicht aus abstrakten Prinzipien erfolgt, sondern in der Selbsterfahrung des Menschen begründet ist. Die Sorge ist dabei für ihn vor allem Sorge um das Selbst und in Form der Fürsorge für den Anderen. Die Fürsorge kann dabei in zwei Varianten auftreten, nämlich als einspringende Fürsorge, welche dem Anderen die Sorge abnimmt, was für diesen jedoch zur Abhängigkeit führen kann, oder aber sie kann für den Anderen vorspringen, so dass sie nämlich dem Anderen hilft für seine eigene Sorge frei zu werden.[4] Wie zum alltäglichen Besorgen die Umsicht gehört, so eignet der Fürsorge die Rücksicht und Nachsicht. Mitsein ist also um willen Anderer, Besorgen um willen seiner selbst.
Lévinas sieht die „Nahrungssorge“ nicht als Selbstsorge; sie ist „nicht gebunden an eine Sorge um die Existenz“. „Das Nahrungsbedürfnis hat nicht die Existenz zum Ziel, sondern die Nahrung.“ Dafür sorgt (!) die Biologie. Man hat Hunger und isst. Das Bedürfnis kann sich ausweiten: In einem reichen Land, wo man aus dem Vollen schöpft, werde ich egoistisch, „ohne Bezug auf Andere“, „vollständig taub für Andere“, für verhungernde Kinder in Afrika, Asien, Nord- und Südamerika. Man „verweigert die Kommunikation“[5] den Diktatoren gegenüber, die jegliche Verantwortung ablehnen. Und die Politik und Gesellschaft der reichen Länder tolerieren größtenteils diese Zustände, weil sie wichtige Güter aus diesen desolaten Ländern beziehen. Es bedarf einer gründlichen Veränderung der Weltordnung.[6]
Man muss dieses Dilemma, diesen inhumanen Widerspruch immer wieder ansprechen und sich vor Augen führen, dass dieses Faktum, das Lévinas stellvertretend für viele ausspricht, im Grunde nur für die ohnehin Satten, überreichlich Satten zutrifft: Das Nahrungsbedürfnis sei nicht die Sorge um die eigene Existenz. Für einen riesigen Anteil der Weltbevölkerung fällt die Sorge um die Nahrung aber mit der Sorge um die Existenz zusammen. Menschen, die um etwas Brot, Reis und Wasser kämpfen müssen, haben faktisch schon in den Augen der Machthaber und Militärs ihr Existenzrecht verloren. Die Vereinten Nationen sprechen von Verletzung der Menschenrechte: Man redet und handelt nicht. Solange das fatale Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat bestehen bleibt, werden weiterhin als hilfreich gedachte Resolutionen unwirksam bleiben.
Welche Dimension der Sorge spricht Rabbi Jesus an? Sind die ersten Worte schon eine Provokation? Wohl kaum, wenn wir Sorge als Selbstsorge zur Deckung der Grundbedürfnisse betrachten. Doch ist Vorsicht geboten, denn der Hintergrund für diese Worte der Bergpredigt: Sorget nicht … ist die reale Situation der Landarbeiter (und Kleinbauern) im Palästina des 1. Jh.[7] Hilfsarbeiter und Tagelöhner empfangen ihre Arbeitsaufträge bereits am frühen Morgen; wer später kommt, geht leer aus. Dann wird die Sorge um Nahrung existentiell: Nur wenig Vorrat an Getreide, Brot in Jerusalem noch teurer als vor Ort; sogar das Wasser kostet seit Monaten Geld, seitdem die Quelle versiegte. Was sollen wir anziehen? Man möchte wenigstens zum Sabbat sauber erscheinen, und Kleidung ist ohnehin teuer geworden. „Die Bedeutung der Sorge um das tägliche Leben kann für diese Zeit nicht überschätzt werden.“ „Denn die Tagelöhner müssen sich um das Existenzminimum sorgen.“ Ihre Sorgen und die „Sorgen der Reichen sind nicht dieselben.“[8]
Aber dann spricht der Nazarener das Surplus an: „Sorget nicht um euer Leben, was ihr esst (oder was ihr trinkt), auch nicht um euren Leib, was ihr anzieht! Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung“ (Mt 6,25).
