
Psalm 24,7-10
Lebens-Geschichten: Wunsch-Zettel | Psalm 24,7-10 | Gunther Wenz |
Markuskirche München
Universitätsgottesdienste der Universität München im Wintersemester 2001/2002
LESUNG Psalm 24,7-10
LESUNG Matthäus 21,1-11
Liebe Gemeinde,
der Psalmtext, den wir soeben vernommen haben, gehört wahrscheinlich zur Gattung der Tempeleinlaßliturgie. Die Szene mag folgende sein: Gegen Ende der Nacht, zur Morgendämmerung, sammelt sich das Volk von Jerusalem samt den sonstigen Israeliten, die sich dort eingefunden haben, zu einer Prozession. Ziel ist der Tempelberg Zion. Man schreitet vor die Tore des Tempels, die Pforten des Heiligtums. Mitgeführt wird, auf einem mächtigen Wagen, die heilige Lade, die seit alters als Thronsitz Jahwes, des Gottes Israels, gilt. Wie der irdische König, etwa bei der Heimkehr aus dem Feldzug, in festlicher Feier seinen Palast betritt, so will der göttliche „König der Ehren und Herrlichkeit“ an seine Stätte ziehen. Vor den Toren des Tempels angekommen, hält der Festzug an. Und nun singt man oder ruft: „Ihr Tore, hebt euch nach oben, hebt euch, ihr uralten Pforten; denn es kommt der König der Herrlichkeit.“ Darauf wird aus dem Innenraum des Tempels oder des Heiligen Bezirks die Frage laut: „Wer ist der König der Herrlichkeit?“ Und die Antwort der einlaßbegehrenden Prozessionsgruppe erfolgt umgehend: „Der Herr, stark und gewaltig, der Herr, mächtig im Kampf.“ Und noch einmal erfolgt der Aufruf an die Tore, sich zu erheben und weit zu machen, und abermals ertönt von innen die Frage, wer denn der König der Herrlichkeit sei. „Der Herr der Heerscharen, der Herr Zebaoth, er ist der König der Herrlichkeit“, antwortet zusammenfassend die Prozession, worauf sich – wie wir annehmen dürfen – die Pforten des Heiligtums öffnen. So etwa haben wir uns den Sitz im Leben unseres Psalmtextes vorzustellen. Die Frage, zu welchem Fest Israels die Einführung der Lade in das Heiligtum gegebenenfalls gehört, ist umstritten. Einige Exegeten rechneten mit der Möglichkeit eines alljährlich gefeierten sog. Thronbesteigungsfestes Jahwes, andere haben dies bestritten. Wie auch immer: daß es sich bei unserem Psalmtext um ein altes Traditionsstück und um eine Prozessionsliturgie vor dem Jerusalemer Heiligtum handelt, dürfte der Fall sein.
Sehen wir theologisch etwas genauer zu, dann werden wir allerdings bemerken, daß wir uns den liturgischen Aufruf zur Öffnung der Tempelpforten nicht zu vordergründig vorstellen dürfen. Der mächtige Himmelskönig, der hier Einlaß halten will, sprengt nicht nur die Maße eines Türrahmens, er reicht in seiner machtvollen Größe ins Unendliche und transzendiert alle beschränkenden Grenzen des Raumes wie der Zeit. Gleichwohl will er seine Gegenwart nicht ins schlechthin Ferne und Abwesende entrücken. Gott will vielmehr in seiner Unendlichkeit dasein im Endlichen und seine Anwesenheit schenken an seinem Ort und zu seiner Zeit. Von daher verwundert es nicht, daß Psalm 24 zu einem adventlichen Leittext des Christentums wurde, zu einem in mannigfachen Variationen aufgegriffenen