
Matthäus 8,23-27
Letzter Sonntag nach Epiphanias | 02.02.25 | Matthäus 8,23-27 (dänische Perikopenordnung) | Von Rasmus H.C. Dreyer |
Gott vergisst uns nie
Die Wettervorhersage für Julianehåb (Grönland) und das Gebiet um Kap Farvel für Freitag, den 30. Januar 1959 grönländischer Zeit. Es war 19 Uhr nach dänischer Zeit: „Zunächst wechselnde Winde, später Wind von Osten und Norden zunehmend bis Stärke 4 bis 5 Beaufort und zeitweise begrenzte Sichtbarkeit.“ Das ist eine gute Wettervorhersage, unmittelbar kein Grund für Unruhe. Das Schiff M/S Hans Hertoft, das neue Flaggschiff des königlich-dänischen Handels war deshalb planmäßig am Tage zuvor aus Julianehåb ausgelaufen, aus Quaqortoq, wie wir heute den Ort mit dem grönländischen Namen nennen. Zum ersten Mal wollte man damit eine ordinäre Winterfahrt von Grönland nach Dänemark durchführen und damit die beiden Teile des Königreichs in eine neue und enge Verbindung zueinander bringen.
Die M/S Hedtoft war speziell für Fahrten im Winter gebaut. Für Fahrwasser voller Eis. Verstärkter Steven, doppelter Boden, genietet in den Spanten, geschweißt in den Nieten. Sieben wasserdichte Schotten. Das sicherste Schiff seit je. Die Verbindung nach Kopenhagen konnte man nun ganzjährig aufrechterhalten – bei jedem Wetter, Wind und Eis.
Aber der Wind nahm zu, das Eis zog sich zusammen, der Wind nahm weiter zu. Und die Wettervorhersage für das Schiff Hans Hedtoft lautete Freitag 9 Uhr: „Anhaltender Schneefall, Sicht eine Seemeile“. 11 Uhr Eismeldung: Eisschollen und verwaschenes Groß-Eis. Sieben Eisberge im Fahrwasser. Die Hans Hedtoft fuhr weiter.
Ich kenne einen Mann, der in eine Kirche in Kopenhagen kam, wo ich in meiner Studienzeit arbeitete. Er war damals etwa 80 Jahre alt, ausgebildeter Radiotelegrafist. Er kam in die Kirche, um Lieder zu singen. Und er kam immer bei einer bestimmten Gelegenheit, wenn das Evangelium eben dies war, was wir heute gehört haben, die Stillung des Sturms Meer. Wenn Jesus sich als der zeigt, der da ist, wenn Menschen in allergrößter Not sind. Der Mann in der Kirche hatte wirklich begonnen, in die Kirche zu gehen, als er zu ersten Mal verstand, was das heutige Evangelium bedeutete. Das war 1959. Er musste einfach beten. Und Gott danken.
Der Wind hatte zugenommen. Er war sturm. Und die Hans Hedtoft war mitten im Sturm, volle Kraft voraus, 13 Knoten. Die Not-Antenne war bereits gebrochen Der Radiotelegrafist Carl Dejligbjerg schickt der Wetterstation ein Notsignal: „Sendet bitte S.O.S .“ Es ist 13 Uhr 50. Sechs Minuten später: „S.O.S. Hans Hedtoft, auf einen Eisberg gestoßen. 59,5 Grad Nord, 43 West“. Eine halbe Stunde später wird wieder telegrafisch S.O.S. gesendet: „Wasser eingebrochen. Der Maschinenraum voll“. Später: „Wir sinken. Wir haben viele Passagiere, 95“. Die ganze Zeit beibehält Dejligbjerg seine ruhige und kontrollierte Kommunikation. Es ist als sei er sicher. Es geschieht nicht. Wir werden gerettet. Wir sind sicher. Dieses Schiff, das großartigste Menschenwerk, ist unsinkbar.
18.06 Uhr: „Wir sinken …“. 18.07 ruft Hans Hedtoft. Keine Antwort. Keine Antwort. Das Unwahrscheinliche. Die Hans Hedtoft ist verschwunden.
„Die M/S Hans Hedtoft ist vermutlich am 30- Januar 1959 mit Mann und Maus untergegangen“, wie es in der Statistik der Unglücke trocken heißt.
Zurück zu dem alten Mann, der in die Kirche kam, um Gott zu danken. Er hatte selbst im königlichen grönländischen Handel gearbeitet, in der dänischen Staatsrederei und Handelsgesellschaft in Grönland. Der Mann war wie gesagt umgeschulter Radiotelefonist. Und er soll auf der Hans Hedtoft gefahren sein! Die Geschichte seines Lebens handelte davon, dass gerade diese Jungfernfahrt Kopenhagen-Grönland und zurück nicht seine Reise war. Auf der Jungfernfahrt war es eine erfahrene Mannschaft unter dem Telegrafisten Dejligbjerg, die die Aufgabe übernahm und nicht der junge Kadett. Sonnabendmorgen konnte er dann zuhause in Kopenhagen auf der Titelseite der Zeitungen lesen: „Die Hans Hedtoft verschwand heute Nacht. Alle 95 an Bord sind umgekommen“. Sonntag ging er in die Kirche. Die Lesung war das heutige Evangelium.
