
Psalm 31,14
„Grauen ringsum“ | 23. Sonntag nach Trinitatis | 3. November 2002 | Psalm 31,14 | Klaus Schwarzwäller |
In weniger als zwei Wochen erleben wir: Geiselnahme und opferreiche Geiselbefreiung
in Moskau, Selbstmordattentate in Israel, blutige Säuberungen in
Tschetschenien und in den Paästinensergebieten, bedrohliche Aktivität
des Ätna, Erdbeben in Italien mit vielen Toten, insbesondere Kindern
– ich breche die Aufzählung ab und versage mir einen Blick in weiter
entlegene Regionen und zeitlich weiter entfernte Tage. Was uns umgibt,
ist so voller Bedrohlichem, Bedrückendem, Entsetzlichem, daß
wir uns innerlich verhärten müssen, um dem standzuhalten. Doch
in uns nagt und bohrt und brennt die Frage: Warum? und: Warum läßt
Gott das alles geschehen?
Es ist eben nicht einzig menschliche Verbohrtheit, Borniertheit, Verranntheit,
Gedankenlosigkeit oder auch Grausamkeit und Bosheit, die da unsägliches
Leiden heraufbeschwört und so viele Menschenleben kostet. In manchen
Fällen ist es auch die Folge menschlicher Achtlosigkeit, Schlurigkeit
oder Pfuscherei, die Ereignisse zu Katastrophen anwachsen läßt
– Achtlosigkeit und Pfusch aus Gewinnstreben oder auch, beinahe noch schlimmer,
gedankenloser Unverantwortlichkeit. Für Erdbeben und Vulkanausbrüche
kann kein Mensch etwas, und sie geschehen in der ungerührten Gnadenlosigkeit
bloßer Maschinen. Wir haben den bitteren und bedrückenden Eindruck:
Gott – Gott? Gott hat sich wohl zurückgezogen…
„Wenn wir in höchsten Nöten sein und wissen nicht, wo
aus noch ein und finden weder Hilf noch Rat, ob wir gleich sorgen früh
und spat, so ist dies unser Trost allein, daß wir zusammen insgemein
dich anrufen, o treuer Gott, um Rettung aus der Angst und Not.“ So
lauten die beiden ersten Strophen eines nicht selten gesungenen Chorals.
Doch die Szenerie ringsumher brennt es uns ein: Ob wir Gott anrufen oder
nicht, Bosheit, Verantwortungslosigkeit und die unberechenbare, verderbliche
Gewalt der Natur tun ihr Werk, umgeben uns ringsum mit Grauen.
Wie stellen wir uns hierzu, wie halten wir dem stand, wie reimen wir
es auf den Gott, den wir als „unser Vater“ wissen dürfen
und anrufen sollen? Was wäre hier väterlich, was Liebe, was
Gnade? Und was sagen wir denen, die uns fragen? Oder fällt angesichts
von dergleichen unser Glaube, unsere Theologie, unser Bekenntnis zusammen
wie ein Kartenhaus?
Wie also hält der Glaube dem stand und auf welcher Grundlage?
Jedenfalls NICHT so, daß er ein allgemeine, daß er gar DIE
alles lösende Antwort hätte. Gerade umgekehrt: Sind schon die,
die da nicht glauben, hier in Zweifel an Gott und an Sinn gestoßen,
so wir Christenmenschen erst recht. Denn es ist unser Gott, den wir als
den Allmächtigen bekennen, vor dessen Augen das alles geschieht;
es ist unser himmlischer Vater, der es alles – wie es scheint: ungerührt
– geschehen läßt; es ist der Gott, der die Liebe IST, der den
Gewalten und Unheilsmächten und Menschenschlächtern nicht Einhalt
gebietet. Das ist es, was uns bis ins Innerste erschüttert und an
tragendem Trost zweifeln, verzweifeln läßt. Auf allen Ebenen
scheinen Chaos, Sinnlosigkeit und Tod zu triumphieren.
Und Gott schweigt.
Was also sagen wir – können wir sagen?
