Micha 4,1-5 (7b)

· by predigten · in 33) Micha / Micah, Aktuelle (de), Altes Testament, Beitragende, Bibel, Deutsch, Drittl.S.d.Kj., Kapitel 04 / Chapter 04, Kasus, Predigten / Sermons, Wolfgang Vögele

Die Berge, sie grüßen dich | Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres | 10.11.2024 | Mi 4,1-5 (7b) | Wolfgang Vögele |

Segensgruß

Der Predigttext für den drittenletzten Sonntag des Kirchenjahres steht Mi 4,1-5 (7b):

„In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen, und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des Herrn Zebaoth hat’s geredet. Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes, immer und ewiglich!

Und der Herr wird König über sie sein auf dem Berge Zion von nun an bis in Ewigkeit.“

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn die Menschen selbst Berge auftürmen, dann schichten sie oft Geröll, Abraum oder Müll aufeinander. Wer von Westen auf der Autobahn Richtung Hannover fährt, der sieht aus der Ferne einen weißlichen Berg. Er besteht aus dem Abraum eines alten Kalibergwerks, das seit ein paar Jahren geschlossen ist. Die Wunstorfer sprechen liebevoll vom Kalimandscharo. Im Süden Deutschlands, in Pforzheim ist der natürliche Wallberg nach dem Zweiten Weltkrieg künstlich erhöht worden. Nach den schweren Bombenangriffen mußten die Trümmer weggeräumt werden. Seit 2005 steht auf dem Trümmergipfel ein Mahnmal, an dem sich die Pforzheimer Bürger am Jahrestag des Bombenangriffs versammeln. Ein Trümmerberg der Erinnerung ergänzt die Hoffnungen auf den Berg Zion.

Im Süden der Normandie, mitten im Meer erhebt sich unweit Küste der Mont-Saint-Michel. Vor Jahrzehnten konnte man sein Auto noch direkt auf dem Überflutungsgebiet parken und von dort zum Stadt- und Inseltor gehen. Heute besuchen jedes Jahr 2,8 Millionen Touristen den Inselberg, mehr als den Eiffelturm. Sie parken ihre Autos weit vor der Insel und fahren dann mit Bus oder Kutsche über einen Damm zur Insel. Durch das Stadttor drängt sich die Mengen und läuft in engen Gäßchen spiralförmig hoch zum Kloster. Im Kloster auf dem Gipfel führen dunkle Gänge zum Kreuzgang und zur Kirche. Kloster, Gipfel und Kirche verbinden sich zu einem Aussichtspunkt des Glaubens. Auch wenn sich die meisten Touristen nicht mehr für die Kirche interessieren, seit ein paar Jahren leben wieder Mönche auf dem Mont-Saint-Michel und halten den Glauben lebendig: Die Inselstadt auf dem Berg, ganz im Westen Europas, erinnert ebenfalls an den Zionsberg in Jerusalem.

Bergsteiger gewinnen nach mühsamem, längerem Aufstieg Höhe und Aussicht; sie sehen vom Gipfel aus viel genauer die Widersprüche unten in den Tiefen des Lebens. Ca. neunhundert Menschen besteigen jedes Jahr den Mount Everest, den höchsten Berg der Erde. Die schwierigen Aufstiegsrouten erkennen die Nachkommenden an den Linien von Plastik und Müll, die die Vorgänger hinterlassen haben. So verschränken sich sportliche Anstrengung, Gipfelstürmerei und Naturschädigung zu einer ganz zweideutigen Erfahrung, die Beobachter von außen und die Bergsteiger selbst mit Schrecken wahrnehmen.

