
Psalm 126
Wir werden sein wie die Träumenden! | Ewigkeitssonntag | 24. November 2024 | Ps 126 | Gert-Axel Reuß |
Liebe Gemeinde,
in den letzten Wochen sind einige Träume geplatzt. Mir kommt es so vor, als seien wir aufgewacht – manche denken vielleicht: endlich aufgewacht – und finden uns in einer Welt, deren Probleme uns hart bedrängen. Auswege sind nicht in Sicht, ob wir an die Begrenzung des Klimawandels denken oder an die Kriege dieser Welt, an die Menschen in der Ukraine vor allem und die israelischen Geiseln in den Tunneln der Hamas, an die Menschen in Gaza, in Beirut und Kirjat Schmona im Norden Israels.
Wir träumten vom Frieden, damals vor 35 Jahren, als die Mauer fiel und hofften damals auf eine neue Weltordnung, in welcher Kriege und Konflikte überwunden wären und die Völker einen friedlichen Weg zum Ausgleich der Interessen finden könnten. Und eine Zeit lang schien sich ja auch alles zum Besseren zu wenden. So dachten wir. Und manche beflügelte dieser Optimismus dazu, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Heute fragen wir uns: Was ist daraus geworden? Sind unsere Träume und Hoffnungen einfach zerplatzt wie Seifenblasen? Haben sich unser Elan und Optimismus einfach verflüchtigt? Oder gar in ihr Gegenteil verkehrt? Sind wir Verlorene? Unbelehrbar auf dem Weg in das eigene Unglück?
Mir hilft in Situationen, in denen sich das Gefühl von Ohnmacht und Resignation ausbreitet, ein Blick in den Psalter, das Gebetbuch der Bibel. Waren die jüdischen Menschen vor zweieinhalb Jahrtausenden nicht viel schlechter dran als wir? Warum haben Sie den Glauben an die Zukunft nicht verloren, größten Widrigkeiten zum Trotz?
Hören Sie selbst:
„Wenn der HErr die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens
Und unsere Zunge voll Rühmens sein.
Da wird man sagen unter den Völkern:
Der HErr hat Großes an ihnen getan!
Der HErr hat Großes an uns getan;
Des sind wir fröhlich.
HErr, bringe zurück unsre Gefangenen,
wie DU die Bäche wiederbringst im Südland.
Die mit Tränen säen,
werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen
Und tragen guten Samen
Und kommen mit Freuden
Und bringen ihre Garben.“
Ich möchte Ihnen dazu drei Erklärungen anbieten, obwohl die Worte des Psalms im Grunde genommen aus sich selbst heraus wirken. Sie brauchen nicht erklärt, so wollen gehört werden. Besser noch: sie wohlen nachgesprochen, sie wollen gebetet werden. Wer dies tut, immer wieder tut, dessen Blick auf die Welt verändert sich. Und mit dem Blick verändert sich nicht nur eine düstere Weltsicht. Sie/Er verändert sich selbst. Probieren Sie es aus. Meditieren Sie diesen Psalm und Sie werden es erleben. Haben es im Grunde schon erlebt, denn ein Anfang ist ja schon gemacht.
Eine/Einer hat den Psalm gelesen, hat ihn gesprochen, gebetet und damit ein Samenkorn der Hoffnung gepflanzt. D.h.: der Nährboden der Hoffnung ist – davon bin ich überzeugt – in jedem Menschen vorhanden. Ist uns von Gott sozusagen in die Wiege gelegt. Mit den Worten der Bibel: „Fürchte dich nicht, denn ICH habe dich erlöst. ICH habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist MEin.“ (Jes 43,1)
Es gibt Menschen, die für uns beten. Es hat sie immer gegeben, zu allen Zeiten. So wie diese Frau, diesen Mann, der diese Worte zuerst gesprochen, den Menschen in größter Not, in der Sklaverei zugesprochen hat: „Wenn der HErr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“
Träumt!
Die Sklaverei ist kein unabänderliches Schicksal. Gott hat uns als freie Menschen geschaffen – und er wird uns wieder in die Freiheit führen! Erinnert Euch und träumt! Es kommt der Tag, da „wird man sagen unter den Völkern: Der HErr hat Großes an ihnen getan!“ Dieser Tag kommt, ganz bestimmt.
Allein dieser Zuspruch weckt Gottvertrauen.
Der Klang dieser Worte – mögen sie noch so unrealistisch sein – „in einer fernen Zukunft vielleicht, aber ich werde dies nicht mehr erleben“ – der Klang dieser Worte: „Wenn der HErr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“ weckt sie auf, die Hoffnung. Und zaubert denen, die es hören, ein Lächeln ins Gesicht, das sich in ein sattes Lachen verwandelt, wenn wir einstimmen in das Lob Gottes: „Der HErr hat Großes an uns getan!“
Vor etwas mehr als 100 Jahren hat Theodor Herzl jüdischen Menschen zugerufen: „Wenn ihr es wollt, bleibt es kein Traum!“
Die Wege hin zu einem jüdischen Staat, mögen uns verschlungen erscheinen. Voller Gewalt, die sich bis heute fortsetzt in Israel und Palästina. Es fällt mir schwer, diesen scheinbar unlöslichen Konflikt mit dem Willen Gottes in Verbindung zu bringen.
