Philipper 4,4-7

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18. Sonntag nach Trinitatis | 14. Oktober 2001 | Philipper 4,4-7 | Reinhard Schmidt-Rost |

Freuet euch in dem Herrn alle Wege,

und abermals sage ich euch: Freuet euch!

Eure Güte laßt kund sein allen Menschen!

Der Herr ist nahe!

Sorgt euch um nichts,

sondern in allen Dingen laßt euer Bitten

in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,

bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Liebe Gemeinde,

angesichts des Krieges über die Freude predigen? Kann man das wirklich? Und was bedeutet im 21. Jahrhundert ‚angesichts‘ des Krieges? Wir sind gezwungen, den Krieg zu glauben, aber wir sehen nur Staub, Steine, Trümmer, grünliche Blitze vor einem Nachthimmel und – keinen Menschen, kein einzelnes Schicksal, wir sehen nichts und hören doch und müssen daran glauben.

Mitten im Krieg über die Freude predigen? Kann man das überhaupt? Über diesen fröhlichen, erwartungsvollen Text, der sonst am vierten Advent ausgelegt wird?

Wir sind voller Erwartungen, aber nicht freudestrahlend bewegt von adventlicher Hoffnung auf den, der Frieden bringt, sondern erfüllt von Vorahnungen und Vermutungen, Behauptungen und Befürchtungen, und wurden doch in den letzten Wochen trotz aller Gefaßtheit vom unerwarteten Grauen überholt.

Soll man überhaupt predigen im Krieg? Wer kann sich anmaßen, Worte zu haben für das, was nicht zu sehen ist und doch so entsetzliche Gewißheit? Könnte jemand in Amerika oder Afghanistan oder an den anderen Orten auf der Welt, wo der plötzliche, gewaltsame Tod ein Dauergast ist, der die Medien nicht mehr interessiert, könnte jemand dort Worte von der Freude überhaupt noch hören?

„Eure Güte laßt kund sein allen Menschen!“ Ist das nicht entweder zynisch oder zwecklos naiv?

Aber das Reden von der Güte Gottes muß beginnen, damit einmal Waffen schweigen. Wir können nicht warten, bis die Waffen verstummen, sonst verstummen sie nie. Christen hoffen gerade deshalb auf Gott, weil die Welt in den letzten Wochen von allen guten Geistern verlassen scheint.

Gerade jetzt aber, liebe Gemeinde, kommt es darauf an, daß die Welt nicht von allen guten Geistern verlassen wird. Woher sollte ein guter Geist kommen, wenn nicht Christen im Gebet und in ihrer weltweiten Gemeinschaft diesem Geist des Friedens, der höher ist als unsere Vernunft, eine Zuflucht bieten?

So steht im Philipperbrief ja auch nichts, was gegen den Augenschein spricht, was angesichts der Spirale von Gewalt Lügen gestraft werden müßte. Paulus sagt nicht:

Freuet euch auf allen Wegen der Welt,

und abermals sage ich euch: Freuet euch an euren eigenen Wegen.

Eure Qualität laßt kund werden allen Menschen!

Denn die Menschen sind so vernünftig und friedfertig!

… sondern: Der Herr ist nahe. Keine andere Hoffnung kann es derzeit geben, wenn der Glaube an das Gute im Menschen so sichtbar und grausam und nachhaltig zerstört wird, dort, wo dieser Glaube noch nicht längst aufgegeben werden mußte.

Die Hoffnung auf den Herrn, gerade diese Hoffnung haben die Menschen bitter nötig,

dass jemand etwas anderes sagt, als alle sagen, obwohl sie wenig wissen,

dass jemand etwas anderes hofft, als alle befürchten, denn Angst lähmt,

dass jemand mehr sieht als die Welt, die die Medien zeigen,

dass jemand noch an etwas anderes überhaupt denkt als an Krieg, Streit und Tod,

Christen hoffen auf einen Frieden, den noch niemand erlebt hat,

einen Frieden, der nicht nur im Waffenstillstand der Militärmaschinerie besteht – und wieviel wäre das schon!,

einen Frieden, der höher ist als unsere Vernunft.

