Philipper 1,1-6

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15. Sonntag nach Trinitatis | 23. September 2001 | Philipper 1,1-6 | Wolfgang Petrak |

Ich weiß nicht, wie ich beginnen kann und anreden soll. Anstelle einer Predigt mit wohlgesetzten Worten und einer Gliederung, die Anfang und Ziel zu erkennen gibt, versuche ich Euch einen Brief zu schreiben. Weil heute vor einer Woche alles anders geworden ist. Weil das Ausmaß der Terrorangriffe auf New York, Washington und Pennsylvania so unfassbar ist, so dass Worte nicht auszudrücken vermögen: die Trauer, die Versuche, Verbundenheit und die Versuche, Mitgefühl aufzuzeigen. Die Angst vor dem, was kommen kann .

Ich habe gestern den Philipperbrief gelesen, ganz durch. Von dem Gefangensein. Von der Tiefe. Und als wir auf dem Friedhof sangen: „Sterben ist mein Gewinn“, habe ich gedacht, dass ich das nicht will. Aber geht es nach meinem Willen? Paulus hat geschrieben von „euretwillen“, „um Christi Willen“, in diesem Zusammenhang dann doch „um meinetwillen“, aber niemals „um Gotteswillen“. Was ist der Wille Gottes? Wie oft denken wir das in diesen Tagen … und ich habe bei Paulus gelesen, wie Christus sich selbst erniedrigte und gehorsam ward bis zum Tod am Kreuz: darum hat ihn Gott erhöht. Ich habe dann gelesen von der Freude und von der Stärke, die erlaubt, alles zu sein, hoch und tief, satt und hungrig, denn es ist Christus, der mächtig macht: das alles hat Paulus geschrieben. Und ich denke: darf ich auch traurig und fröhlich sein, Angst haben und zugleich voller Vertrauen?

Ich versuche, Euch heute zu schreiben, nicht weil es Pflicht wäre oder gar die vermessene Versuchung, es jenem gleich zu tun, nein, ich habe einen anderen Namen; ich schreibe, um nicht in den Sog der Lähmung ohne Anfang und Ende hinzugeraten. Und habe dabei das erste Kapitel des Philipperbriefes aufgeschlagen vor mir liegen und lese, wie Paulus damals bei sich selbst begonnen hat. Er hat nicht gesagt „Liebe Gemeinde“, sondern sagt „Paulus“. Der eigene Name liegt oben auf, öffentlich und unverhüllt, es gibt keinen Rückzug, keinen Schutz, in den man sich bergen könnte. Doch zugleich lässt der Name einen anreden und eine Beziehung herstellen. Das Ich öffnet sich von sich aus einem anderen und gleicht darin einem Gesicht, das mich offen ansieht. Es ist darin verletzlich. Zugleich bringt es mich dazu, nach meiner Existenz, nach mir selbst zu fragen. Paulus nennt dann einen zweiten Namen, Timotheus: wir existieren nicht jeder und jede für sich allein, da ist der andere, die andere, uns darin gleich gestellt. Wo zwei oder drei in meinem Namen … natürlich muss ich an dieses Wort des Herrn denken, auch daran, dass es überhaupt nichts machen würde, wenn in die Friedensgottesdienste nur zwei oder drei Leute kommen würden, Hauptsache, es kommen Menschen in seinem Namen zusammen. Denn es ist sein Name, der Menschen auf den Weg bringt, egal wie. Mit einem Mal fällt mir auf, wie Paulus und Timotheus von sich reden, um eingebracht zu werden in diese Welt. Nach den Namen folgt, was sie sind und wozu: Knechte Jesu Christi. Zwar geht es in ihrem Brief auch um Bischöfe und Diakone, also um kirchliche Mitarbeiter verschiedener Aufgabenbereiche, meinetwegen auch um Hierarchien – ich weiß nur zu gut, wie ich in solchen Situationen mich vorzustellen pflege: mit einer gewissen Zurückhaltung beim Amt, aber um so deutlicher bei Gelegenheit die Kompetenzen und Erfahrungen betonend: Sprach Paulus nicht auch des öfteren von seinem Apostelamt? Und du denkst jetzt wahrscheinlich, ich schweife ab, was ja auch stimmt, denn so ist meine alltägliche Welt. – Und so ist das, was Paulus sagt, „Er ist ein Knecht“: hart. Eine andere Welt. Und wieder schweife ich ab, denke weit zurück an den 24.12.2000, mit seinem Licht und der weichen Stimmung, und wie wir damals gesungen haben: „Er ist ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein“. Und jetzt ist das so: aus dem Erhabensein in diese Tagen des Septembers bin ich geworfen in diese bange Zeit und muss fragen: wer bin ich und was wird sein? – da sagt sein mir Brief mir: ja, es geht darum, Knecht zu sein, Knecht Jesu Christi. Nicht um meinetwillen, sondern um seinetwillen. Nachfolge. „Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein“ (Lk 14,27).

