Philipper 3,10-14

· by predigten · in 11) Philipper / Philippians, 9. So. n. Trinitatis, Aktuelle (de), Beitragende, Bibel, Deutsch, Hansjörg Biener, Kapitel 03 / Chapter 03, Kasus, Neues Testament, Predigten / Sermons

9. So. n. Trinitatis | 17.08.2025 | „Jesus in allem gleich werden“ – Predigt zu Phil 3,10-14 | verfasst von Dr. Hansjörg Biener |

Paulus-Briefe gelten nicht als leichte Kost, und der heutige Predigttext scheint das zu bestätigen. Deshalb lese ich den Predigttext nicht aus der Luther-Bibel vor, sondern aus der Basis-Bibel. Die ist eine neue Übersetzung der Deutschen Bibelgesellschaft, die vor allem verständlich sein sollte.

Paulus schreibt in seinem Brief an die Philipper unter anderem Folgendes:

10 Ich möchte Christus erkennen

und die Kraft seiner Auferstehung erfahren.

An seinem Leiden möchte ich teilhaben –

bis dahin, dass ich ihm im Tod gleich werde.

11 Das alles geschieht in der Hoffnung,

auch zur Auferstehung von den Toten zu gelangen.

12 Ich möchte nicht behaupten,

dass ich das alles schon erreicht habe

oder bereits am Ziel bin.

Aber ich laufe auf das Ziel zu, um es zu ergreifen.

Denn ich bin ja auch von Christus Jesus ergriffen.

13 Brüder und Schwestern,

ich bilde mir wirklich nicht ein,

dass ich es schon geschafft habe.

Aber ich tue eines:

Ich vergesse, was hinter mir liegt.

Und ich strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt.

14 Ich laufe auf das Ziel zu,

um den Siegespreis zu gewinnen:

die Teilhabe an der himmlischen Welt,

zu der Gott uns durch Christus Jesus berufen hat. (Phil 3,10-14 Basis-Bibel)

Die Sprache der Basis-Bibel ist leichter als die Luther-Übersetzung, aber die Gedanken des Paulus sind immer noch schwer. Ich lasse deshalb das Bild vom Sportler weg, der hart trainiert, um in Olympia für seine Stadt zu siegen und sich dadurch eine Rente zu sichern. Ich nehme die drei anspruchsvollsten Sätze aus dem Bibeltext heraus.

(1) Ich möchte Christus erkennen und die Kraft seiner Auferstehung erfahren.

(2) An seinem Leiden möchte ich teilhaben – bis dahin, dass ich ihm im Tod gleich werde.

(3) Ich vergesse, was hinter mir liegt. Und ich strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt.

Paulus sagt:

Ich möchte Christus erkennen und die Kraft seiner Auferstehung erfahren.

Ich formuliere es noch mal einfacher: Paulus möchte Jesus „erkennen“ und „erleben“ [auch im Folgenden die Anführungsstriche mitsprechen / anzeigen]. Das ist ein Wunsch, der Christenmenschen an vielen Orten der Welt bewegt, und bestimmt auch in diesem Gottesdienst. Ich muss jedoch noch ein Wort hinzufügen: „wissen“. Nur von Jesus „weiß“, kann auch mehr von Jesus „erkennen“ und „erleben“ wollen. Etwas über Jesus „wissen“ ist in Deutschland / der Schweiz / Österreich nicht schwer. Man lese in der Bibel, die überall zu kaufen ist oder wie die Basis-Bibel extra für die Smartphone-Welt erarbeitet wurde. Man lese ein vernünftiges Buch. Man frage Leute, die sich mit Jesus auskennen. Man höre im Religionsunterricht oder auch im Gottesdienst zu. Das sind alles Privilegien, die nicht jeder in der Welt hat, der Jesus „erkennen“ und „erleben“ will.

Ich möchte noch ein paar Momente beim „Wissen“ bleiben. Zum einen brauchen wir für das Folgende einen gemeinsamen Wissensstand; zum anderen müssen wir wissen, was Paulus für sich „weiß“. Wir erinnern uns: Paulus war ein schriftgelehrter Mann. Er kannte sich in der hebräischen Bibel bestens aus. Und noch mehr: Er hielt sich auch bestens an Gottes Weisungen. Das war mehr als bei den meisten seiner Zeitgenossen.