Das eigentliche, qualitative (andernorts: ewige) Leben ist ein Überschussangebot; es bietet weit mehr als Menschen erwerben können. Das Angebot, das Jesus anbietet, vermag jede Nachfrage zu toppen. Das wirkliche Leben, das sich nicht an Erfüllung der Grundbedürfnisse, schon gar nicht am Wohlstand orientiert, lässt sich nicht – vielleicht zum Ärgernis des Big Business – mit Geld erwerben. Es bedarf aber einer Entscheidung: Will ich nach den Gesetzen der Wall Street oder der Frankfurter Börse oder nach Kriterien einer vollkommen anderen Dimension leben? Eins der provokantesten Jesusworte findet sich kurz zuvor (Mt 6,24):
„Niemand kann zwei Herren dienen. […] Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“
Es ist kein sorgloses, verantwortungsloses Leben, sondern ein freies, selbstbestimmtes, sorgenfreies Leben, das sich nicht um das Morgen sorgt, „denn das Morgen wird auch seine eigene Sorge haben. Es reicht, daß jeder Tag seine eigene Plage hat“ (Mt 6,34).[9] Schaffe ich es, nach diesen Worten zu leben? Damit ich mich in der Gegenwart nicht um die Absicherung des Morgen kümmern muss? Bin ich frei für die Sorgen meiner Familie? Was bedeutet es, angstfrei zu sorgen, nüchtern zu planen und Finanzielles mit Notwendigem abzuwägen? Das Wort „Gottvertrauen“ ist mir zu wenig aussagekräftig, aber einige Menschen würden es so nennen, wenn man das „Sorget nicht“ zu leben versucht.
Ich betrachte es als ein „unverschämtes“ Privileg, sorgenfrei leben zu dürfen; die Grundbedürfnisse werden befriedigt. Gleichermaßen bin ich erschüttert darüber, wie riesig die Überangebote bei uns an Lebensmitteln, Kleidung, Möbel und Autos sind, meist auf Kosten der ausgebeuteten Arbeiter – darunter erschreckend vielen Kindern –, die in armen Ländern für ein Hungerlohn dafür schuften müssen. Warum begehren die Regierenden der demokratischen Staaten nicht dagegen auf? Werden hier nicht Menschenrechte verletzt? Oder geht es unausgesprochen nicht doch nur um Erhaltung unseres Wohlstands?! Die Gesetzmäßigkeiten der Weltwirtschaft sind alles andere als gerecht und schon längst zeitigen sie paradoxe Fehlentwicklungen wie die Überfluss- und Wegwerfgesellschaft. Es gibt Menschen, die leben von ihrem Müll, tauchen in die Mülltonnen, finden oft noch Essbares.[10]
Es beschleicht vermutlich viele von uns das Problem, die Forderungen des Nazareners in unsere Verhältnisse zu übersetzen oder zu übertragen. Das betrifft vor allem einen weiteren Kernsatz des Evangeliums in der Bergpredigt (Mt 6,33):
„Trachtet (strebt) zuerst nach der Herrschaft Gottes und seiner (Gottes) Gerechtigkeit, dann wird euch alles andere dazugegeben.“ („Euch aber muss es zuerst um sein Reich […] gehen […].“)[11]
Wenn wir gerecht handeln, schließt es Gottes Handeln ein: Gott wird seine Herrschaft aufrichten und gegenwärtig, „gleichsam als Zugabe“, „Speise und Kleidung schenken“. Die irdischen Gaben sind (allerdings) gegenüber dem Königreich Gottes „sekundär“.[12] Dazu sei nochmals das anstößigste Wort Jesu aus der Bergpredigt genannt (Mt 6,24): „Niemand kann zwei Herren dienen. […] Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Und dann heißt es: Sorget nicht … (Mt 6,25)!