Aber was kann Paulus aus fernen Zeiten zu uns herüber geben an Wissen von diesem übervernünftigen Frieden?

Paulus lebte – notgedrungen durch viele Feinde seiner Mission – mit seinen Freunden aus Philippi in einer geistigen Gemeinschaft.

Sie waren nicht nur getrennt durch die Weite des Meeres, die Beschwerlichkeit des Reisens und die Gefahr der Wege, sondern auch durch Gefängnismauern und Todesdrohungen. Aber – Gott sei Dank – hatten sie eine Kraft, die dieses alles überwand: Sie lebten gemeinsam in Gottes Frieden, höher als die fesselnden Mauern, weiter reichend als die entferntesten Freunde hofften.

Heute sind Christen und Christinnen eine unübersehbare, weltweite Gemeinschaft – dieser Grund zur Hoffnung fehlte Paulus noch. Der Brief an die Philipper darf in seiner heute weltweiten Verbreitung nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sehr wahrscheinlich nur eine kleinere Hausgemeinde gewesen ist, die sich unauffällig verhielt, die nirgends ‚präsent‘ war oder über Medien etwas kundtun konnte. Der Frieden, höher als unsere Vernunft, beginnt im kleinen. Unser globalisiertes Denken läßt es allzuschnell vergessen, daß uns die Hände zum Guten nicht gebunden sind, es braucht nur zwei oder drei für den beginnenden, großen Frieden.

Liebe Gemeinde,

Philippi war seine erste Liebe in Europa gewesen … nicht Thessalonich, – obwohl er auch der Gemeinde dort tiefsinnige Briefe geschrieben hat -, nicht Athen, wo er in philosophische Debatten verwickelt war, nicht Olympia, dorthin schaffte er es gar nicht, auch nicht Korinth, obwohl er so sehr um die Gemeinde rang.

Philippi … eine unscheinbaren Stadt im Norden Griechenlands … genannt nach Philipp von Mazedonien, dem Vater des großen Alexander … dort war er so freundlich aufgenommen worden wie nirgends sonst, dort hatte er die tiefsten Freundschaften geschlossen.

Paulus hat die Gemeinde in Philippi offenbar besonders geschätzt, und die Menschen dort – um Gottes willen – geliebt … und sie ihn …

In der Apostelgeschichte des Lukas ist von den äußeren Umständen zu lesen: Wie Paulus in Philippi von einigen Bürgern, vor allem von Frauen, freundlich empfangen wurde, und doch in Schwierigkeiten geriet, weil er sich für eine Sklavin einsetzte, die ihren Herren lukrative Dienste als Medium leistete. Denn:

Wer setzt sich schon für eine Sklavin ein, und riskiert sein eigenes Ansehen, sein römisches Bürgerrecht?

Wie Paulus damals mit seinem Begleiter ins Gefängnis gebracht wurde, aber in der gleichen Nacht noch freigelassen, als ein Erdbeben die Stadt erschütterte; so beschreibt es die Legende.

Offenbar aber hat die Solidarität mit einem rechtlosen, wehrlosen Menschen, dieses unvermutete, ungeplante Erbarmen eine Erschütterung bewirkt, die die Menschen in Philippi für Paulus eingenommen hat, so dass sie davon wie von einem Erdbeben erzählten. Aber das ist nur die äußere Hülle der Geschichte, die heute fast vergessen ist.

Daß Paulus den Philippern nahekam, lag wohl doch an dem tiefen Frieden, von dem sie hörten, ohne betört zu werden, ohne belogen und betrogen zu sein.

Ein Frieden der höher ist als die Vernunft, also eine andere Quelle hat als

ein Vertrauen zwischen Menschen, das ein Leben lang Zeit zu wachsen hatte; die Philipper hatten Paulus nie zuvor gesehen, ehe er nach Europa kam,

anders als Menschen, die sich von Kindesbeinen an kennen,

anders als Leute, die ein gemeinsames Leid zusammenschweißt, die mit der Kraft der Verzweiflung sich selbst zu helfen versuchen,

die gegenseitige Zuneigung kam auch nicht aus den Vorzügen einzelner, aus weltbewegenden oder auch nur -verändernden Taten. Sie haben wohl gespürt: Der Frieden, den Paulus verkündet, liegt nicht in menschlichen Händen, auch Paulus hat ihn nicht einfach gebracht (o nein!), er ist nicht zu machen, er ist zu empfangen.

