
Matthäus 25,31–46
Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres | 16. November 2003 | Mt 25,31–46 | Karin Klement |
Heute möchte ich gern ein Wortspiel mit Ihnen machen. Der Kirchenmusiker
und Religionslehrer, Siegfried Macht, hat es sich ausgedacht. Es heißt „AUS
DER LIEBE LEBEN“ (Siegfried Macht, Dein Name ist DUBISTBEIMIR, Don
Bosco Verlag 1985, S. 118). Dreimal erscheint das Wort LIEBE, darunter
der halbe Satz. Der hochgezogene Buchstabe „i“ im zweiten Wort „Liebe“ verbiegt
sich, beugt sich herab. Wie ein Mensch, der sich unerwartet herablässt
zu denen, die doch scheinbar unter seinem Niveau stehen. Er legt sich krumm,
um den anderen, den Niedrigeren nahe zu sein. Schließlich gibt er
seine Stellung sogar ganz auf und wandert an das Ende des Wortes. Er stellt
sich selber zurück, beugt sich endgültig, so tief es geht, und
nimmt dadurch die Gestalt eines „n“ an. Durch diese „buchstäbliche“ Selbsterniedrigung
wird aus der LIEBE – LEBEN.Liebe und Selbsthingabe bringt Leben – für alle. Was
ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern),
das habt ihr mir getan, sagt JESUS in der vorhin gehörten Geschichte
vom Weltgericht. Um die Liebe geht es ihm, um die praktische, ganz konkrete
Nächstenliebe gegenüber einem von diesen Geringsten. Nicht
gegenüber Hunderten oder Zehn. Ein Mensch ist gemeint, einer, der
dich oder mich nötig hat, der uns braucht. Einer, der ganz in unserer
Nähe, verborgen oder offen Not leidet. Das, was wir ihm bzw. ihr
an-tun, tun wir Christus an – im negativen wie positiven Sinn,
als Unterlassung oder als aktiven, hilfreichen Einsatz für den anderen.
Im Mitmenschen, der auf uns angewiesen ist, im Notleidenden und Niedergeschlagenen,
selbst in dem noch scheinbar wert- und würdelosesten Menschen kommt
uns der Gottessohn höchst persönlich nahe. Gott begegnet in
den Opfern und Verlierern, in den Versagern, und zugleich auch in jenen,
die eigentlich niemand gerne um sich hat: in den schuldbeladenen, doch
nicht immer ihrer Schuld bewussten Tätern.Heute am Volkstrauertag denken wir an die entsetzlichen Folgen der Weltkriege
und an das unvorstellbare Leiden, das Menschen ihren Mitmenschen angetan
haben. Dankbar und glücklich können wir sein, wenn uns solche
Erfahrungen erspart geblieben sind. Wenn wir weder als Opfer, noch als
offensichtliche Täter in diese greuelhaften Ereignisse eingebunden
wurden. Doch wir kommen nicht umhin, zu fragen, wo denn heute die Opfer,
und wo die Täter stehen, und ob man sie in jedem Fall so eindeutig
unterscheiden kann. Zu fragen wäre auch, welches unser eigener,
ganz persönlicher Anteil ist an den Ursachen für Ungerechtigkeit
und Gewalt in dieser Welt. Denn alles menschliche Handeln hat Konsequenzen
für die Welt, in der wir leben, für uns selber und für
unseren Glauben an Gott.
In seiner Endzeitrede vom letzten Gericht zeichnet JESUS zunächst
ein sehr beglückendes Bild: Der langersehnte Menschensohn kommt
in königlicher Würde und Herrlichkeit zu den Menschen zurück.