Wer auf dem Gipfel steht, blickt hinunter auf die Widersprüche und das Elend einer schrecklichen Welt. Diese Erfahrung läßt sich auch in Jerusalem machen, wo der Prophet Micha den visionären Zionsberg aufgestellt hat. Vergleicht man Michas friedliche Vision mit der Gegenwart, so kommen Beobachtern die vielen Ermordeten des 7.Oktober 2023 in den Sinn. Demonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem, für die Geiseln, die immer noch an unbekannten Orten gefangen gehalten werden. Drohnen- und Raketenangriffe, Alarm in der Nacht. Das Elend der palästinensischen Zivilbevölkerung, die von der eigenen religiös-politischen Führung als Schutzschild mißbraucht wird. Seit über einem Jahr ein bewaffneter Konflikt, von dem man den Eindruck hat, daß er längst nicht mehr gestoppt werden kann. Man wagt es kaum, die Friedensvision des Micha und das Recht Israels auf Selbstverteidigung und Schutz seiner eigenen Bürger zusammenzubringen. Schwerter zu Pflugscharen, Soldaten zu Mitarbeitern im Kibbuz, Krieg zu Frieden, der im Moment in so weite Ferne gerückt scheint. Micha sagt: Jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum leben. Er sagt aber auch: Menschenmengen, Pflugscharen und Feigenbäume, das wird erst in den letzten Tagen geschehen. Micha geht so weit zu sagen: Die Völker werden gar nicht erst lernen, Krieg zu führen. Also keine Waffenproduktion, keine Wehrpflicht, keine Kasernen, keine Staatsbürger in Uniform, keine Sicherheitskontrollen auf dem Flughafen. Das gehört noch in die Zukunft. Das ist unten in den Ebenen der Städte, Grenzzäune und Landminen noch nicht angekommen.

Wer auf einen Berg steigt, gewinnt einen neuen Blick auf die Ebenen. Wer auf einen heiligen Berg wie den Mont Saint-Michel steigt, der kann ein neues Verhältnis zu Gott gewinnen. Wer mit dem Propheten Micha auf den Zionsberg steigt, dem zeigt er die Vision eines zukünftigen Lebens, das durch die Gnade Gottes, Völkerverständigung und Frieden bestimmt ist. Das gilt auch dann, wenn wie im Moment der Kontrast zwischen politischer Gegenwart und Gottes Zukunft so groß wie niemals sonst erscheinen mag. Das gilt auch dann, wenn wie im Moment die politische Lage so komplex erscheint, daß in der Ukraine, im Nahen Osten und anderswo weder Waffenstillstand, Friedensplan noch Friedensvertrag in Sicht sind.

Die Zukunft Gottes, so der Prophet Micha, erweist sich als radikal anders. Und man kann sich das, auch aus der Sicht des Glaubens, kaum vorstellen. Es wird nicht mehr geschossen. Es werden keine Drohnen und Raketen gestartet. Das politische Denken verabschiedet sich von dem Ziel, Macht und Einfluß zu gewinnen. Ist das nicht eigentlich unmöglich? Es heißt: Alle Dinge sind möglich, dem der glaubt. Die verändernde Kraft des Glaubens setzt schon dann ein, wenn man einfach die Perspektive wechselt und Gottes Gnade Gestalt werden läßt. Folgen wir Micha auf den Berg Zion.

Denn wer auf diesen Berg, den Berg Gottes steigt, der hat seine Blickrichtung schon im wahren Sinne des Wortes gewechselt. Von oben sehen die Mühen der Ebene anders aus als im Keller, in den dicken Mauern des Schutzbunkers. Das alles ist nicht als billiger Alpen- und Gipfelkitsch mißzuverstehen: Die himmlischen Chöre singen nicht vierstimmig La Montanara und blasen keine Alphörner. Wer erwartet hat, daß die Engel unter Völkern und Heiden Alpenmilchschokolade verteilen, der sieht sich getäuscht.

Nein, Michas Zukunftsvision ist ganz und gar von der Gegenwart Gottes bestimmt. Liebe Schwestern und Brüder, ich greife die vier wichtigsten Stichworte Michas heraus, die diesen Aspekt hervortreten lassen: Heiden, Weisung, Frieden, Wohnen.

Es fällt sehr auf, daß Micha nicht nur die eigenen Leute anspricht. Zum Zion kommen auch diejenigen, die gar nicht an den Gott Israels geglaubt haben. Es treffen sich die vereinten Nationen in Massen wie bei einem Konzert von Adele oder Taylor Swift. Was den Frieden der Menschen untereinander angeht, so ist die Gruppenzugehörigkeit nicht so wichtig: Geschlecht, Religion, Bildung, Besitz treten als Unterscheidungsmerkmale zwischen Menschen zurück. Wenn sich Gottes Gnade zeigt, werden alle Menschen gleich, weil sich alle verändern. Wer vorher nicht geglaubt hat, also Heide oder Heidin war, verändert sich durch das, was er nun plötzlich aus neuem Blickwinkel sieht und spürt.

