
Psalm 126/Psalm 90
Totensonntag | 24. November 2024 | Ps 126/Ps 90 | Bernd Giehl |
Jetzt noch einmal mit Rilke sagen können: „Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren und auf den Feldern lass die Winde los.“ Nein der Zeitpunkt ist dafür zu spät. So etwas kann man im September sagen, aber nicht im November, wenn der „Goldene Oktober“ längst vorbei ist, falls man in diesem Jahr vom Goldenen Oktober wegen des vielen Regens überhaupt reden kann.
Und doch sind beides Bilder vom Herbst. Die einen eher vom Beginn die anderen vom Ende. Wenn die Bäume kahl sind und der Nebel zwischen den Bäumen steht wie ein nasses Gespenst. Wenn die Tage merklich kürzer werden und man die Sonne kaum noch sieht. Beides gehört zum Herbst. Das Erntedankfest ebenso wie der Totensonntag. Das letzte Blühen und das Genießen ebenso wie das Vergehen.
Aber auch der Totensonntag hat zwei Gesichter. Ebenso wie er zwei Namen hat. Nämlich „Totensonntag“ und „Ewigkeitssonntag“. Der Name „Totensonntag“ erinnert uns an die eigene Vergänglichkeit. Wir werden sterben müssen. Ebenso wie die Menschen, die wir lieben. Nichts kann uns davor bewahren. Aber der Sonntag trägt ja auch noch einen anderen Namen. Und dieser Name spricht von der Hoffnung. „Ewigkeitssonntag“. Wir werden auferstehen. Und damit ganz neu beginnen. Keine Erinnerung an Früheres wird uns mehr quälen.
Diesmal sind beide Aspekte auf zwei verschiedene Texte verteilt. Leicht zu sehen, welcher Text welchen Aspekt verkörpert.
Fangen wir mit Psalm 90 an. „Herr du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge und die Welt geworden sind, bist du doch Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder Menschenkinder. Denn tausend Jahre sind vor dir wie ein Schlaf, wie der Tag, der gestern vergangen ist und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, sie sind wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt. Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen. Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsere unerkannte Sünde ins Licht vor dein Angesicht. Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. Unser Leben währet siebzig Jahre und wenn’s hochkommt so sind‘s achtzig Jahre und was daran köstlich scheint ist doch nur vergebliche Mühe, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Wer glaubt’s aber, dass du so sehr zürnest und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm? Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Was Autor der Predigt und Hörende wahrscheinlich gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass sie diesen Psalm nicht nur im Konfirmandenunterricht behandelten, sondern auch auswendig lernten. Ich selbst habe mir dabei wohl nicht viel gedacht. Wenn die Bibel und unser Pfarrer es so sehen, wird es wohl so sein. Was sollten wir auch sonst denken? Unsere Erfahrung der Zeit war ja eher geprägt von Unendlichkeit. Unendliche Tage. Fast nicht endende Sommerferien. Stunden in der Schule, die sich zogen wie geschmackloses Kaugummi, das man aber nicht ausspucken konnte. Es wird klügere Menschen gegeben haben. Kritischere Menschen. Menschen die sich nicht zufrieden gaben mit „Wenn unser Pfarrer das sagt.“ Die sich an der eigenen Erfahrung orientierten. Aber da war ja auch das ganz andere Zeitgefühl.