Aber der Weg, den jüdische Menschen damals eingeschlagen haben, kennt auch ganz andere Werte und Vorstellungen, basierend auf einem friedlichen Zusammenleben der Völker. Träume und Weissagungen der Propheten, wie wir sie bald in unseren Weihnachtsgottesdiensten wieder lesen und hören.
Diese Vision von einem friedlichen Zusammenleben der Nationen, von einer Welt, in der Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, weil die Menschen verlernt haben, Krieg zu führen – man möchte auch heute rufen, in Erinnerung rufen: „Wenn Ihr es wollt, bleibt es kein Traum!“
Liebe Gemeinde,
ich kenne die Einwände. Sie sind auch in mir vorhanden. In meinen Gedanken, in meinem Herzen. Und ich vermute, dass die, welche gebetet haben „„Wenn der HErr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“, diese Gedanken kennen. Deshalb muss und kann etwas Zweites hinzukommen. Im 126. Psalm ist es die Bitte: „HErr, bringe zurück unsre Gefangenen,
wie DU die Bäche wiederbringst im Südland.“
Die von Roger Schutz und anderen gegründete „Communauté de Taizé“, die Gemeinschaft der Brüder von Taizé hat vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert die Jugend der Welt zu sich eingeladen und tut es noch heute. Unter den Stichworten „Kampf und Kontemplation“ diskutieren junge Frauen und Männer darüber, wie sie die Welt zum Besseren verändern können – angefangen bei sich selbst, in den Familien und sozialen Bezügen, in welchen sie leben. „Kampf und Kontemplation“, das eine nicht ohne das andere. Aber genau in dieser Reihenfolge.
Also zuerst die Frage: Was kann ich tun, kann ich beitragen? Und dann die Bitte: „Gott, gib mir die Kraft, das zu tun, was Not wendet.“
„HErr, bringe zurück unsre Gefangenen, wie DU die Bäche wiederbringst im Südland.“
So ist es geschehen vor zweieinhalb Jahrtausenden, als jüdische Menschen zurückkehren konnten aus der babylonischen Gefangenschaft. Zurückgekehrt sind in die Heimat der Mütter und Väter, zurückgekehrt sind in das Land, das wir heute Israel nennen.
Lasst uns nicht vergessen: Die Kraft dieses Gebetes, die Ermutigung zum Handeln, die aus dieser Hoffnung erwächst, hat auch unter uns in Europa einen „eisernen Vorhang“ durchbrochen. Nicht alles war gut, was danach geschah. Aber bitte hört nicht auf daran zu glauben, dass man es immer noch ausbessern, besser machen kann! In Europa, in der ganzen Welt!
Ein Letztes:
„Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“
Für manche sind diese Worte Musik. Sie haben sie gehört und vielleicht sogar gesungen im „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms.
Für manches sind diese Worte Musik – auch wenn sie Brahms Requiem nicht kennen, aber das Leben. Das Leben kennen, weil ihnen nicht nur nach Lachen zumute ist, sondern auch nach Weinen.
Heute werden in vielen Kirchen die Namen derer vorgelesen, die im zurückliegenden Jahr verstorben sind. Manche von uns werden nach dem Gottesdienst auf den Friedhof gehen zu den Gräbern ihrer Liebsten. Das Weinen hat eine Kraft, die dem Lachen (s.o. V.2) in nichts nachsteht. Träumt nicht nur, sondern weint.
Weint!
So ruft es zu uns. Denn unsere Tränen sind ein guter Dünger für die Verwirklichung des Traums von einer besseren Welt.
Wenn wir heute an unsere Verstorbenen denken, dann beklagen wir nicht nur den Verlust, den wir erlitten haben. Das tun wir auch, und sollen es auch tun. Weint! Denn unsere Tränen legen auch das Gute frei, was wir empfangen haben. Von unseren Müttern und Vätern, von der Frau, dem Mann an unserer Seite, die/der fehlt – als Ehefrau und Ehemann, als Schwester oder Bruder, als Freundin, Freund, und – so schwer mir dies fällt auszusprechen – auch unsere Kinder haben uns Kostbares gegeben durch ihr bei uns Sein. Auch wenn wir unendlich traurig sind, dass sie nicht mehr bei uns sind – unsere Trauer mag noch so groß sein, aber sie ändert nichts an dem, was wir durch sie bekommen und erfahren haben.
Weint!
Denn im Weinen über eine Welt, die uns oft beklagenswert erscheint, steckt der Wunsch nach Veränderung. Und auch die Kraft, dazu beizutragen, dass sich etwas ändert.
„Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“
Weint!
Und betet!
Vor allem aber: Vergesst das Träumen nicht!
Amen.
—
Gert-Axel Reuß
Domprobst i.R.
Zur Schönen Aussicht 4
23909 Bäk
Mail: gert-axel.reuss@gmx.de
Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche