
Philipper 3,12-14
17. Sonntag nach Trinitatis | 7. Oktober 2001 | Philipper 3,12-14 im Kontext von Micha 4,15 und Markus 2,13-17 | Jan Christian Vaessen |
Liebe Gemeinde unseres Herren Jesus Christus,
wie gut ist es zu erfahren, daß der Glaube lebt und eine wirkliche Kraft im Leben von Menschen ist. Besonders in der Zeit, in der wir im Moment leben, wo die ganze Welt auf dem Kopf steht und erschüttert wird durch Terrorismus und Todesangst, ist es gut, irgendwo einen Ort zu haben, wo man ruhig und beschützt vor Anker gehen kann, einen Ort wo man spürt, daß es noch mehr Menschen gibt, die sich tragen lassen von der Liebe Gottes. Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen so etwas im Moment schwer fällt. Vielleicht haben Sie die Aussicht auf diese Liebe durch alles, was in der Welt geschah, in den vergangenen Wochen völlig verloren. Aber das heißt noch nicht, daß der Herr selbst aus der Welt verschwunden ist oder Ihr Herz verlassen hat. Um seine Anwesenheit zu erfahren, sind wir zusammen gekommen und werden wir zusammen kommen. Sonntag für Sonntag. Das mag im Licht des Bösen, das die Welt verschlingt, vielleicht als ganz unbedeutend erscheinen und trotzdem ist es wichtig. Denn unser Zusammensein berührt die Liebe Gottes in der Welt, deckt die empfindliche Seite des heiligen Geistes in deinem Herz auf von unter den Schutthaufen des Bösen.
Levi der Zöllner. Man sieht ihn sitzen vor seinem Zollhäuschen. Er wartet auf Menschen die zu ihm kommen um ihren Zoll zu bezahlen. Das heißt mit Wucherzinsen und Wuchergewinn. Und so macht sich Levi verhaßt bei seinen Zeitgenossen. Er wartet nur vor seinem Zollhäuschen, das Geld kommt zu ihm ohne Mühe, ohne Leistung seinerseits. Das ist doch kein aktives oder kreatives Leben, das Levi lebt. Und die Menschen, denen er begegnet, sind alle schlechter Laune und böse auf ihn. Der Levi kümmert sich nicht um das Wohl von Menschen. Liebe? Was ist denn das? Die Witwe, der Waise, der Fremdling, eben die Leute die der Gott Israels liebt, weil sie keine Rechte haben und auch kein Geld, müssen bei Levi alles bezahlen und noch mehr. Levi aus dem Stamm der Leviten, der Tempelpriester, ist von seinen Wurzeln weit entfremdet. Bei ihm ist nichts mehr zu spüren vom alten Glauben der Väter, von der Liebe Gottes, die Menschen sanft und kreativ macht, die Menschen antreibt, um den Nächsten wieder auf die Beine zu helfen. Das aktive Leben des Tempeldienstes hat sich bei Levi geändert in ein passives Sitzen auf einem Stühlchen, warten auf Einkünfte ohne Anstrengung. Und um den Kontrast noch größer zu machen, beschreibt Markus eine aufgeregte Menge Menschen, die alle begeistert Jesus nachfolgen, während Levi nichts anders macht als auf seinem Stuhl zu sitzen. Levi ist kein Priester mehr. Levi ist Zöllner geworden und der Herr ruft ihn.
Dann, sagt Micha, werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Rebmessern verschmieden … und sie werden nicht mehr den Krieg erlernen. Das Schlüsselwort hier ist verschmieden. Irgend etwas wird geschehen – Gott weiß was – wodurch Menschen sich ändern werden. Sie werden mit den selben Materialen andere Sachen machen. Sie werden im Alltagsleben dem Herr dienen und sie werden das gute Leben genießen, das Gott ihnen geben wird. Jedermann wird unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum sitzen, und niemand wird ihn stören. Das ist ein ganz anderes Sitzen als das Sitzen Levis. Bei Micha bedeutet Sitzen Entspannung, süße Ruhe nach tüchtiger Arbeit, bedeutet Gott danken für alles Gute, das er uns im Leben schenkt und das man mit anderen teilen darf. Levi hat diese Ruhe noch nicht verdient. Die Dankbarkeit und die Liebe sind aus seinem Leben verschwunden. Und er, gerade er, wird gerufen, um die Liebe Gottes zu erfahren und dadurch zu verändern, um aufzustehen und aktiv zu werden, damit er schließlich auch Michas Ruhe erfahren und teilen kann mit andern. Jesus sagt: folge mir. Und er stand auf und folgte ihm. So träge und inaktiv er normalerweise ist, so schnell und lebendig reagiert Levi auf die Stimme Jesu. Ohne einen einzigen Moment nachzudenken steht er auf und folgt dem Herrn. Wie ist das möglich? Was ist passiert?