Ausdruck des Advents, der Ankunft, des Zur-Welt-Kommens Gottes in Jesus Christus. Die frühe Christenheit hat ihn in diesem Sinne von Anfang an in Gebrauch genommen. Die Erinnerung an Jesu Einzug in Jerusalem, wie sie uns u.a. im 21. Kapitel des Evangeliums nach Matthäus (1-11) überliefert ist, hat dabei zwar nicht sogleich, aber dafür später um so nachdrücklicher mitgewirkt. Auch hier haben wir es ja mit einer Art von Prozession zu tun. Indes, wie niedrig und gering nimmt sich bei Jesu Jerusalemer Einzug die adventliche Ankunft aus: „Geht in das Dorf, das vor euch liegt“, sagt der Herr zu den Seinen; „dort werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Fohlen bei ihr. Bindet sie los, und bringt sie zu mir! Und wenn euch jemand zur Rede stellt, dann sagt: Der Herr braucht sie, er läßt sie aber bald zurückbringen.“ (Mt 21,2f) Auf dem Füllen einer Eselin reitet Jesus in der Zionstadt Jerusalem ein. Und doch vermag ein Teil des Volkes in solch dürftigem Advent die Erfüllung alttestamentlicher Verheißung zu erblicken. „Das ist geschehen“, so heißt es, „damit sich erfülle, was durch den Propheten (sc. Sacharja 9,9) gesagt worden ist: Sagt der Tochter Zion: / Siehe, dein König kommt zu dir. / Er ist friedfertig, / und er reitet auf einer Eselin / und auf einem Fohlen, / dem Jungen eines Lasttiers.“ (Mt 21,4f) Als Jesus einreitet, breiten daher – als Geste der Verehrung und des freundlichen Empfangs – viele Menschen ihre Kleider auf der Straße aus, „andere schnitten Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Die Leute aber, die vor ihm hergingen und die ihm folgten, riefen: Hosanna dem Sohn Davids! / Gesegnet sei er, der da kommt im Namen des Herrn. / Hosanna in der Höhe!“ (Mt 21,8f) Mit den Worten des 118. Psalms haben sie damit zum Ausdruck gebracht, daß die Ankunft Jesu als Kommen des göttlichen Gesandten, ja als Kommen Gottes selbst zu werten ist, womit der sachliche Bezug zu Psalm 24 hergestellt ist: Jesus Christus ist die Ankunft Gottes, der göttliche Advent in Person, in und mit dessen Erscheinen Gott selbst offenbar wird, um unter uns zu wohnen und bei uns zu sein in dieser Welt. Diese an Geschichte und Werk des erwachsenen Jesus von Nazareth gewonnene Einsicht, welche alle auf ihn übertragenen Hoheitstitel unterstreichen und hervorheben wollen, wurde in den Weihnachtsgeschichten in grundsätzlicher Weise entfaltet, indem gesagt wurde: er, Jesus von Nazareth, ist anfänglich, ursprünglich und ganz von Gott her – nichts anderes als dies will etwa die Vorstellung von der jungfräulichen Geburt zum Ausdruck bringen -, in ihm ist Gott selbst zur Welt gekommen. In ihm ist Gott selbst vom Himmel herabgestiegen, hat die Tore der Welt durchschritten, um himmlische Freude, ja den Himmel selbst auf Erden zu erschließen. Kurzum: In der Erscheinungsgestalt Jesu Christi ist Gott selbst gegenwärtig, Jesus Christus ist die Realpräsenz Gottes und in diesem Sinne das göttliche Ursakrament, das wirksame Zeichen der Nähe Gottes schlechthin, in dem das Reich Gottes bereits angebrochen ist.
Auf das Gedächtnis solch weihnachtlicher Ankunft Gottes in Jesus Christus bereiten wir uns in der Adventszeit vor. Es ist ein schönes Zeichen, daß sich das Kirchenjahr sein Beginnen nicht vom astronomischen Kreisen der Gestirne vorschreiben läßt, sondern mit der geschichtlichen Ankunft des Herrn seinen Anfang macht. Freilich hat auch das Säkularjahr an diesem Gedächtnis teil, indem es sich von der Geburt Jesu Christi her datiert. Anno Domini 2001 schreiben wir mittlerweile, der Geburt des Herrn vor über zweitausend Jahren gedenkend. Doch wohnt solchem Gedächtnis nicht auch chronische Ambivalenz inne? Muß nicht, um ein Diktum Hegels zu variieren, gesagt werden, der Herr Jesus sei schon so lange auf die Welt gekommen, daß es bald nicht mehr wahr ist? Nun, wahr jedenfalls ist, daß uns das Gedächtnis des weihnachtlichen Advents zu weiteren Gedanken nötigt. Zu bedenken gilt es vor allem, daß für den weihnachtlichen Gottessohn der Eintritt in die Tore der Welt zum Eintritt in die Pforten des Todes und der Hölle wurde, woraufhin ja bereits der Einzug in Jerusalem angelegt ist. Es bestätigt sich, was im Prolog des Johannesevangeliums gesagt ist: „Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh 1,9-11) Die Welt, als Schöpfung dazu bestimmt, Zeichen des Daseins Gottes zu sein, erweist sich angesichts des göttlichen Advents in Jesus Christus in ihrer Verkehrtheit, als Ort der Finsternis und des Grauens, des Todes und des Teufels. Deshalb erreicht das Kommen Gottes seine äußerste Tiefe am Kreuz, das eine gottlose Welt dem göttlichen Gesandten bereitet. Der weihnachtliche Herr der Herrlichkeit erleidet den Schmachtod des Sünders und verfällt der Hölle gottverlassener Verzweiflung. Man darf dieses Äußerste und Abgründigste der christlichen Lehre vom göttlichen Advent nicht verschweigen, weil ohne es weder rechte christliche Buße noch rechter christlicher Trost angesichts von Tod und Teufel zu erlangen sind. Jedoch ist beides möglich nur, weil wir gewiß sein dürfen, daß der göttliche Advent nicht im Grabe und hinter verschlossenen Höllenpforten endet. „Doch du ließest ihn im Grabe nicht, du wolltest nicht dulden, daß dein Heiliger Verwesung sähe“, singt der Tenor, nachdem er den Kreuzestod Jesu rezitiert hat, in Händels Oratorium „Der Messias“, woraufhin der Chor in frischpulsierendem F-Dur mit den Worten unseres Psalms einfällt: „Hoch tut euch auf – und öffnet euch weit, ihr Tore der Welt, denn der König der Ehren ziehet ein. Wer ist der König der Ehren? Der Herr, stark und mächtig im Streite. Wer ist der König der Ehren? Gott Zebaoth, er ist der König der Ehren.“ Hier ist – und auch dies ist alte christliche Tradition – Psalm 24,7-10 auf Auferstehung und Himmelfahrt Jesus Christi gedeutet, in welchen er durch die Pforten der zukünftigen, himmlischen Welt in die Herrlichkeit seines Vaters eingeht, um von Ewigkeit zu Ewigkeit ihm anzugehören.
Doch selbst damit endet noch nicht der christliche Advent und die entsprechende Verwendung unseres Psalmmotivs. Denn der erhöhte Herr will ja mit seinem göttlichen Vater nicht alleine sein, sondern die Pforten des Himmels für all jene öffnen, die im Glauben an ihm hängen. Dem dient die Sendung des Geistes als eines Angelds jenes zweiten und letzten Advents, jener Zukunft des Gekommenen, in der das Reich Gottes vollendet und Gott alles in allem sein wird. Dieser zweite und letzte Advent steht uns als Ende unseres Lebens und Ende der Welt noch bevor. Doch wir können ihm – trotz zu erwartenden Gerichts – getrost, ja nicht nur getrost, sondern voller Zuversicht, Hoffnung und Freude entgegensehen, weil der, welcher kommt, kein anderer sein wird als der, der um uns und unseres Heiles willen schon gekommen ist: Jesus Christus, der auferstandene Gekreuzigte, in welchem der dreieinige Gott offenbar ist, offenbar als Gott für uns – für uns verkehrte Menschen in einer verkehrten Welt. In diesem Sinne umgreift der göttliche Advent, dessen Inbegriff Jesus Christus ist, Anfang und Ende der Welt und unseres persönlichen Lebens.