Was immer das ist; auf jeden Fall können wir zweierlei. Zum einen
können wir mit den Weinenden weinen und den Trauernden trauern, mit
den Klagenden klagen und mit den Hadernden hadern, mit den Bitteren uns
erbittern und mit den Verzweifelten auch unsere Zweifel bekennen und insgesamt
uns neben die stellen, die hier betroffen sind und fragen und zagen und
anklagen. Nein, das ist falsch geredet: nicht uns neben sie stellen, als
müßten wir erst von einer glückseligen Insel uns zu ihnen
begeben. Vielmehr: bekennen und uns selber eingestehen, daß wir
längst MIT IHNEN ZUSAMMEN in denselben Nöten und Fragen und
Zweifeln und vor demselben Loch der Sinnlosigkeit und des Grauens uns
befinden. Nein, wir müssen uns nicht erst solidarisieren; wir sind
zusammen mit ihnen betroffen und sollten darum redlich genug sein, das
nicht fromm oder vielmehr in frommem Wunschtraum zu vernebeln, vernebeln
vor uns wie anderen. Wir SIND betroffen, und angesichts der Geschehnisse
erfaßt uns blankes Entsetzen und peinigen uns Angst und unendlicher
Zweifel.
Und darum können wir zum anderen mit den unmittelbar Betroffenen
gemeinsam alles das, was wir empfinden, was uns bewegt, die Seelen zerreißt
und die Hirne in Aufruhr geraten läßt; können wir mit
ihnen gemeinsam es herausschreien und es Menschen wie Gott in die Ohren
reiben. Ja, wir können’s oder könnten’s gerade und vielleicht
besser als sie: Denn wir haben mit der Bibel und in ihr zumal mit dem
Psalter einen Schatz an Sprache, den wir nutzen können. Hieraus können
wir schöpfen und hier die Worte und Wendungen finden, die uns erlauben,
das, was in uns stürmt und brodelt, so zu sagen, daß es tatsächlich
und buchstäblich aus-gesprochen wird.
Aus-gesprochen – wohin, zu wem?
Ich komme noch einmal auf den zitierten Choral, der, liest man ihn weiter,
eine Situation, eine Not durchblicken läßt, die der unseren
vergleichbar sein mag. Und da, gerade da, ist es in diesem Lied „unser
Trost allein“ – „allein“! – , daß wir Gott anrufen.
Ja Gott, den schweigenden, fernen, untätigen Gott. Daß wir
ihn jetzt gerade anrufen. Daß wir jetzt gerade ihm, wie’s Luther
einmal ausdrückte (und getan hat!), ihm seine Verheißungen
„in die Ohren reiben“, und wenn darüber ganze Nächte
des Schreiens und „Reibens“ vergehen sollten.
Nein, wir haben weder eine noch die Antwort. Und wir sind noch tiefer
angefochten als die, die uns fragen – voller Erwartung, voller Hoffnung,
voller Zweifel, voller Mißtrauen – oder was immer sie uns fragen
macht. Aber was wir können – ja: das KÖNNEN wir: zu Gott schreien,
unsere Not und unser Leid und unsere Zweifel und Verzweiflung zu ihm schreien
und in eins damit ihn wie uns selbst an alles erinnern, was er uns zugesagt
hat; es schreien und daran erinnern hinein in einen uns leer erscheinenden
Himmel, egal; schreien und erinnern, bis wir spüren, daß die
unendlichen Weiten dieses leeren Himmels durchdrungen sind.
Und dann? Wer wollte es wagen, wer sich anmaßen, das im voraus
zu sagen! Vielleicht geht es uns ähnlich wie Hiob, der am Ende, noch
in seinem Elend, aufgrund von Gottes Rede im Wetter sagt: „Nun hat
mein Auge dich gesehen.“ Nichts ist für ihn damit anders – und
alles ist zugleich nun ganz und gar anders. Wie gesagt, so MAG es geschehen;
es kann aber auch ganz anders sein. Anders bis dahin, daß wir keine
Antwort kriegen und statt dessen immer noch weiter absacken und versinken
in Zweifeln und irgendwann auch letzter Verzweiflung. Daß wir dann
nur noch schreien oder vielleicht auch nur mehr seufzen, stöhnen
oder schluchzen können: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich, warum hast du uns verlassen?“
Das hat einst einer für und mit uns geschrien und mußte einen
elenden, qualvollen Tod sterben.
Und Gott schwieg.
Aber danach hat er gehandelt.
Vorher ließ er Leiden und Tod Frucht bringen. Frucht für andere,
für viele –
Wir haben keine Antwort. Aber wir mögen neben dem Schreien zugleich
dem nachsinnen.
Amen.
Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
E-Mail: hweissenfeldt@foni.net