Sein Engelhofstaat umgibt ihn mit prächtigem Glanz und fliegender
Leichtigkeit. Alle Völker der Welt werden sich vor ihm versammeln
in Frieden und Einigkeit. Und wie ein treuer, fürsorglicher, guter
HIRTE, der seine Herden über Nacht an ihre Schlafplätze führt,
scheidet auch der Menschensohn die weißen Schäfchen von den
dunklen, wärmebedürftigeren Ziegenböcken. Was bisher noch
sehr friedlich vor Augen stand, verwandelt sich langsam in eine ungewohnte
Strenge und Härte. Denen zur Rechten wird zunächst das höchste
Lob ausgesprochen: Gesegnete des himmlischen Vaters werden sie genannt
und eingeladen in Gottes unbeschränkt erkennbaren Herrschaftsbereich,
in Seine unmittelbare Nähe. Begründet wird dieses glückselige
Angebot mit ihrem fürsorglichen, nächstenliebenden Verhalten,
von dem sie selber nicht einmal etwas wussten. Vielleicht war ihnen ihr
mitmenschliches Handeln so selbstverständlich, dass sie es gar nicht
als Leistung oder mühevolle Anstrengung empfanden.
Wahrlich, was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten
Brüdern
(und Schwestern), das habt ihr mir getan! Zustimmung und Freude klingen
daraus. Doch der Tonfall ändert sich abrupt: Höllenfeuer und
Verfluchte, teuflisches Verderben auf ewig, festgehalten in der Macht
des Bösen. Angesichts dieser Beschreibungen tauchen mittelalterliche
Bilder eines Hieronymus Bosch (+1516) über Höllenstrafen und
absonderliche Fabelwesen vor meinem inneren Auge auf. Phantasiebilder,
die ihre Schreckensmacht für uns Heutige jedoch verloren haben.
Abgehärtet durch weit grausigere, realistische Bilder von menschlicher
Folter und Grausamkeit verführen sie uns dazu, sie nicht ernst zu
nehmen.
Anders als die abschließenden Worte JESU: Was ihr nicht getan habt einem
von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan!“ Irritierend
endgültig klingen diese Worte, anstößig, aufschreckend
und beinahe bedrohlich wie eine allerletzte Mahnung.
Sicherlich, wir könnten uns fragen, ob der Gedanke an ein zukünftiges
strenges Gericht über unsere Taten und Unterlassungen heute noch
Menschen bewegt. Auch für viele MitchristInnen ist das Bild vom
Endzeitgericht in weite Ferne gerückt, wenn nicht sogar unerträglich
geworden. Ein richtender, zorniger, ja gewaltsamer und unbarmherziger
Gott entspricht nicht dem, das wir von Gott aus der Bibel hören,
der die Liebe ist. Gericht ist mittelalterlich.
Und ehrlicherweise werden wir auch das heute morgen bekennen müssen:
Wir werden später ganz beruhig auseinander gehen und in unserem
Verhalten nicht unbedingt damit rechnen, dass eintritt, was JESUS hier
voraussagt.
Andererseits, wie könnten wir zuversichtliche, fröhliche, mutige
ChristInnen sein, wenn wir kein Ziel, keine Hoffnung auf Veränderung
in uns tragen würden? Wie könnten wir uns einsetzen für
mehr Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden, wenn wir glaubten, dass Gewalt,
Lüge und Krieg immer das letzte Wort behalten werden?
Ein Gott, der gerecht richtet, befreit von Ohnmachtsgefühlen. Er
stärkt die Leidenden, die Opfer von menschlicher Gewalt und menschlichem
Unrecht, und entlastet sie von ihrer schmerzenden Vergangenheit, von
Hass und Rache. Sie können darauf vertrauen, dass Gottes Gericht
Ausgleich schaffen wird, eine substantielle Gerechtigkeit, die weit tiefer
reicht als jeder menschliche Gerechtigkeitsversuch. Gott steht an der
Seite der Opfer und derer, die IHN brauchen, – und sie tragen Sein
Gesicht, sagt JESUS mit seiner Endzeitrede.