Auf dem Berg zeigt Gott seine „Weisung“. Ich finde den Begriff „Weisung“ viel schöner als den des Gesetzes, wie später oft übersetzt worden ist. Weisung läßt den Menschen Freiheit. Gesetze fordern strikte Beachtung (was manchmal auch nötig ist), Weisungen leisten Hilfestellung auf dem Weg zu Gemeinwohl und friedlicher Zusammenarbeit. Worin diese Weisungen bestehen, dazu finden sich eine Reihe von Bemerkungen über die gesamte Bibel verstreut: das Doppelgebot der Liebe, die zehn Gebote oder Weisungen, die berühmte Goldene Regel: Handle einfach so, wie du vom anderen behandelt werden willst. Oder in der genauen Formulierung des Mannes aus Nazareth: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Mt 7,21) Das hat er übrigens gesagt, als er selbst auf einen Berg gestiegen war und die Menge um sich gesammelt hatte. Da hält er eine Bergpredigt (Mt 5-7), die mit Michas Friedens- und Zionsvision eng zusammenhängt.

Das Thema dieser Vision des Micha ist nicht, daß alle gemeinsam an Gott glauben. Es wird nicht allen eine gemeinsame Meinung aufgedrängt. Stattdessen sollen die Massen der vereinten Nationen friedlich und rücksichtsvoll zusammen leben. Dafür werden Waffen eingeschmolzen und neu zu landwirtschaftlichem Gerät umgeprägt. Wie wichtig das ist, dafür genügt ein einziger kurzer Blick auf die Titelzeilen der gegenwärtigen Nachrichten. Wer auf den Berg steigt, der erkennt das noch besser: Frieden ist besser als Krieg.

Wenn der Frieden herrscht, der vom Zionsberg ausgeht, können die Menschen gemeinsam wohnen: Sie bauen Wein an und pflanzen Feigen- und Olivenbäume, sie hoffen auf gute Ernten und danken Gott dafür, weil gute Ernten keine Selbstverständlichkeit sind. Vom Berg Zion aus wirkt der Frieden wie ein Idyll, Oliven in großen Schalen, Feigen zum Nachtisch und Rotwein zum Hauptgang, gegrillter Fisch und frisch gebackenes Brot. Friedliches Zusammenleben und vielleicht ein gemeinsam gesungenes Lied zur Gitarre.

Größer könnte der Gegensatz zwischen Michas Friedensvision und der grausamen Gegenwart, vor allem in Israel, in Palästina und im Libanon, nicht sein. Aber es genügt nicht, nur die Gegensätze zwischen der Hoffnung der Berge und den Mühen der Ebenen zu betonen. So sehr wir alle uns nach Frieden sehnen, ich bin zutiefst davon überzeugt, daß es uns alle schon verändert, nur diese Vision zu hören und ihr im Bewußtsein ein wenig Platz einzuräumen. Das visionäre Bild vom Berg Zion treibt uns Menschen, den Blick zu wechseln. Es nimmt unsere Sehnsucht nach der Gegenwart Gottes, nach friedlichem Zusammenleben und gemeinsamer Barmherzigkeit auf.

Auch wenn Frieden im Moment nur mit dem Fernglas zu sehen ist, die Anstrengung dafür lohnt sich. Es geht dabei um eine Politik, die auf der einen Seite nüchtern und pragmatisch ist, auf der anderen Seite von der Hoffnung auf die Gegenwart Gottes lebt und die Menschen zu gemeinsamem, vertrauensvollem Handeln bringt. Intelligente Feindesliebe, wie Carl Friedrich von Weizsäcker einst gesagt hat, ist etwas anderes als Naivität. Das herauszuarbeiten, würde nun zu weit führen. Es würde eine neue Predigt bedeuten.

Für heute soll dieses reichen: Es tröstet und stärkt, auf den Berg Gottes zu steigen, und von dort – und sei es auch nur für wenige Momente des barmherzigen Blicks vom Gipfel herunter – die Welt mit den Augen der Gnade, der Freude und des Friedens zu betrachten.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle politische Vernunft, bewahre eure gegenwärtigen Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Prof. Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).