Trotzdem veränderte sich „alles“ durch eine Begegnung mit Jesus. Er selbst erwähnt sie nur, erzählt sie aber nicht. Die Apostelgeschichte schon. Laut Lukas hat Paulus eine Erscheinung Jesu gehabt. Nach dieser war er allerdings einige Zeit blind. Zeit genug für einen Komplettumbau aller Gewissheiten. Wir kennen das ja auch sonst von Menschen, die einen echten Schicksalsschlag erlitten haben. Zu seinem Glück wurde Paulus von seiner Blindheit geheilt. Das war für ihn eine Auferstehung in ein neues Leben, wie sie in anderer Weise von Jesus erzählt wird. Dass es diese andere Auferstehung Jesu gegeben hat, ist für Paulus Fakt. Nicht nur wegen seiner Vision. In einem anderen Brief schreibt Paulus von den ersten Zeugen in der Urgemeinde. Viele Auferstehungszeugen waren noch am Leben (1. Kor 15,6). Und das heißt auch: Jeder Zweifler in seiner Gemeinde hätte eine Reise nach Jerusalem machen können und die ersten Zeugen befragen. Wir haben damit zwei Beispiele für die „Kraft der Auferstehung“, von der Paulus „weiß“: Das erste Beispiel ist aus seinem eigenen Leben, das zweite aus dem Erleben vieler historischer Zeugen.

Wissen ist das eine. Zu erkennen, „was hat das jetzt mit mir zu tun“, ist etwas anderes. Und so ist es auch etwas anderes, von Jesu Auferstehung nur zu hören oder „die Kraft seiner Auferstehung“ zu „erfahren“. In manchen Teilen der Christenheit werden dazu besondere Erfahrungen gesucht: Visionen und prophetische Voraussagen, Gebetserhörungen, Heilungen und andere Wunder. In den großen Kirchen hat man sich mit diesen „Beweisen des Geistes und der Kraft“  in der Regel schwer getan. Nicht nur, weil unbezweifelbare Wunder so selten sind und manche besondere Erfahrungen auch wegerklärt werden können. Und auch nicht nur, weil private Erlebnisse eines Menschen nichts für das Leben eines anderen beweisen. Der eigentliche Grund für die Zurückhaltung der Großkirchen ist ein anderer: Schon Paulus hat festgehalten, dass ein Christenleben keine Kette von Siegen im Namen Jesu ist. Vielmehr sei die Kraft der Auferstehung in den Schwachen mächtig. (Vgl. 2. Kor 12,9) Das steht in starkem Gegensatz zum sogenannten Wohlstandsevangelium mancher Kirchen in Nord- und Südamerika. Der sogenannte Prosperity Gospel sieht in materiellem Wohlstand, persönlichem Erfolg und in Gesundheit sichtbare Beweise für Gottes Gunst. Man müsse sich dafür nur Gott und seiner Gemeinde ganz hingeben. Wenig ist ferner von Paulus. Paulus hat, wie er an anderer Stelle antippt, durchaus besondere religiöse Erfahrungen (Vgl. 2 Kor 12,2-4), aber die eigentliche Erkenntnis Jesu kommt für ihn nicht in religiöser Ekstase oder in Erfolgserlebnissen.

Und damit sind wir beim zweiten Kernsatz aus dem Predigttext. Paulus sagt:

An seinem Leiden möchte ich teilhaben – bis dahin, dass ich ihm im Tod gleich werde.

 Auch hier formuliere ich es noch einmal einfacher: Paulus möchte auch in seinem Leiden Jesus „erkennen“ und „erleben“. An diesem Punkt ist es für uns nicht mehr leicht. Kann man sich Leiden, welcher Art auch immer, „wünschen“? Mindestens eine Weltreligion sagt dazu „Nein“. Ich denke da an die vier edlen Wahrheiten des Buddhismus: (1) Alles Leben ist Leiden. (2) Die Ursache des Leidens ist die Gier. (3) Die Gier und damit das Leiden können überwunden werden. (4) Der Weg dazu ist der edle achtfache Pfad“ in den drei Aspekten Wissen, ethisches Leben und Schulung in Achtsamkeit. Muss ich also spezieller formulieren: Soll man sich als Christ, Christin Leiden wünschen?

Auch hier zunächst etwas zum Wissen über Paulus und dann ein bisschen mehr Anwendung. Paulus musste sich das „Leiden“ nicht erst suchen. Er war ein vielfach leidgeprüfter Mensch. An mehreren Stellen deutet Paulus eine dauerhafte Einschränkung an, ohne diesen „Stachel im Fleisch“ (2. Kor 12,7) näher zu erklären. Den Empfängern seiner Briefe musste er offensichtlich nichts erklären. Sie kannten ihn von Angesicht zu Angesicht und sahen, was mit ihm los war. Anderes Leiden hat einfach mit den Lebensumständen seiner Zeit zu tun. In Mitteleuropa betrachten wir Hunger und Kälte, Behördenwillkür und Gewalt böser Menschen gegen uns, Unfälle und Behinderungen als Ausnahmen. Zur Zeit des Paulus waren sie eher die Regel. Im 2. Brief an die Korinther schreibt Paulus: „Ich rede wider alle Vernunft[ weil ich mich gerade in Rage rede] „Ich habe mehr [als alle anderen] gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen. Von Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen; ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr von meinem Volk, in Gefahr von Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; und außer all dem noch das, was täglich auf mich einstürmt, die Sorge für alle Gemeinden.“ (2. Kor 11,23-28 Luther-Übersetzung)