Es ist bei Levi eine empfindliche Seite angerührt worden, die zwar tief in ihm verborgen, aber nicht verschwunden ist. Warum ist dieser Sproß aus dem Priestergeschlecht vom Diener des allerhöchsten Gottes entartet in einen Ausbeuter seines Nächsten und Diener seiner eigenen Interessen? Ich stelle mir vor, daß Levi sich kritisch umgesehen hat in seiner eigenen Familie, deren Mitglieder so tätig im Tempel herum spazierten. Die Priester seiner Zeit kümmerten sich auch mehr um sich selbst, ihren eigenen Komfort und um ihre Macht als um das Wohl der Armen, der Witwen, der Waisen. Wenn das Jahwehglauben ist, wird Levi gedacht haben, dann reicht es mir. Ich habe die Schnauze voll. Laß mich lieber Zöllner werden dann weiß jeder, was er von mir erwarten kann. Und enttäuscht wendet sich Levi ab von Verstellung und Heuchelei. Er wird hart und erbittert, ein unangenehmer Mensch auf einem miesen Stühlchen, passiv, ekelhaft.
Für mich liegt hier der Grund warum Levi, ohne nachzudenken und direkt, auf die Stimme Jesu reagiert und sofort in Bewegung kommt. Hier ist einer, der nicht heuchelt. Hier ist einer, der wirklich den Willen des Gottes Israels tut, der das Reich Gottes – worüber die Väter, die Propheten, die Schriften so oft reden – zu den Menschen bringt. Er schickt dich nicht mit großen persönlichen Opfern zum Tempel. Nein, ganz im Gegenteil, er opfert sich selbst und bietet dir die Liebe Gottes an – umsonst. So hatte der Gott Israels das gemeint. So ist er gewesen für Ruth, David, Rachab, die Witwe von Safad und so hat er so viele in der Marge wieder auf die Beine gestellt. Und nun ruft dieser Mann aus Nazareth ihn, Levi, den verhaßten Zöllner, ausrangiert aus dem gesellschaftlichen Leben, gemieden wie die Pest. Er wird gerufen, um wieder mitzumachen. Auch für ihn gibt es einen neuen Beginn. Das kennt Levi, der Priestersohn, als die wahre Botschaft der heiligen Schrift und darauf reagiert er impulsiv, ohne nachzudenken. Die empfindliche Seite ist angerührt und für jeden hörbar zum Klingen gebracht.
Man würde sagen, daß Paulus, der als aktiver Arbeiter im Dienst des Evangeliums an die Philipper schreibt, genau auf der anderen Seite steht als der passive Levi auf seinem Stuhl. In einem Kommentar von Johannes Calvin las ich aber, daß das nicht so ist und daß Paulus sich neben Levi stellt. Und dann geht es nicht darum, daß Paulus sich selbst auch noch nicht als vollkommen sieht, sondern um den kleinen Satz, worin er sagt: „ich jage aber darnach, daß ich das auch ergreife, wofür ich von Christus ergriffen worden bin“. Calvin meint, daß Paulus versucht zu verstehen, was der Herr durchgemacht hat, um sich so mit seinem Tod und seiner Auferstehung zu vereinigen. Aber um den Tod Jesu wirklich verstehen zu können, müßte man das ganze Mysterium vom Bösen verstehen, und gerade das ist für uns Menschen ein bißchen zu viel. Levi hatte schon einiges verstanden, und Paulus fühlt mit ihm Verwandtschaft in dieser Hinsicht, wie er das mit den Philippern fühlt. Und so steht er auch neben uns, wenn wir erschüttert werden von einstürzenden Wolkenkratzern und mondialer Kriegsrhetorik. Das Böse hat immer tiefere Schichten, deren wir uns noch nicht bewußt waren und die schwieriger zu bekämpfen sind als wir je gedacht hatten. Und dieses Böse mit seinen vielen unergründlichen unverstehbaren Schichten hat Jesus zertrümmert am Kreuz. Erfolg: der Tod. Folge: Aufstand Gottes, indem er neues Leben schenkt. Und wie Paulus auch sagt: wo das Böse zunimmt, da nimmt die Gnade noch mehr zu. Das Böse