Mut zur Demut…

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Mut zur Demut bzw. vom Pharisäer und Zöllner sowie dem Gebet | Predigt zu Lukas 18, 9 – 18 | verfasst von Berthold W. Haerter |

 

Bibeltext nach der Zürcher Bibel:

Jesus erzählte aber einigen, die überzeugt waren, gerecht zu sein, und die anderen verachteten, das folgende Gleichnis:

Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine war ein Pharisäer und der andere ein Zöllner.

Der Pharisäer stellte sich hin und betete, in sich gekehrt, so: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, wie Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.

Ich faste zweimal in der Woche, ich gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.

Der Zöllner aber stand ganz abseits und wagte nicht einmal seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug sich an die Brust und sagte: Gott, sei mir Sünder gnädig!

Ich sage euch: Dieser ging befreit in sein Haus zurück, jener nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden. AMEN

 

Liebe Gemeinde

 

  1. Max Frisch: „Biedermann und die Brandstifter“ – von Demut keine Spur

Max Frisch hat das Theaterstück „Biedermann und die Brandstifter“ geschrieben.

Darin geht es um ein biederes, eine kleine Fabrik besitzendes Ehepaar, das Brandstiftern, trotz Vorwarnung, auf ihrem Dachboden Unterschlupf gewährt.

Das geschieht aus Angst und in der Meinung sich selbst so schützen zu können.

Die Brandstifter bereiten derweil auf dem Dachboden von Biedermanns einen grossen Stadtbrand vor.

Biedermann will sie zu Freunden machen und die Brandstifter verhehlen nicht, dass sie alles in die Luft jagen wollen.

Zu guter Letzt gibt Biedermann noch die Zündholzer.

Das Haus brennt ab und durch Gasexplosionen die halbe Stadt mit. (Wie aktuell das sein kann, zeigt uns ja gerade die Explosionen Beirut.)

Herr und Frau Biedermann meinen sich im Himmel wieder zu finden.
Aber sie sind in der Hölle gelandet.

Biedermann rechtfertigt sich dort:

„Ich bin schuldlos! – ich habe Vater und Mutter geehrt, … Ich habe mich an die Zehn Gebote gehalten, …

Ich habe mir nie ein Bild von Gott gemacht, das schon gar nicht.

Ich habe nicht gestohlen; wir hatten immer, was wir brauchten.

Ich habe nicht getötet.

Ich habe am Sonntag nie gearbeitet.

Ich habe nie das Haus meiner Nachbarn begehrt, oder wenn ich es begehrte dann habe ich es gekauft. …

Ich habe nie bemerkt, dass ich lüge.

Ich habe keinen Ehebruch begangen … verglichen mit andern!  …

Ich hatte einen einzigen Fehler auf Erden, ich war zu gutherzig….“

(Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter, Frankfurt, Taschenbuch Suhrkamp,  1996, S. 74f)

 

Der Mann ist von sich «überzogen» (für Nicht-Helvetier: überzeugt).

Er radiert aus, was falsch in seinem Leben gelaufen sein könnte und legt die 10 Gebote zu seinen Gunsten aus.

Das ist Selbstüberzogenheit und Selbstüberschätzung, ja Hochmut.

Wir nennen es allgemein auch pharisäerhaft, oder scheinheilig.

Von Demut und Einsicht keine Spur.

 

  1. Beim Zahnarzt – Die erzwungene Demut

Diese Woche war ich beim Zahnarzt bzw. bei der Dentalhygienikerin.

Beim nicht mehr Sitzen sondern liegen auf dem Zahnarztstuhl habe ich gedacht: Hier lerne ich etwas über Demut.

Ich akzeptiere die Situation.

Ich ergebe mich in die Notwendigkeit.

Ich erniedrige mich, indem ich da liege und wenn die Dame fragt „Gahts?“ bringe ich mit offenem Mund noch ein „ähä“ heraus.
Dabei schmerzt das Kratzen und Schaben an den Zähnen – und auch immer wieder mal das Zahnfleisch erreichend – ziemlich.

 

  1. Eine Zürcher Hebamme im Flüchtlingslager – wahrer Mut zur Demut

Von wirklichem Mut zur Demut habe ich am Montag in der Zürichsee-Zeitung gelesen.

Da hilft eine Zürcher Hebamme in einem völlig überfüllten Flüchtlingscamp in Griechenland.

Für 6 Monate verliess die Frau ihre privilegierte Stellung im Spital Zollikerberg.

Nun wirkt sie unter Lebensumständen, welche die Zeitung so betitelt: „Ratten beissen nachts die Babys.“

Und sie selbst sagt: „Ich habe damit gerechnet, dass es schlimm sein wird. Aber es ist noch viel schlimmer.“ (ZSZ 10.8.20, S. 15)

Es gehören Mut und Selbstüberwindung dazu, sich freiwillig hautnah den Flüchtlingsfrauen und -kindern mit ihren Schicksalen zu nähern.

Das ist Demut, freiwillig sich zu denen zu begeben, die sich selbst nicht helfen können.

Gott tat das Gleiche gegenüber uns Menschen, indem er Jesus als Mensch unter uns sandte.