Ich weiß heute nicht, wie weit ich darin gehen kann und welche Kraft dazu da sein wird. Ich weiß aber, dass es keine andere Wahl gibt als dem, der unser Friede ist, nachzufolgen. Ich glaube, dass es Gerechtigkeit geben wird. Doch schon jetzt und durch wen? Wer wird mich erlösen, fragt Paulus bang und findet zugleich Worte zu danken. Er schreibt davon, dass wir uns nicht selbst rechtfertigen können; wie entsetzlich das ist, wenn der Mensch in dem Widerspruch zwischen Wollen und Tun eingespannt ist und die Frage nach der Zukunft sich jäh eröffnet. Und wir können selbst in der Distanz des Fernsehens ist den Politikern die Last der Verantwortung und der Entscheidung aus ihren Gesichtern ablesen. Ich habe noch den Ernst unseres Innenministers vor Augen, wie er am Freitag bei einer Talkshow Egon Bahr, der mit dem gleichen Ernst die Effektivität der amerikanischen Geheimdienste in Frage stellte, ermahnte, es sei jetzt nicht die Zeit, Kritik an unseren Freunden auszuüben. Ich habe auch noch im Ohr, wie gestern der Präsident, um seine Entschlossenheit zu unterstreichen, die Schuldigen zu fassen, ein Motiv aus Western-Genre bemühte: „Wanted! Dead or alive“. Sag, sind wir im falschen Film? Doch es gibt die Realität. Und Schiffe der amerikanischen Flotte haben Kurs Richtung Indischer Ozean genommen.

Ich lese, wie Paulus (und Timotheus) die vielen ungenannten, unbekannten Adressaten ihres Briefes ansprechen: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus“. Natürlich sind diese Worte bekannt. Irgendwie. Werden sie doch so oder etwas anders in unseren Gottesdiensten gesagt. ‚Kanzelgruß‘, hatte ich in der Ausbildung gelernt und mag dann wohl zuweilen mit diesen Worten grüßen, wie man so grüßt: die Form wahren, aber sich dabei auf anderes konzentrieren, weil jenes zu unserer Wirklichkeit gehört und deshalb wichtiger zu sein scheint. Habe ich vergessen, dass es eine andere Richtung gibt? Von Gott kommt der Friede auf uns zu, ganz unabhängig von meinem Wollen und Können. Und auch unabhängig von den Schaltzentralen der Mächte unserer Welt. Der Friede Gottes, eine Gegenwelt: nein, es ist nicht einfach so, dass ich mich flüchten möchte in eine erträumbare Illusion, es ist auch nicht so, dass ich aus den Abläufen dieser Zeit einfach aussteigen könnte; es ist einfach so, dass dieser grüßende Wunsch gehört werden wird. In ihm gibt sagt sich die Richtung neu an: Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Der bringt uns dazu, dann im Lesen, im Hören die Spuren dieser Gegenwelt zu erkennen.

Ich bleibe noch einmal bei Paulus. In den folgenden Zeilen seines Briefes ist eines zu erkennen: Trotz der Zeit der Gefahr sind seine Gedanken von ganz anderem erfüllt, nämlich vom Dank für eine erfahrbare Gemeinschaft, von der Zuversicht, dass diese Richtung, die Gott einmal begonnen hat, die einzige Zukunft haben wird. Sie lehrt das Beten. Kehre ich einmal zu mir zurück und versuche nun gegen alle Betroffenheit und Trauer, gegen alle Ratlosigkeit und Angst jene Begegnungen dankbar zu erkennen, die in eine andere Richtung weisen, so fällt mir ein, und das muss ich euch unbedingt schreiben, dass es so etwas in diesen Tagen gibt, bei euch und bei uns. So hat es am Sonntag wie in anderen Städten auch in Göttingen einen Gottesdienst gegeben hat, in dem neben der Predigt des Pastoren der Imam eine Sure aus dem Koran (Sure 5, Vers 32) gelesen hat, die das Recht auf Leben sichert: „Wer einen Menschen tötet, der tötet die ganze Menschheit, und wer einen Menschen das Leben erhält, so soll es sein, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.“ Dankbar darf ich erkennen, dass es über trennende Religionen hinweg die Brücke der Humanität gibt, über die gegangen werden kann. Und dafür möchte ich gemeinsam mit allen anderen danken. Und dann muss ich euch auch schreiben, wie am Sonnabend ein Freund aus Sierra Leone angerufen hatte und sagte: „Gott sei Dank, meine Eltern konnten diesen schrecklichen Massakern, von denen kaum hier einer etwas wissen wollte, in einer Höhle entkommen: Jetzt sind sie in Guinea und ich kann was tun, Gott sei Dank“. Sein land ist seit Jahren von einem furchtbaren Bürgerkrieg überzogen worden, und die Außenwelt hat das kaum zur Kenntnis nehmen wollen. Und doch sind jetzt dank der UNO Maßnahmen angelaufen, die jenen Kindersoldaten dort, die gezwungen waren, nichts weiter als das töten zu lernen, jetzt das Lesen und Schreiben und Lernen beibringen. Mit den Menschen dort und hier im Gebet verbunden zu sein, es wird zu der Zuversicht führen, dass der, der das gute Werk angefangen hat, auch vollführen bis bis, ja wann wird das sein? Versteht bitte, dass die Gedanken sofort wieder zurückgeworfen werden, ich weiß nicht, ob ich euch auch noch schreiben soll, was ich am Freitag gehört habe, aber ich denke, es gehört hierher. Ich schreibe euch von dem adoptierten Jungen, der hier aufgewachsen ist, der nach vielen Jahren im Mai seinen leiblichen Vater in Beirut ausfindig gemacht hat und jetzt wohl auf dem Weg dorthin ist: Wanderer zwischen den Welten- was hast du mitgenommen aus unserer Religion, der Kultur, dem Leben, der Oberflächlichkeit, über die du dich mal Weihnachten so beklagtest? Höre: Nie wird der Segen zurückgenommen. Das, was bei der Taufe gesagt wurde, auch nicht: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus“. Sicher kann dieser durch ihn, durch andere Brücken bauen in dieser Zeit zu einer Zukunft des Frieden Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft: Er bewahre uns alle.

Amen.


P. Wolfgang Petrak

St.Petri Göttingen-Weende

Schlagenweg 8a37077 Göttingen, den 18. September 01

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