
Matthäus 9,35-38; 10,1; 10,5-10
Kleiner, ärmer, freier – Kirche auf dem Weg | 5. Sonntag nach Trinitatis | 20.07.2025 | Mt 9,35-38; 10,1; 10,5-10| Marion Werner |
Gnade sei mit euch und Frieden, von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen
Liebe Gemeinde,
die Kirche verändert sich: weniger Menschen, weniger Geld, weniger Macht, weniger kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ist das der Anfang vom Ende? Oder vielleicht der Anfang von etwas Neuem?
In einem seiner Vorträge zur Kirche hat der in Luzern lebende Theologe Fulbert Steffensky auf die Welt und auch die Kirche gesehen und ehrlich, nicht beschönigend, aber sehr hoffnungsvoll Folgendes gesagt: „Noch ein Verlust, den wir vergnügt als Gewinn buchen: Einigen gekrönten Häuptern der Schöpfung ist ihre Krone abhandengekommen. Die Männer haben sie verloren den Frauen gegenüber. Die Weissen haben sie verloren den Schwarzen gegenüber. Die Menschen haben sie verloren den Tieren gegenüber. Keiner ist mehr Oberhaupt der Schöpfung. Ich sage: Sie haben sie verloren, als sei alles schon geschehen. Aber wenigstens sind wir auf dem Weg. Unsere Kirche war noch nie so schön, wie sie heute ist. Die Kirche ist kleiner geworden, ärmer, machtloser, und sie ist schöner geworden. Noch nie war ihre Aufmerksamkeit auf den Frieden und die gerechte Verteilung der Güter grösser als heute. Sie hat ihr Ansehen bei den Angesehenen verloren, und sie ist frei geworden. Sie hat nur noch einen Herrn, dem sie dient. Man kann in dem Haus unseres Glaubens nur leben, wenn man sieht, wie schön es schon ist. Leichte Übertreibungen sind beim Lob dieses Hauses gestattet und erwünscht!“
Die Worte von Fulbert Steffensky sind keine resignierte Klage, sondern eine mutige Umdeutung der Verluste, die die Kirche heute erleidet. Weniger Macht, weniger Einfluss, weniger Geld, weniger Mitarbeiter – dafür mehr Zugewandtheit, mehr Freiheit, mehr Christus. Kirche muss niemandem mehr gefallen, sie muss nicht mehr ihre Macht konsolidieren. Sie ist frei sich um den Menschen zu kümmern, frei ihrem Herrn zu dienen. Und genau das macht sie schöner.
Unser Predigttext für heute aus dem Matthäusevangelium im 9. und 10. Kapitel spricht Mitten in diese Gegenwart hinein. Ich lese ihn uns vor.
35 Und Jesus zog umher in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. 36 Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren erschöpft und schutzlos wie die Schafe, die keinen Hirten haben. 37 Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. 38 Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.
1 Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen.
5 Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht nicht in eine Stadt der Samariter, 6 sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. 7 Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. 8 Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus. Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch. 9 Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, 10 auch keine Tasche für den Weg, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert.
Jesus sieht sich die Menschenmenge an. Wie viele genau es gewesen sind, steht im Evangelium nicht, weil die Anzahl Jesus nicht wichtig war. Er sieht die Menschen an. Er sieht die Orientierungslosigkeit, die Müdigkeit, die Zerstreuung. Und es heisst: «Er hatte Mitleid mit ihnen, denn sie waren erschöpft und schutzlos wie die Schafe, die keinen Hirten haben».
Jesus bleibt nicht beim Mitleid stehen. Er sagt auch nicht «Ich mache das schon» – und löst allein alle Probleme der Menschen. So handelt Gott nicht. So handelt Jesus nicht. Er bezieht uns Menschen immer in sein Handeln mit ein.
Und so ist der erste Schritt, den Jesus unternimmt: er ruft zum Beten auf. Jeder Schritt, jede Aufgabe beginnt mit einem Gebet. «Ora et labora» – «Bete und arbeite» – kennen wir vom Benediktinerorden. Jesus sagt: «Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.». Als erstes also das Gebet um Mitarbeiter in der Kirche. Damals war die Kirche auch klein und brauchte viel Arbeit. Heute ist die Kirche am Schrumpfen, Arbeit gibt es trotzdem genug. Besonders Seelsorge ist gefragt. Deswegen ruft Jesus auf: «Betet, dass Gott neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beruft».
Anschliessend beruft Jesus seine Jünger und sendet sie in die Welt hinaus. Zwölf an der Zahl. Nicht perfekte Männer. Aber gläubig und bereit. Männer mit Lebenserfahrung und einem erlernten Beruf. Besonders aber solche, die bereit waren, im Namen Gottes zu predigen, zu heilen, böse Geister zu vertreiben.