Ein Evangelium, wo wir hören, wie Jesus den Sturm stillt, so wie er das auch heute getan haben muss, um seinen Jüngern entgegengehen zu können. „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?“ Fragt Jesus, als er sich zeigt und der Wind sich legt. Damals 1959 in Kopenhagen predigte Kopenhagens Bischof beim Gedächtnisgottesdienst am Sonntag: „Das Leben ist ein tiefer Abgrund, der Tod ist ein tiefer Abgrund, die Ewigkeit ist ein tiefer Abgrund. Keiner begreift es. Stumm und still stehen wir vor der Tiefe des Meeres, das so viele Männer in seinem Schoß aufnahm“. Unser junger Radiotelefonist begriff es nicht. Dass Gott in Gnade auf ihn sah. Aber nicht auf die Kollegen und die vielen Reisenden. Oder tat er es doch? Doch, das tat Gott, erklärte er mir Jahrzehnte später, als ich dem jungen Radiotelefonist als altem Mann begegnete. „Jesus ging auch an Bord bei ihnen – denn Gott vergisst nicht“, erzählte er.
Jedes färöische Kind ist mit einem Ruderriemen in der Hand geboren, steht in einer Sammlung von färöischen Predigten. Und es stimmt jedenfalls, dass das Meer vielen Inselbewohnern näher ist. Das gilt für Grönländer, Färinger mehr als für die meisten Dänen heute. Ich habe einmal in einer Dorfkirche auf den Färö-inseln gepredigt, die aus dem Holz eines untergegangenen Schiffs gebaut war, das in einer naheliegenden Bucht Schutz vor dem Sturm gesucht hatte.
Die Urkraft des Meeres, seine Gegenwart seit dem ersten Tag der Schöpfung lässt uns klein werden. Unsere unübertroffene Selbstsicherheit kommt zu kurz, wir werden die ängstlichen Jünger, wenn unsere Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit mit der tödlichen Macht des Meeres konfrontiert werden. Deshalb sind auch gerade deshalb die Berichte davon, dass Jesus den Sturm stillte oder auf dem Wasser ging, ein beliebtes Motiv in vielen Kirchen – auch dänischen Kirchen wie zu Beispiel auf der Insel Anholt. Die mündigen, einfachen Worte Jesu haben uns klein werden lassen, haben uns daran erinnert, dass Schifffahrt auf dem Meer, Fischfang und Reisen auf dem Meer stets in der Hand Gottes liegen. Die Vorsehung – das verborgene, unverständliche, aber dennoch gnadenreiche Wirken Gottes in der Welt und auf dem Meer war letztlich das Einzige, was feststand.
Das ist wahr, auch wenn wir an Land sind. Denn das Leben ist in Wirklichkeit zu unsicher, als dass man es als gegeben ansehen könnte. Das Meer ist zu launenhaft, als dass man mit ihm rechnen könnte. So auch mit der Geborgenheit im Leben. Wir können es nicht als selbstverständlich gegeben betrachten, aber dennoch glauben wir daran, dass alles selbstverständlich gegeben ist. Und wenn wir daran glauben, dann lernen wir auch die Demut kennen. Nicht nur gegenüber dem Meer – sondern im ganzen Menschenleben. „Nun flieh ich zu deiner Gnade og begebe mich in deine Hand“, wie es in einem alten dänischen Kirchenlied heißt[1].
Denn sollte es schiefgehen, war es dennoch gut, in Gottes Hand zu sein, darauf zu vertrauen, dass Gott mich nicht vergisst. Denn Jesus erhebt sich und stillt den Sturm und das Unwetter und kommt dem entgegen, der zweifelt und fürchtet.
Lasst uns schließen an der Westküste Islands. Es ist der November 1959. Ein Bauer geht langsam am Strand entlang. Es war Sturm gewesen. Die Luft ist klar durch den Wind, aber der See-Nebel und die Wassertropfen hängen noch immer in der Luft. Es ist Morgen. Er geht am Wasser, um zu sehen, ob das Meer etwas in seinen mächtigen Wellen angespült hat. Dann sieht er es. Etwas Rotes, etwas weiß. Es steht auch etwas darauf. Es ist ein Rettungsring. Er geht hinab, entfernt etwas Tang mit der Hand, und er liest: „Hans Hedtoft Kopenhagen“. Neun Monate waren vergangen seit dem Untergang der Hans Hedtoft. Aber ich glaube, das war ein Zeichen. Nach neun Monaten, der Schöpfungszeit eines Menschen, waren Mannschaft und Passagiere der Hans Hedtoft überhaupt nicht vergessen. Denn Gott vergisst uns nie. Amen.
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Lektor Rasmus H.C. Dreyer
FUV-Århus
Hatting bei Horsens
E-Mail: rahd(at)km.dk
[1] Dänisches Gesangbuch Nr. 64, V. 5