 

  1. Demut ist …

Demut wird als Gesinnung eines oder einer Dienenden bezeichnet.

Es ist eine innere Haltung, hat mit Empathie zu tun, indem ich auf den anderen eingehe, mitfühle, ihr oder ihm ein Stück von mir gebe, ihr oder ihm Platz in meinem Herzen gebe und sein Schicksal so teile.

In der Filmserien Suits diskutieren die beiden brillanten Anwaltsangestellten die ganze Zeit, ob sie sich wirklich auf das Schicksal der Mandantinnen einlassen oder eher als „Fall“ betrachten.

Sie gewinnen ihre Prozesse eigentlich nur, weil sie sich in die Situation der Leidenden begeben und so auch verstehen, was jeweils abgeht.

 

Demut gegenüber anderen leben, heisst, ich fühle mich nicht als besser, intelligenter, höherstehend – was sich äusserlich in Arroganz ausdrücken kann.

Sondern ich sehe jeden als Schwester und Bruder von mir an und das ist einfacher gesagt als umgesetzt.
Es ist eine ständige Herausforderung für mich.

Biblisch gesprochen, setze ich mich eher ans untere Tischende zu den nicht so wichtigen Gästen als oben an die Ehrenplätze.

Christlich wäre es, wir lebten kein oben und unten.

Sondern wir alle sehen uns mit unseren Gaben als Gottes Geschöpfe, in einer gemeinsamen Ehrfurcht gegenüber dem, der uns das Leben schenkte und leben lässt.

 

Am letzten Sonntag war ich in einer anderen Gemeinde zum Gottesdienst.

Deutlich wurde durch die Pfarrerin den Musiker gedankt, die bezahlt werden und die natürlich auch beklatsch wurden.

Nebenbei erwähnte die Pfarrerin, dass es danach Kirchenkaffee gäbe.

Da waren ältere Frauen und Männer, die draussen mit Masken Kaffee ausschenkten.

Ihnen wurde nicht gedankt.

Demut ist wohl diese dienende freiwillige Haltung mit dem Wissen, dass man dabei auch übersehen wird.

Dies zeugt von einer grossen inneren Stärke.

Von wem kann ich diese erhalten, wenn nicht von dem, der mich uneingeschränkt liebt, von Gott?

 

  1. Demut gegenüber Gott

a. Ich – ein Pharisäer?

Jesus stellt uns nach Lukas zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten vor.

Der eine, eine Art Biedermann nach Max Frisch.

Er macht alles richtig und wirklich, er leistet sehr viel und ist sich dessen bewusst.

Er hat sich Bildung angeeignet, kennt sich in allen religiösen und gesellschaftlichen Regeln sehr gut und gibt viel mehr Spenden, als er müsste und von den Steuern abziehen kann.

Ist das nun schlecht?

 

In meiner ehemaligen Gemeinde mussten gerade wertvolle Fresken einer Kapelle renoviert werden.

10 000 Franken kostete das.

Jemand aus dem Ort spendete sie – wohlgemerkt, es ist eine Land- keine Zürichseegemeinde.
Diese Person will aber anonym bleiben und genau das ist das Problem des Pharisäers.

Er findet sich selber toll.

Es kommt irgendwie nicht vom Herzen, sondern er kommt sich besser vor.

Wie ein nicht näher zu nennender Präsident zurzeit vor seinen Wählern ständig prahlt, so prahlt der Pharisäer vor Gott.

Wir sagen zu beidem noch heute: Das ist pharisäerhaft – scheinheilig.

 

Aber eines lehrt uns der Pharisäer in der Jesusgeschichte: Zu beten und zu danken.

Ich habe von Samuel Koch schon erzählt, dem jungen Mann der bei „Wetten das?“ 2010 über Autos sprang und so verunglückte.
Er ist seit dem Tetraplegiker, also vom Hals abwärts gelähmt.

Samuel Koch sagt von sich, er habe gelernt, jeden Tag eine Dankbarkeitsliste zu machen und diese vor Gott auszubreiten.
Das habe sein Leben verändert.

Beten wir so dankend zu Gott?

Auch das ist Mut zu Demut, sich nicht selbst als Macher und Könner zu sehen sondern Gott in seinem Leben dankend den Raum zu gewähren, den er auch eigentlich im Leben eines jeden einnimmt.

 

b. Ich – ein Zöllner?

Positiv bewertet Jesus aber das Gebet des Zöllners.

Wahrlich hatte der Dreck am Stecken

Er arbeitet mit der Bestatzungsmacht der Römer zusammen.

Er konnte die Höhe der Zölle so bestimmen, dass er einen guten Teil für sich einstecken konnte, wenn er wollte.

Seine gesellschaftliche Anerkennung war gleich der eines IMs, eines Informellen Mitarbeiters der Staatsicherheit in der DDR.

Wenn man von diesem IM erfuhr hätte man am liebsten auf ihn gespuckt, und so behandelte man ihn auch.

Aber stand der Mann oder die Frau unter Druck als die Staatsicherheit oder die Römer sie oder ihn rekrutierten?

