Psalm 130

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Mittagsgebet um Frieden und Versöhnung in der Schloßkirche der Universität Bonn | 12. September 2001 | Ps 130 | Reinhard Schmidt-Rost |

Ps. 130 – Lied 299

Liebe Hochschulgemeinde,

dies ist nicht die Stunde der Lehre und nicht die Stunde der Weisheit – die Stunde der Forschung möchte es wohl sein, aber wer wollte auf Wissen hoffen, solange Rauch und Staub noch die Opfer verhüllen …?

dies ist nicht einmal die Stunde der Sprache, da Worte heute nichts anderes wirken, als den Staub noch ein wenig mehr aufzuwirbeln, den das Verbrechen erzeugte.

Aber das Verlangen nach Ausdruck treibt die Sprachlosigkeit, sich in Worte zu fassen, zu tasten nach den Trümmern von Sinn, die auf Gültiges verweisen könnten, zu graben mit bloßen Händen im tötlichen Gewimmel der Bilder, um Bleibendes festzuhalten.

Die Augen sind die vergangene Nacht übergegangen und nun getrübt von der fernen, ferngesehenen Nähe des Unbegreiflichen und doch so unmittelbar Anschaulichen, dutzendfach wiederholten, ins Gewohnte herabgemilderten, zur Selbstverständlichkeit reduzierten … das habe ich doch schon längst gesehen, blind sind die an das Grauen gewohnten Augen und möchten sich trösten mit Eindrücken von neuer Sicherheit, mit Bildern von Geretteten, obwohl doch so viele verloren sind, mit Eindrücken von Tätern, daß das Böse greifbar wird – und nicht weiter die Atmosphäre mit Ungewißheit vergiftet, mit Parolen der Stabilität …

Liebe Gemeinde, ist es schon eine Zeit zu trauern? vielleicht … aber ich meine, es ist noch zu früh, trauern geht nur um Verlorenes, aber wissen wir wirklich schon jetzt, was wir verloren haben, die wir nur von ferne standen und sahen?

Wer in dieser Katastrophe geliebtes Leben verloren hat, der mag in dieser Stunde bereits trauern, obwohl der Bann des Entsetzens sicher gerade die Angehörigen längst noch gefangen hält, und die bange Ungewißheit viele verstummen verläßt.

Was aber haben wir verloren? Unsere Sicherheit vielleicht, wenn wir sie je hatten, aber welcher Wissenschaftler wären so selbstgewiß, dass er aus seinen Leistungen, Forschungen und Erkenntnissen letzte Lebenssicherheit gewinnen könnte, die jetzt erst erschüttert würde?

Was haben wir verloren? Unsere Hoffnung auf Frieden, die wir nun wieder wie eine empfindliche Pflanze allein im Herzen hüten, und unter unseren Freunden? Aber können wir wirklich ohne die Hoffnung auf weltweiten Frieden leben?

Was haben wir verloren? Unseren Glauben? Den Glauben an das Gute im Menschen? Den mag verloren haben, wer immer ihn in seinem reinen Herzen trug. Den Glauben an die Güte Gottes? Der wird denen erschüttert, die glaubten, dass Gottes Güte die Freiheit der Menschen zum Bösen einschränken würde.

Den Glauben an die Verantwortung der Menschen vor Gott? Der wird mir gerade in diesen Stunden neu bekräftigt. Das Verbrechen weist den Glaubenden radikal auf diese Verantwortung vor Gott, – dass wir einander nicht nach dem Leben trachten, sondern helfen, soweit es in unseren Kräften steht, – daß wir aneinander das Gute sehen, auch wo wir unsere Schwächen erkennen, – dass wir einander die Zukunft nicht schwarz malen oder etwas weiß machen, sondern uns gegenseitig korrigieren, – daß wir uns – mit zwei Worten gesagt – als Geschöpfe Gottes achten.

Bitten wir in dieser düsteren Stunde um die Kraft zu solchem Glauben, die als Kraft der Liebe in uns spürbar wird, die dem Bösen widersteht, die Liebe, die sich heute nur als Klage aussprechen kann.

So wollen wir in diesem Augenblick der Besinnung noch einmal die Worte des Psalters hören: Ps. 22.

Lied 430

Vater unser – Segen


Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost, Bonn

Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger

an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität

E-Mail: r.schmidt-rost@uni-bonn.de