Und dennoch fällt es mir schwer, die scheinbare Eindeutigkeit von
gut und böse, die gezeichnete Schwarz-Weiß-Malerei so unwidersprochen
hinzunehmen. Steht sie nicht im Widerspruch zu den vielschichtigen menschlichen
Erfahrungen von Schuldverstrickungen, in die wir verwickelt sind, ohne
es zu wollen. Es gibt Schuld, für die niemand allein verantwortlich
ist, an der wir gemeinsam tragen, weil wir in der Gemeinschaft zusammengehören,
und weil niemand ohne Einfluss und Auswirkung auf den anderen lebt.
Ich erinnere ein Notfallseelsorgegespräch mit einem jungen, gerade
erst fertig ausgebildeten Lokführer. Er hatte die Selbsttötung
eines Mitmenschen sehenden Auges miterlebt und trotz aller Bemühungen
nicht verhindern können. Schuldgefühle und Gegenanklagen wechselten
sich ab. „Warum musste der sich ausgerechnet meinen Zug aussuchen?
Hätte ich nicht auch schon viel früher reagieren können?“ Wer
hat Schuld an diesem Ereignis? Wer trägt Verantwortung dafür,
wenn ein Mensch sein Leben wie Dreck erachtet und einfach fortwirft?
Eine letztgültige Antwort kann ich nicht geben. Doch das Fragen
bleibt wichtig, auf der Suche zu bleiben nach Gerechtigkeit und Wahrheit,
auch wenn wir sie – in dieser Welt – niemals ganz und klar
und eindeutig finden werden.
Es ist wohl immer so, dass wir Menschen einander viele Dinge schuldig
bleiben, die doch in unserer Macht und Möglichkeit gestanden hätten:
Ein freundliches, verzeihendes oder aufmunterndes Wort für den,
der unsichtbar danach hungert und dürstet. Eine Einladung an den
Neuen in Schule oder Betrieb; ein Gespräch mit dem Fremden über
Gott und die Welt und was ihm sein Leben fern von zuhause erleichtern
könnte. Einen bloßgestellten Menschen, der in aller Öffentlichkeit
seiner Würde entkleidet wurde, in Schutz zu nehmen. Kranke zu besuchen
und Menschen im Gefängnis ihrer Ängste und Sorgen, ihrer Blamage
oder Unsicherheit nicht allein zu lassen.
Unzählige Möglichkeiten der Begegnung mit anderen, der Aufmerksamkeit
und Solidarität für einander sind uns gegeben. Es müssen
keinesfalls großartige Aktionen, alles umwälzende Taten oder
Strategien zur Weltverbesserung sein. Es reichen die kleinen Schritte,
die wir auf einander zugehen. Es hilft schon, einen wachen Blick zu entwickeln, über
sich selbst hinauszuschauen und in dem Anderen den Mitmensch, den Nächsten
zu entdecken – einen Menschen mit dem Antlitz Gottes.
Wo wir Menschen einander brauchen, selbst mit unserer winzig kleinen
Kraft, da entsteht Lebendigkeit. Wo Menschen sich beugen, nicht herablassend,
sondern aus LIEBE, den „kleinen Leuten“ auf Augenhöhe
zu begegnen, da entwickelt sich neues LEBEN. Bei „Großen“ und „Kleinen“.
Ich wünsche uns allen solchen Mut AUS DER LIEBE zu LEBEN – ohne
Angst vor Tod, Gericht und Höllenfeuer. Vielmehr im Vertrauen auf
den Gekreuzigten, der schon längst alle Schuld auf sich genommen
hat. Der uns wie ein guter Hirte an die Krippe führt, wo Nahrung
und Heil für Leib und Seele, wörtliche Speise für Geist
und Verstand ausreichend vorhanden ist. Was er uns anbietet, brauchen
wir nur aufzunehmen mit Herz und Hand. So sind unsere Hände niemals
leer, sondern mit Gottes Barmherzigkeit gefüllt. Und wenn wir sie öffnen
für einander, dann sehen wir IHN plötzlich vor uns in den Schwestern
und Brüdern. Und hören ihn sagen: Kommt her zu mir, Ihr Gesegneten!
AMEN
Kirchengemeinden Roringen u. Herberhausen
Pastorin Karin Klement
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