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“: Das A und O des christlichen Advents wird uns in dem ersten Lied unseres Evangelischen Gesangbuchs, das wir gesungen haben und singen werden, auf eindringliche Weise nahegebracht. Die im Halleschen Pietismus beheimatete Melodie erinnert an kindlichen Reigentanz, wie er ähnlich in vielen Weihnachtsliedern aufklingt. Wenn wir sie singen, werden wir in gewisser Weise zu Kindern. Und das muß auch so sein: nicht daß wir zur Flucht in infantile Sentimentalität verleitet werden sollten; angeleitet werden sollen wir vielmehr, uns als Kinder Gottes wahrzunehmen und mit Herz und Mund in den Ruf einzustimmen: Abba, unser Vater, dein und deines Sohnes Reich komme, auf daß wir Brüder und Schwestern seien vor dir. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“: der Text des Liedes ist älter als seine Melodie und stammt von dem 1590 im ostpreußischen Domnau geborenen, 1635 in Königsberg gestorbenen Georg Weißel. Er ist ein Vorläufer des in den Dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts gegründeten Königsberger Dichterbunds und in unserem Gesangbuch noch mit zwei weiteren Werken vertreten: „Such, wer da will, ein ander Ziel“ (EG 346) und „O Tod, wo ist dein Stachel nun?“ (EG 113). Entscheidend für die inhaltliche Konzeption seines Adventslieds ist die Tatsache, daß die ersten drei Strophen durch die Bezugnahme auf die drei Personen der Trinität bestimmt sind, wie dies besonders in dem zweizeiligen Schlußkehrreim deutlich wird: Gelobet sei mein Gott, (1) mein Schöpfer reich von Rat, (2) mein Heiland groß von Tat, (3) mein Tröster früh und spat. Zugrunde liegt ein Spruch aus dem Buch des Propheten Jeremia (32,19a), wo von Gott gesagt wird: „Groß bist du an Rat und mächtig an Tat.“ Der Dichter gestaltet diese Gottesanrede in trinitätstheologischer Weise, um in der vierten Strophe auf die erste zurückzukommen und mit einem Lobpreis des dreieinigen Gottes zu schließen, der die entscheidenden Aussagen der ersten drei Strophen wiederaufnimmt und die in ihnen aufgezählten Attribute zusammenfaßt: (4) voll Rat, voll Tat, voll Gnad.
Die trinitarische Gestalt des Liedes ist der angemessene Ausdruck seiner wichtigsten Botschaft: Im Advent Jesu Christi kommt Gott selbst zu uns, und zwar als Schöpfer, Heiland und Tröster. Unter dieser Voraussetzung wird im Lied sodann das Adventsevangelium vom Einzug Jesu in Jerusalem nach Mt 21,1-9 im Lichte der Verse 7-10 von Psalm 24 interpretiert. Das „Gelobet sei, der da kommt …“ nimmt der Refrain der Strophen 1-4 explizit und in der besagten trinitarischen Weise auf. Auffällig ist, daß die geschichtlichen Einzelheiten der Einzugsgeschichte allesamt geistlich-spirituell gedeutet werden: die Königskrone wird mit Heiligkeit, das Zepter mit Barmherzigkeit, der Tempel den Herzen, die Palmzweige schließlich der Gottseligkeit gleichgesetzt. Auffällig ist ferner, daß der Dichter seinen Hörern spätestens von der zweiten Strophe an die persönliche Teilnahme am Einzug dessen, der noch heute kommt, ans Herz legt. Es geht darum, daß jeder dabei sei und sich mit freudiger Hingabe – „mit Andacht, Lust und Freud“ – auf das Kommen Jesu vorbereite. Mit der Aria der Bach-Kantate (BWV 61: Nun komm, der Heiden Heiland) zu reden, die uns der Markus-Chor München unter der Leitung von KMD Holger Boenstedt dankenswerterweise zu Gehör bringt: „Öffne dich, mein ganzes Herze, / Jesus kommt und ziehet ein. / Bin ich gleich nur Staub und Erde, / Will er mich doch nicht verschmähn, / Seine Lust an mir zu sehn, / Daß ich seine Wohnung werde, / O wie selig werd ich sein!“ Dabei gilt der Adventsruf nicht nur und jedenfalls nicht ausschließlich dem Einzelnen oder der christlichen Gemeinde, sondern Land und Stadt insgesamt, also der gesamten bewohnten Welt. Alle sollen sich für den kommenden Heiland öffnen und mit ihm den „Weg zur ewgen Seligkeit“ gehen. Wollen wir uns diesem Adventsruf nicht versagen, sondern freudig in ihn einstimmen und ihn aufnehmen in dem Gebet: „Komm, o mein Heiland Jesu Christ, / meins Herzens Tür dir offen ist. / Ach zieh mit deiner Gnade ein; / dein Freundlichkeit auch uns erschein. / Dein Heilger Geist uns führ und leit / den Weg zur ewgen Seligkeit. / Dem Namen dein, o Herr, / sei ewig Preis und Ehr.“ Amen.
Prof. Dr. Gunther Wenz