Aber man wird älter. Heute sage ich: So eine pessimistische Lebensauffassung habe ich lange nicht mehr gehört. Mag ja sein, dass unser Leben uns kurz vorkommt, und doch ist es etwas anderes als eine Blume auf dem Felde, die über Nacht verdorrt. Der Gedanke, dass seine Kürze eine Strafe für die Sünde sein solle, kommt mir ärgerlich vor. Selbst wenn unser Leben uns sinnlos vorkommen sollte, so können wir doch immer noch dagegen revoltieren. Auch den Anfang finde ich merkwürdig genug. Würde jemand wirklich sein Lied anfangen mit „Herr du bist unsere Zuflucht für und für“ um dann mit dem Zorn Gottes fortzufahren, der alles schwer macht? Doch nicht jemand, der das menschliche Leben so kritisch sieht wie unser Autor. Das klingt eher wie ein späterer Bearbeiter, der den Text abmildern wollte, damit er nicht so schwer verdaulich erscheint und der deshalb die erste Zeile voranstellt. Was aber nichts ändert. Dass das Leben nichts als Mühe und Arbeit bedeutet, ja dass es nur gut war, wenn es Mühe und Arbeit war, das haben spätere Generationen uns auch gepredigt. Nur ja keinen Spaß am Leben haben. Das wäre ja wohl gar zu sündig. Ich jedenfalls habe mir Glauben immer anders vorgestellt als diese Forderung nach fraglosem Gehorsam. Natürlich kann Leben auch schwer sein, aber um das zu wissen brauche ich keinen christlichen Glauben. Geschweige denn eine christliche Rechtfertigung für das Schwere, das mir widerfährt, der ich dann auch noch dankbar folgen soll.
Der Text ist lange für sich am Totensonntag gepredigt worden und die Betonung lag auf dem „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Als ob unser Leben hier nichts wert wäre. Als ob es nur dann erfüllt sein könnte, wenn ihm noch etwas folgt. Mittlerweile ist der Text durch einen anderen ergänzt worden, der ganz anders klingt und uns auch in einer ganz anderen Stimmung zurücklässt.
Der Psalm geht so: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: der Herr hat Großes an ihnen getan. Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich. Herr bringe zurück unsere Gefangenen wie du die Bäche wiederbringst aus dem Südland. Die mit Tränen säen werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen gute Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“
Ob das Lied mit dem Tod zu tun hat? Ohne die Zusammenstellung der beiden Psalmen würde man das wahrscheinlich nicht vermuten. Mit ihr aber schon. Die Gefangenen Zions das sind die im 6. Jahrhundert vor Christus von den siegreichen Babyloniern verschleppten Israeliten. Danach hatte Israel als Staat tatsächlich aufgehört zu existieren. Die Verschleppten waren ausgeliefert, hatten keine Verbindung zur Heimat mehr; sie waren quasi tot. Auch die Idee von Israel als Gottes auserwähltem Volk und Land war quasi tot. Es ist ein Bild für einen Zwischenzustand; eher Hades als Hölle, aber wir verstehen es gut. Und wir verstehen auch, dass das Bild ganz nah an der Auferstehung liegt. Der Fokus liegt nicht auf der Vergangenheit und den Sterben müssen, sondern auf der Überwindung des Todes und der Freude, die daraus entsteht. Die, die nicht mehr antworten konnten, können das wieder. Sie sind wieder sichtbar, sie spielen eine Rolle. Man kann wieder mit ihnen in Verbindung treten. Sie spielen wieder mit.
Und auch die Erfahrung des Todes muss noch einmal ganz neu gedacht werden. Er hat nicht mehr das letzte Wort.
Wie gesagt: hier geht es vor allem um Gefühle. Und zwar um glückliche Gefühle dem Tod gegenüber.
Nun ist die Frage ob hier wirklich der Tod gemeint ist. Soweit wir wissen, gab es in der Zeit vor Christus keine Vorstellung von Auferstehung bei den Juden. Aber dennoch ist es ja auch in eine andere Zeit genommen. Man kann es also in unsere Zeit hinein übersetzen. Dann sagt das Bild: wir werden unsere Toten wiedersehen. Wie sie dann aussehen, das wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht unter welchen Umständen wir sie wiedersehen. Aber wir werden sie wiedererkennen.
Der Tod ist nicht das Letzte, das wir erfahren. Es wird etwas Neues sein. Was, das wissen wir nicht. Wir werden es erleben müssen.
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Pfr. Bernd Giehl
(giehl-bernd@t-online.de)