Philipper 2,5-11

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16. Sonntag nach Trinitatis | 30. September 2001 | Philipper 2,5-11 | Martin Schewe |

Die Texte der Bibel stehen in den Tagen nach den Terroranschlägen in den USA auf der Probe. Die Welt ist in ein Chaos gestürzt, auch in ein Chaos von Gefühlen: Entsetzen, daß das möglich war, Trauer um die Getöteten, Mitleiden mit den Angehörigen und die Angst, wie es weitergeht. Wenn uns die Bibel etwas zu sagen hat, dann muß sie es jetzt sagen können. Sonst steht es schlecht um die Glaubwürdigkeit eines Textes wie des folgenden aus dem Philipperbrief. Paulus schreibt dort:

„Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Paulus zitiert ein Lied; ein Lied, das den Sieg Jesu Christi über die Mächte des Himmels, der Erde und in der Unterwelt besingt. Sie alle sollen sich Christus unterwerfen und Gott die Ehre geben. Das wäre jetzt schön. Nur sieht es nicht danach aus. Das triumphale Christuslied und unsere Verstörung scheinen wenig miteinander zu tun zu haben. Was war denn mit dem Sieg über die Mächte, als die Flugzeuge ins World Trade Center rasten und ins Pentagon? Wie konnte Gott zusehen? Und sieht er danach auch bloß zu, wenn es womöglich zum Krieg kommt?

Ich glaube nicht, daß das Lied, das Paulus zitiert, diese Fragen beantwortet. Aber es hat vielleicht trotzdem etwas zu bedeuten und hilft uns vielleicht trotzdem weiter. Denn das Lied handelt nicht nur vom Sieg Jesu Christi. Es handelt auch von der Vorgeschichte – nicht nur vom Triumph, sondern auch von dem Preis, den Christus dafür bezahlt. Diese Strophe des Lieds verstehen wir im Moment wahrscheinlich besser als den glücklichen Schluß.

„Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“

Gott verbirgt sich, heißt das. Er ist nicht da, wo wir ihn gesucht haben, und er ist nicht so, wie wir dachten. Der Weltenlenker, der im Himmel thront, die Täter bestraft und die Opfer beschützt, ist hinabgestiegen und selber zum Opfer geworden. Der Schöpfer der Menschheit, unser Vater, unsere Mutter, hat sich in einen von uns verwandelt und über sich ergehen lassen, was wir einander antun. Gott saß mit den Ermordeten in den entführten Flugzeugen, so wie er mit den Ermordeten, Gefolterten und Geschändeteten aller Zeiten und aller Greueltaten gelitten hat – nicht abstrakt: wohlwollend, aber in sicherer Entfernung; sondern so konkret und schrecklich wie sie: Gott selber ermordet, gefoltert, geschändet. Er verbirgt sich – ganz in unserer Nähe.

Diese Strophe des Christuslieds, so ungeheuerlich sie ist, erreicht uns im Moment wahrscheinlich eher als sein Schluß, und es tröstet uns vielleicht, daß Gott dabei war, als die Unschuldigen starben, und daß er jetzt bei ihren Familien, Freundinnen und Freunden ist und klagt wie sie. Aber die Fragen, die wir an Gott haben, bleiben. Daß er mit in den Flugzeugen saß, hat die Katastrophe eben nicht verhindert. Daß Gott selber zum Opfer wird, macht es für die anderen Opfer noch nicht besser und beschwichtigt unsere Angst nicht, wie es weitergeht. Wenn uns das Lied, das Paulus zitiert, etwas zu sagen hat, dann muß es auch dazu etwas sagen können, und wir müssen auch auf die zweite Strophe einen Blick werfen, obwohl uns nach Triumphgesängen nicht der Sinn steht.

„Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Gott verbirgt sich, sagt die erste Strophe – ganz in unserer Nähe. Er wird einer von uns und läßt über sich ergehen, was wir einander antun. Vor diesem Hintergrund müssen wir hören, was die zweite Strophe vom Sieg Jesu Christi singt. Sie nimmt das Entsetzen und die Angst nicht zurück und wird unsere Fragen auch nicht beantworten. Aber sie setzt dem allen etwas entgegen: ein Dennoch. In dem Lied mag dieses Dennoch vollmundiger klingen, als uns heute zu Mute ist. Doch auch wenn wir es gedämpfter hören, gibt uns das Dennoch möglicherweise eine Perspektive. Dann hören wir auch jetzt: Von dem ermordeten, gefolterten, geschändeten Gott haben wir noch etwas zu erwarten. Es gibt noch mehr von ihm zu sagen, als daß er in den Flugzeugen ins World Trade Center gerast ist. Denn das unterscheidet dieses Opfer von allen anderen Opfern: daß es Gott war, der dort getötet wurde und auf Golgatha. Der Schöpfer, unser Vater, unsere Mutter, war so verzweifelt und hilflos wie nur irgendeiner. Gott meint sein Leiden und seinen Tod ganz ernst. Aber der Gekreuzigte ist auch der Auferstandene. Darum ist wohl dennoch Hoffnung. Wie und warum, das müssen wir nicht genau verstehen, jedenfalls im Moment nicht. Da genügt es, wenn wir uns sagen lassen, daß Jesus Christus der Herr ist – trotz allem er, der verborgene, nahe Gott; er und nicht der Terror und die Angst.

Von der Erniedrigung Gottes handelt das Lied und von seiner Erhöhung; von der jüngsten Vergangenheit, den Anschlägen in den USA, und von der Zukunft, dem Dennoch, einer Hoffnung. Das Lied handelt aber auch von dem, was zwischen Gottes Erniedrigung und Erhöhung liegt: von der Gegenwart und davon, wie es weitergeht; was geschehen soll – nach den Anschlägen und bevor sich alle Mächte des Himmels, der Erde und in der Unterwelt Christus unterwerfen. So versteht jedenfalls Paulus das Lied, wenn er es im Philipperbrief zitiert. Dort stellt er ihm einen Satz voran, eine Art Gebrauchsanweisung für das Lied.

„Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“

Paulus spricht über das Verhalten innerhalb der christlichen Gemeinde in Philippi, aber ich finde, sein Rat paßt überall, wo es um die christliche Gemeinde geht, und er paßt auch jetzt: sich so zu verhalten, wie es der Gemeinschaft in Christus entspricht. Damit ist nicht gemeint, wir sollen Jesus Christus nachahmen; jedenfalls dann nicht, wenn „nachahmen“ bedeutet: Wir sollen das gleiche tun wie er. Das geht gar nicht, denn er war Gott, und es ist genug, daß Gott der Welt wohl dennoch Hoffnung gibt. Aber auch wenn wir ihn nicht nachahmen sollen – nachfolgen sollen wir Christus: so leben, wie es sich für die gehört, die trotz allem auf ihn hoffen. Mir scheint, das heißt im Moment vor allem eins: Wir sollen uns von dem verborgenen, nahen Gott in Frage stellen lassen. Ich will das zu erklären versuchen.

Von allen Seiten, auch aus uns selbst, kommen die Stimmen, vernünftige und unvernünftige, die nach einer angemessenen Reaktion auf die Terroranschläge rufen. Von Gerechtigkeit ist die Rede, von Strafe, aber auch von Rache und dem „ersten Krieg des einundzwanzigsten Jahrhunderts“. In der Tat: Ungestraft dürfen die Verbrechen nicht bleiben, der Opfer wegen nicht, und weil alles andere einer Einladung zu neuen Gewalttaten gleichkäme. Trotzdem sollen wir Christinnen und Christen nicht einstimmen, wenn Gegengewalt gefordert und Militärschläge oder gar ein „Kreuzzug“ angekündigt werden. Denn soviel ist klar: Ein Krieg trifft immer auch Unschuldige. Sich so zu verhalten, wie es der Gemeinschaft in Christus entspricht; wie es sich für die gehört, die trotz allem auf ihn hoffen – das läßt sich nicht mit Rücksichtslosigkeit und blinder Wut vereinbaren. Alle Mächte sollen sich unterwerfen, heißt es in dem Lied. Alle sollen bekennen, daß Jesus Christus der Herr ist; er und nicht der Terror und die Angst. Aber auch nicht wir. Der Gott, der mit den Ermordeten in den entführten Flugzeugen saß, so wie er mit den Ermordeten, Gefolterten und Geschändeten aller Zeiten und aller Greueltaten gelitten hat, ein solcher Gott verbietet es, daß wir unsererseits Greueltaten begehen oder sie gutheißen. Er verbietet es, daß wir uns an seine Stelle setzen und auf unsere maßlose und hilflose Weise versuchen, die Welt vom Bösen zu befreien.

Sie werden mich fragen, was denn geschehen soll; wie die Verbrechen bestraft werden können, wenn nicht wieder mit Gewalt. Ich frage mich das auch. Ich weiß es nicht. Es hängt wohl vor allem davon ab, wer die Verbrecher überhaupt sind. Aber das weiß ich: daß wir Christinnen und Christen nicht nur uns selber fragen sollen, sondern zuerst und zuletzt den verborgenen, nahen Gott. Wir sollen nicht besser wissen wollen als er, wo wohl dennoch Hoffnung ist.


Pfarrer Dr. Martin Schewe

Hohenzollernstraße 3233330 Gütersloh

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