mag ein unverstehbares und nicht zu kontrollierendes Mysterium sein, und denken Sie darüber bitte nicht leichtsinnig: die Gnade ist das auch, aber stärker als jedes Böse, das sich je manifestieren kann. Laß dich dann rufen von dieser Gnade, laß dein ganzes Wesen voll werden mit dem Geist Gottes und du wirst geborgen sein in den Armen des Herrn, was auch geschehen mag. Bleib nicht stehen, vergiß, was da hinten ist und beweg dich in der Richtung des Reiches Gottes. Dort ist ein Frieden, den der Verstand nicht fassen kann – wo Völker einander lieben und sich gegenseitig bereichern und segnen. Natürlich, so weit sind wir noch nicht. Michas Traum ist noch immer ein Bild der Zukunft, aber wenn wir uns dafür öffnen, dann hat diese Liebe auch in unserer Zeit eine Chance. Und darum ist es so wichtig, daß wir als Gemeinde Christi – wie klein und unbedeutend auch – zusammen kommen, um die Gnade, die alles Böse überwindet, zu erfahren und zu teilen mit jedem, der sie empfangen will.
Kurz und gut: wie stark die Enttäuschungen oder die Kritik auch sein mögen – und in kirchlichen und religiösen Kreisen sind sie immer besonders kräftig, weil die Ideale dort so hoch gestellt werden – wie weit der Gott des Himmels und Erden aus deinem Alltag verschwunden sein mag, Gott hat dich nicht vergessen. Die empfindliche Saite mag tief verschüttet sein – Schutt, gebrochener Stahl, verlorene Sicherheit, Angst vor einem dritten Weltkrieg, das alles beeinträchtigt die Andacht, wie kann es auch anders in dieser Zeit – aber die empfindliche Saite ist trotzdem noch immer da und wird mit ein bißchen Raum wieder die schönste Klänge produzieren. Bei unserem Herrn und Gott ist immer ein neuer Beginn möglich. Ja er ruft uns immer wieder, alles, was wir nicht mehr brauchen, über Bord zu setzen und zu leben wie er will. Das heißt: einfach sein und dankbar für alles Gute, was er uns im Leben schenkt und gerade das mit anderen zu teilen. Andern geben, was man selber bekommen hat, einen Ehrenplatz bewahren für die outcasts – so kommt die Liebe Gottes, das Friedensreich zu den Menschen.
Dabei ist wichtig: Erstens, daß man ehrlich und authentisch ist. Das heißt, daß man ist, wer man ist, so wie der Herr dich ganz persönlich kennt, weil er dich so gemacht hat. Es hat gar keinen Sinn, sich anders oder mehr oder weniger darzustellen als man wirklich ist, denn die Leute spüren das ohnehin. Es gibt da auch noch so etwas wie die unbewußte Kommunikation, mit der man einander versteht, empfindliche Saiten sieht, ohne ein Wort zu sagen. Sei dankbar dafür, denn der Herr will dich einsetzen, so wie du bist in seiner Gemeinde. Auch ist es gar nicht wichtig, wie alt oder wie jung man ist. In der Gemeinde Christi sind wir alle wertvoll und dürfen alle unseren eigenen Beitrag geben. Milieu, Familie, Beruf, Bankkonto, noch so einige Daten haben in der Gemeinde Christi keinen Wert. Jeder, der den Willen meines Vaters tut, sagt Jesus, ist mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter. Und als letztes das wichtigste: der Lohn der Liebesarbeit ist … Liebe. Darum viel Spaß in der Gemeinde Christi und bedenke dabei, daß viele Hände die Arbeit leicht und angenehm machen. Und die Liebe wird wachsen, denn darum geht es im Reich Gottes. Ich glaube, daß das die am besten geeignete Antwort auf Terrorismus und Todesangst ist. Richte dich danach aus, verlaß dich darauf, lebe da hin. Und du wirst schon heute den Frieden erfahren, den der Verstand nicht fassen kann. Amen.
Dr. Jan Christian Vaessen, Groningen, Niederlande