Es geht doch nicht darum, dass ich weder Selbst- noch Fürsorge walten lassen soll; wir haben das schon hinreichend ausgeführt. Es geht auch nicht darum, größtenteils auf Geld zu verzichten oder sich dem Wanderradikalismus der Jünger Jesu oder später dem Mönchtum zu verschreiben. Es geht wie so oft im Leben nur sekundär um das Was, aber primär und verbindlich um das Wie: Nicht das Geld ist per se betrügerisch erworbener Mammon, sondern unsere Art, damit umzugehen und vor allem die Tatsache, wie wir uns von den Gesetzen des Geldes, des Marktes, des Kapitals abhängig gemacht haben; ja, wie wir – die einen weniger, die anderen mehr – egoistisch, verwöhnt, immer anspruchsvoller geworden sind. Paradoxerweise sind Menschen in der freien Marktwirtschaft, im Kapitalismus von Sorgen durchdrungen, erstaunlicherweise auch von denen, die Jesus ansprach.[13]
Es gibt Menschen, die besorgt sind und schlecht schlafen, wenn sie nicht mindestens fünftausend Euro auf dem Girokonto ihrer Bank haben. Von mir aus kann jemand eine halbe Million oder noch viel mehr auf seinem Konto haben. Ich möchte ihn oder sie aber gern fragen, ob ein Teil, im Idealfall sogar ein größerer Teil dem Allgemeinwohl dient, etwa durch Förderung wichtiger Projekte, die sich inzwischen weltweit zugunsten der Armen, Hungernden und zugunsten der Umwelt organisieren. In einem kapitalistisch regierten Land wie etwa den USA habe ich freilich kein Recht – weder moralisch noch politisch – eine solch „unanständige“ Frage zu stellen, auch nicht in Europa! Ich wäre dann ein „Outlaw“, ein Gesetzloser, Verbrecher, Ausgestoßener – den Gesetzen des Geldes nicht gehorchend!
Ich möchte aber auch nicht dastehen als jemand, der fromm oder gläubig in der Nachfolge Jesu steht, nach Gottes Herrschaft und seiner Gerechtigkeit trachtet und der für sich beansprucht, dass daher alle Grundbedürfnisse für ihn (und seine Familie) gedeckt wären. Vielleicht bin auch ich anfällig für die Verführungen des Big Capitalism, denn „Geld verdirbt den Charakter“, weiß der Volksmund. Aber ich vergesse nie, wie ich als Student einmal für ca. zwei Semester mein Studium unterbrach, um mir mühsam meinen Lebensunterhalt zu verdienen, denn das Geld vom BAföG reichte nicht aus. Jeweils zum Monatsende hatte ich keine Lebensmittel mehr, da ich die Miete für die Unterkunft bezahlte.
Ich geriet deshalb nicht in Panik, suchte vielleicht nach einem weiteren Job, aber dann geschah etwas Erstaunliches, Unerwartetes: Just, als meine Lebensmittel aufgebraucht waren, wurde mir ein Paket mit einer passablen Auswahl an Lebensmitteln geschickt – anonym. Das geschah ein paar Mal, und ich fühlte und fühle mich bis heute an die Worte der Bergpredigt: Sorget nicht … erinnert. Ich hatte eine leise Ahnung, wer hinter dieser Notversorgung stecken könnte: Ein gläubiges Mitglied einer sog. Hochschulbibelgruppe, die bereits ihr Psychologiestudium absolviert, aber noch keine Stelle hatte. Dieses Erlebnis blieb für mich eine grundlegende Erfahrung, und ich wage es nicht, sie auf die eine oder andere Weise zu deuten.
Ich bin sehr vorsichtig, aus persönlichen Erfahrungen etwas Allgemeines oder Empfehlungen und Ratschläge für andere Menschen in Nöten abzuleiten. Ich scheue mich sogar, die Worte des Rabbi Jesus in der Bergpredigt pauschal auf unsere Zeit und Lebensweise zu übertragen, weil sie doch vor einem bestimmten historischen und sozialen Hintergrund erfolgt sind. Dennoch bleibe ich dabei, dass sie ein kritisches Potential bis heute darstellen, ein Gegengewicht zu einem Leben vor lauter Sorge – in unserem Fall: unnötiger, in Abhängigkeiten treibender Sorge um die Grundversorgung und darüber hinaus: um den hochgepriesenen Wohlstand, der in Einzelfällen keine Grenzen mehr kennt. Daraus kann sich eine Existenzangst entwickeln, die weder die Landarbeiter im 1. Jh. noch die Armen in den Slums heutiger Metropolen kennen. „Sorget nicht …“ verfängt zu einem ambivalenten Zynismus.