Nun schreibt Paulus einen Abschiedsbrief an seine Freunde … aus der Gefangenschaft in Rom, er weiß, dass er nicht mehr zurückkehren wird in den Norden Griechenlands, nach Philippi, nach menschlichem Ermessen, … Es sind letzte Worte, und deshalb wiegen sie um so schwerer.

Paulus, ganz erfüllt von diesem größeren Frieden, denkt weit über sein Ende hinaus, weil er auf Gottes Ewigkeit, sein neuschaffendes Wort vertraut:

Sorgt euch um nichts,

sondern in allen Dingen laßt euer Bitten

in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,

bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Es sind sehr herzliche, ganz persönliche Worte, vor allem aber der Zukunft zugewandt: Eure Güte, eure Freundlichkeit laßt auch fürderhin alle Menschen spüren. Laßt viele eure Freundlichkeit spüren, vertraut dem Frieden, auch wenn ich nicht mehr bin.

Liebe Gemeinde,

der übergroße Frieden gilt jedem Menschen, nicht nur in Philippi.

Wenn mir das nun ein Mensch sagt: Laß Deine Freundlichkeit andere spüren … dann frage ich mich immer: Was weiß der andere denn wirklich von mir? Wie kann man mich freundlich nennen? Ich kenne doch meine Zerrissenheit, meine Unklarheit, meinen Mißmut. Oder: Ich bin nicht so ausgeglichen, wie ich vielleicht manchmal wirke, wie ich vor allem auf die wirke, deren Herz noch viel mehr umgetrieben ist als meins.

Es gibt dann auch noch die Menschen, bei denen es mir ganz schwerfällt, einigermaßen freundlich zu bleiben, den Anstand zu wahren, mich nicht über alles aufzuregen … meine Freundlichkeit ist mir nicht selbstverständlich, keine zweite Haut, aus der ich nicht herauskönnte.

Ich brauche die Besinnung auf den Frieden Gottes, der höher ist als meine und aller anderen Leute Vernunft, um an die Hoffnung auf Frieden zu glauben. Die Friedlosigkeit in meinem Herzen und die unaufhörlichen Kämpfe und Kriege unter den Völkern der Welt können ja kein Vertrauen einflößen geschweige denn, den Frieden dauerhaft bewahren.

Deshalb betreiben wir auch keine Autosuggestion, wenn wir uns den Frieden Gottes zusprechen, in jedem Gottesdienst, nach jeder Predigt. Sie wäre viel zu schwach gegen die Friedlosigkeit der Menschheit.

Ich habe es – Gott sei Dank – anders erfahren: In der gemeinsamen Besinnung auf Gottes Wort, das allen Menschen Frieden und Freiheit verheißt, erlebe ich ein gegenseitiges Vertrauen, das mich zu-Frieden-stellt.

Ich kann nicht zu-Frieden sein, wenn ich alles habe oder alles kann, schon gar nicht, wenn ich andere besiegt habe.

Wir werden zu-Frieden, so die für uns in diesen Tagen viel zu neue Botschaft des Paulus, wenn wir Liebe und Vertrauen nicht umbringen – gerade weil es überall daran fehlt: an Verständnis und Toleranz, an Solidarität und die Möglichkeit, das wirklich Gute zu tun. Denn auch über Afghanistan abgeworfene Nahrungsmittel können sich in kleine Bomben verwandeln oder auf Tretminen führen. Das Gutgemeinte ist nur der Anfang des weiten Weges zum Guten.

Auf diesem Weg schenke uns Gott den Mut und die Weisheit, vertrauenerweckende Worte zu finden, er gebe uns seinen Frieden, der höher ist als unsere Vernunft, er stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.


Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost, Bonn

Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger

an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität

E-Mail: r.schmidt-rost@uni-bonn.de