Paulus hat sich das alles nicht gesucht. Das einzige, was er sich „aussuchen“ konnte: Wie damit umgehen? Paulus hat sich entschieden, Leiden als Teil seines Weges mit Jesus anzunehmen. Er sieht es nicht wie andere als Strafe Gottes, sondern als Weg, Jesus zu „erkennen“ und zu „erleben“. Denn auch Jesus erlebte Hunger und Kälte, Heimatlosigkeit und Ablehnung, Verrat durch Freunde und Gewalt durch Feinde bis hin zum Kreuzestod, einer der barbarischsten Weisen, Menschen zum Tod zu bringen. Wahrscheinlich ist sogar das Wort „Paulus hat sich entschieden…“ noch zu stark. Er hat „irgendwie“ immer wieder Kraft gefunden, aufzustehen und weiterzumachen. Er hätte jedoch gesagt, die Kraft der Auferstehung, die in den Schwachen mächtig wird, habe ihn gefunden. Am Ende hat ihn wohl auch das Martyrium in Rom gefunden, so jedenfalls die außerbiblische Überlieferung.

All das sieht Paulus aus der Perspektive einer Hoffnung: Bin ich im Guten und Schlechten dieses Lebens mit Jesus eins, dann doch hoffentlich auch in der Auferstehung ins ewige Leben.

Und damit komme ich zum letzten Kernsatz des Predigttextes und letzten Abschnitt der Predigt. Paulus sagt:

Ich vergesse, was hinter mir liegt. Und ich strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt.

Wenn man weiß, was Paulus alles erlebt und erlitten hat, dann ist er das, was man neudeutsch einen Survivor nennt. Er ist ein „Überlebender“ vieler traumatischer Erfahrungen. Er hat Kälte, Hunger und Schiffbruch überlebt. Er hat vielfache Gewalt überlebt und dürfte ihre Spuren zeitlebens am Körper getragen haben. Sein „Überleben“ hat zentral mit seiner Deutung des Erlittenen zu tun und dem zweiten Aspekt des Nach-vorne-sehens. Wir erinnern uns: Paulus sieht sich bei seinem Leiden mit dem Leiden Christi verbunden und hofft, am Ende auch in der Auferstehung mit Jesus verbunden zu sein. Es ist seine Weise, Jesus zu „erkennen“ und zu „erleben“.

Ich werde mich hüten, Paulus als Vorbild hinzustellen. Es mag wohl sein, dass „wir“ die „Kraft der Auferstehung“ erfahren wollen, aber sollen wir dafür auch leiden „wollen“? Natürlich nicht. Bei Paulus geht es ja nicht um Leiden, das wir suchen. Bei ihm geht es um Leid, das uns findet. Aber wer bin ich, leidenden Menschen zu sagen: Mach’s wie Paulus. Vielleicht könnte das ein Survivor einem anderen Menschen sagen. Ich bin dankbar, dass es Survivor gibt, die anderen Menschen mit ähnlichem oder gleichem Schicksal Beistand leisten. [Im christlichen Bereich oft genannt: Joni Eareckson Tada https://joniandfriends.org und Samuel Koch https://www.samuel-koch-und-freunde.de] Aber auch dann bleibt es ein langer innerer Kampf um „posttraumatisches Wachstum“, wie man neudeutsch sagt. Ich werde deshalb auch keine Survivor-Geschichten erzählen. Ich will abschließend nur noch den Versuch machen, das Wort „Vergessen“ in diesem Kernsatz zu erklären.

Ich sagte schon, dass mindestens die körperlichen Folgen des Erlebten Paulus immer begleitet haben. In diesem Sinn gab es kein „Vergessen“ für ihn. Ich glaube auch nicht, dass Paulus „Verdrängen“ meint. Ich glaube aber wohl, dass es um die traumatische Bindung geht. Also um die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein, um die Wut und den Zorn gegen die Täter, gegen Gott und die Welt. Das muss irgendwie verarbeitet werden. Paulus hält sich an Jesus, der am Kreuz genau das erlebte, seine Gottverlassenheit aussprach und die Kraft fand zur Vergebung. Wie aber gesagt: Das ist im Erleben des Paulus keine eigene Kraft, sondern „Kraft, die in den Schwachen mächtig ist“.

Amen.

Dr. Hansjörg Biener (*1961) ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und als Religionslehrer an der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg tätig. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. (Hansjoerg.Biener (at) fau.de)