Einen „Mehrwert“ kann der Nazarener bieten, wenn man sich ihm anvertraut: Das Leben ist de facto mehr wert als Lebensmittel, Kleidung, Wohnen; man denke an Glück, Sinnerfüllung, Freundschaft, Liebe, Zusammenhalt, Wertschätzung, Respekt, Traumberuf u.v.m. Die Bergpredigt als Ganzes sollte Pflichtlektüre sein, auch an den Schulen! Es gibt darin vieles zu entdecken, was unserem Alltag und Denken widerspricht, aber auch einiges, was ermutigt. „Der Mensch lebt, bildet sich, entfaltet sich nur mit Hilfe anderer Menschen.“ „Deshalb ist eine soziale Ordnung, die nicht auf wechselseitigen Beziehungen gründet, dass die Menschen sich ergänzen, sondern auf Konkurrenz, Beherrschung und Ausbeutung, zum Scheitern verurteilt.“ Lasst uns das Joch des materiellen Lebensstils abschütteln, um in Freiheit und Liebe unerwartete Begegnungen anzunehmen und „endlich unserem Leben einen kollektiven Sinn zu verleihen“.[14]Das wird unser Leben mit Freude erfüllen.
Amen.
—
Pfarrer Thomas Bautz
(„im Unruhestand“)
Bonn
[1]Hilfreich zur Orientierung: Anna Henkel/ Isolde Kahle et al.: Sorget nicht – Kritik der Sorge, Dimensionen der Sorge 2 (2019): „Sorget nicht“ in der Sorgegesellschaft (Isolde Karle), 19ff; „Sorget nicht“ – historische und dogmatische Überlegungen zur Entwicklung einer christlichen Lebensform (Reiner Anselm), 31ff; Zeit der Nichtsorge (Gesa Lindemann), 57ff; Sich sorgen – Eine Skizze zur Theorie der Rationalität von Sorge (Annette Schnabel), 99ff; „Sorget nicht“ in helfenden Berufen? – Über die emotionale Beteiligung beruflich Sorgender (Stefanie Schniering), 155ff.
[2] Aber nur implizit, wenn er sich als demokratischen und sozialen Bundesstaat bezeichnet: Artikel 20 (I) GG.
[3] Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 6. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2016. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016.
[4] Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk (2014): (C.) Dasein und Sein (§ 10) Die Konstitution des Daseins (e) Das Mitsein (ii) Einspringende und vorausspringende Fürsorge, 84–85. Zum „Sein des Daseins als Sorge“, s. Martin Heidegger: Sein und Zeit, GA 2 (§ 41); cf. Vetter: Heidegger (§ 10) (g) Die Angst und die Sorge (ii) Die Sorge als Ganzheit des Daseins, 89–90.
[5] Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (52014): (II.) Innerlichkeit und Ökonomie (B.) Genuß und Vorstellung (3.) Das Element und die Dinge; das Zeug, 184–191: 189–190. Lévinas vermisst offenbar bei Heideggers Bestimmung der Sorge als Dasein (Sein und Zeit) eine Konkretisierung: „Bei Heidegger hat das Dasein niemals Hunger“ (Lévinas: op. cit., 191).
[6] Jean Ziegler: Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen (42015); der Autor ist em. Soziologe u. war bis 1999 Abgeordneter im Eidgenössischen Parlament, Genf. Von 2000 bis 2008 war er Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung; von 2008 bis 2012 gehörte Ziegler dem Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats der UNO an; September 2013 wurde er erneut in dieses Gremium gewählt.
[7] Cf. Mt 20,1–16; Luise Schottroff/ Wolfgang Stegemann: Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen (31990): Kap. 2: Schafe unter Wölfen. Die Wanderpropheten der Logienquelle (I.) Gottvertrauen als Lebensweise (1.) Die Sorgen der kleinen Leute und die Logienquelle, 55–59; (2.) Die Mahnung zu Sorglosigkeit und Furchtlosigkeit, 59–62.
[8] Schottroff/ Stegemann: Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen (31990), 58.
[9] Hans Weder: Die „Rede der Reden“. Eine Auslegung der Bergpredigt heute (21987): Vom Sorgen, 205ff: 206.
[10] Cf. Eugen Drewermann: Das Matthäusevangelium. Erster Teil: Mt 1,1–7,29. Bilder der Erfüllung (1992): Mt 6,25–34: Sorgt euch allein, daß Gott in euch herrscht, 571–578: 572–573.
[11] Die Bibel, Einheitsübersetzung, z.St.
[12] Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1 (1985): Kümmert euch um das Reich Gottes (6,25–34), 363–375: 370 (A. 54).
[13] Cf. Drewermann: Das Matthäusevangelium. Bilder der Erfüllung (1992), 572.
[14] Ziegler: Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen (42015): Vorwort, 14.