Wir wissen es nicht.

 

Das an die Brust schlagen und vor Gott aussprechen: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“, zeigen uns, dass er sich in seiner Situation nicht wohl fühlt.

Kenne ich solche Situationen nicht auch?

Wann stand ich unter Druck?

Wann habe ich z.B. um nicht anzuecken, oder nicht aufzufallen, oder um meine Karriere und meinen Ruf nicht zu gefährden, geschwiegen, statt mich für einen Menschen oder eine Sache einzusetzen?

Wo habe ich keinen Mut zur Demut gehabt, keine Zivilcourage gezeigt, auch mögliche Nachteile in Kauf nehmend, um mich für Menschen einzusetzen, die ja vor Gott meine Schwestern und Brüder sind?

Solidarität mit Menschen, die sich selbst in einem gewissen Moment nicht helfen können, das ist eine Form von Demut.
Das ist christliche Nächstenliebe im Sinne Jesu.

 

  1. Einsichtig sein vor Gott: Wer bin ich?

Schaue ich mir den Pharisäer und den Zöllner an, so steckt beides in mir.

Beide haben nicht nur Negatives, sondern auch positive Eigenschaften.

Beide stossen mich ab und ziehen mich gleichzeitig an.

Und sie hinterfragen mich: Wer bin ich?

Und wann bin ich wer?

Etwas machen aber beide: Sie beten!

Aber nur einer öffnet sein Herz, sein Inneres vor Gott?

Er hat erkannt wer er ist.

Ein Mensch, der nie alles richtig macht.

 

Es sind nicht mehr unsere Worte, aber sie betreffen mich, wenn der Zöllner aus Selbsterkenntnis und Selbstreflektion heraus vor Gott sagt:

„Gott, sei mir Sünder gnädig!“

 

Und Jesus sagt:

Genau diesem Menschen öffnet sich Gott.

Der Evangelist schlussfolgert:

Im ehrlichen offenen Gegenüber zu Gott, hilft uns Gott im Leben und im Sterben.

 

  1. Mut zur Demut

Mut zur Demut.

In unserer Kirchenzeitung war ein Artikel von einem Automechaniker, der jeden Dienstagnachmittag seine Werkstatt schliesst, um mit dementen Menschen diesen Nachmittag zu verbringen. (reformiert. Nr. 15, 2020, Seite 12)

Das ist die eine Seite von Demut: Tatkräftiges Eintreten für andere.

 

Auch das Gebet braucht Mut zur Demut.
Das ist die andere Seite.

Im freiwilligen betenden Reflektieren erkenne ich, wer ich bin.

Das erschüttert und macht zugleich dankbar gegenüber Gott und den Menschen.

Es gibt mir aber eine ungehörige Kraft und Mut.

Ich wage dem zuzustimmen, was ein Theologe unserer Tage gerade geschrieben hat:

„Ob ein Mensch, wirklich an Gott glaubt, erkennt man daran, ob er betet. Letztlich an nichts sonst.“

(Ralf Frisch nach reformiert. Nr. 15, 2020, S. 2)

AMEN

 

Gebet:

Unser Gott,

wer bin ich?

Vergleiche ich mich mit anderen um besser dazustehen?

Habe ich Mut zur Demut?

Bin ich für andere, schwächere Menschen wie für unsere Mitwelt da?

Lasse ich mich berühren und reagiere ich dann auch?

 

Habe ich auch den Mut zur Demut gegenüber Dir?

Bete ich?

Lass ich mich im Gebet hinterfragen, aufwühlen?

Werde ich im Reflektieren dankbar für all das, was Du mir schenkst und ermöglichst?

 

Unser Gott,

so viele Fragen löst ein kleiner Bibeltext aus.
Er erinnert mich aber auch an Menschen, die wirklich am Ende sind.

 

So beten wir für die Menschen in Honkong, die Demokratie und Freiheit möchten, wie wir sie leben dürfen.

Wir beten für die Menschen in Beirut, die einfach ein Dach über den Kopf und eine fähige Regierung möchten, wie wir es haben.

Wir beten für die Menschen in Weissrussland, die genug von Versprechungen und Diktatur haben, und sich Wohlstand und eine Zukunft, wünschen, wie wir sie haben.

Wir beten für die Menschen in Palästina – Israel, die immer wieder zum Spielball der Weltpolitik werden, weil sie schwache Regierungen haben, wie wir Sie, Dir sei gedankt, nicht haben.

 

Wir beten für die Menschen, die sich in diesen schwierigen Zeiten für uns und andere einsetzen.
Danke Gott.

Danke, Gott, dass wir Gottesdienst feiern konnten.

Und danke, dass wir heute XX taufen durften.
Schenke Ihr und ihrer Familie einen gesegneten Tauftag.

 

Unser Gott, in der Stille kommen wir mit unseren Anliegen und Bitten zu Dir.

(Stille)

 

UNSER VATER IM HIMMEL …

 

Berthold W. Haerter

Geb. 1963

Kindheit und Jugend in der DDR

Seit 1990 in der Schweiz und Pfarrer der Ev.-Ref. Landeskirche Zürich