Und damit sind wir bei einem sehr aktuellen Problem in den evangelischen Kirchen der Schweiz. Dem sogenannten «Plan P». Da viele Pfarrpersonen in Rente gehen und die Zahl der Theologiestudierenden klein bleibt, sind heute schon und werden in den nächsten Jahren viele Pfarrstellen unbesetzt bleiben. So entstand der Notfallplan genannt «Plan P», der den grossen Engpass überbrücken soll. Vorgesehen ist, dass Akademiker, die das Alter von 55 Jahren erreicht haben, die Vertretung vakanter Pfarrstellen übernehme können. Als Vorbereitung waren ursprünglich 3 Monate vorgesehen. Heute spricht man von einem halben Jahr Studium an der theologischen Fakultät und einem halben Jahr Praxis. Natürlich gehört auch ein Assessment dazu, um zu prüfen, ob sie geeignet sind.
Dieser «Plan P» hat für grosses Aufsehen gesorgt. Diskreditiert er das Pfarramt? Denn Pfarrpersonen studieren mindestens 5 Jahre und machen dann noch Vikariat. Oder ist er die Lösung, ein Neuanfang? Gibt er Gott quasi die Möglichkeit, Menschen in seinen Dienst zu rufen, wie Jesus es tat? Stand heute: 10 der 19 Kantonalkirchen sind dafür. 7 dagegen. 2 haben sich enthalten. Bereits haben sich 55 Akademiker gemeldet, mit viel Lebenserfahrung, guter Ausbildung, zum Teil mit sogar bereits studiertem Theologiesemester, die sehr gerne Pfarrstellen vertreten würden und im Dienst Gottes wirken möchten. Es bleibt spannend.
So oft hört man die Aussage «Kirche ist in der Krise». Das Wort Krise ist sehr negativ behaftet. Es signalisiert: hier läuft etwas schief, hier ist etwas gefährlich. Instabilität und Verlust stehen im Vordergrund. Wenn man aber sagt «Kirche ist im Umbruch» trägt das etwas Positives in sich. Umbruch bedeutet auch Unsicherheit, aber er trägt auch den Keim der Chance in sich, des Wandels und der Neuausrichtung.
Fulbert Steffensky formulierte stattdessen: «Wir sind auf dem Weg». Es ist nicht alles perfekt. Es war nie alles perfekt. Es wird es auch nie sein. «Aber wenigstens sind wir auf dem Weg. Unsere Kirche war noch nie so schön, wie sie heute ist. Die Kirche ist kleiner geworden, ärmer, machtloser, und sie ist schöner geworden. Noch nie war ihre Aufmerksamkeit auf den Frieden und die gerechte Verteilung der Güter grösser als heute. Sie hat ihr Ansehen bei den Angesehenen verloren, und sie ist frei geworden. Sie hat nur noch einen Herrn, dem sie dient.»
Kirche ist auf dem Weg. Es gibt weniger Menschen, weniger Mitarbeitende, weniger Geld, weniger Einfluss. Das ist wahr. Aber vielleicht ist gerade das die Möglichkeit, zu ihrer eigentlichen Gestalt zurückzufinden. Zu einer Kirche, die frei ist. Die nicht mehr gefallen muss. Die niemandem was beweisen muss. Die nur noch einen Herrn hat, dem sie dient.
Jesus sagt: «Geht und verkündet: das Himmelreich ist nahe! Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!»
Geht! Dient! Heilt! Hört den Menschen zu. Habt Mitleid. Und habt Vertrauen zu Gott. Sagt den Menschen: Gott ist euch nahe. Das Reich Gottes beginnt mitten unter euch.
Wenn die Kirche kleiner wird, wird sie nicht bedeutungslos. Wenn sie ärmer wird, wird sie nicht ärmlich. Wenn sie ihre Krone verliert, kann sie endlich dienen. Und wenn Laien predigen, kann Gottes Geist neue Wege gehen. Die Erfahrung in unserer lutherischen Gemeinde hier in Zürich zeigt über die Jahre hinweg, welche wunderbare Ergänzung unsere Prädikanten für das Pfarramt sind.
„Man kann in dem Haus unseres Glaubens nur leben, wenn man sieht, wie schön es schon ist. Leichte Übertreibungen sind beim Lob dieses Hauses gestattet und erwünscht!“ sagte Steffensky.
Ja, unsere Kirche ist schön. Gerade jetzt. Weil sie nicht mehr groß sein muss. Weil sie frei ist, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Auf Christus. Auf die Menschen. Auf das Evangelium.
Amen.
Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Pfarrerin Marion Werner
Zürich
Email: pfarrerin@luther-zuerich.ch