Römer 12

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Im Brief an die Römer schreibt der Apostel Paulus im 12. Kapitel:
(Textlesung)

Letzte Woche habe ich mich hingesetzt und Paulus eine Brief geschrieben.

Lieber Paulus!
“Die Liebe sei herzlich, die Liebe sei ohne Falsch, seid fröhlich in Hoffnung,
geduldig in Trübsal, geharrlich im Gebet, freut euch mit den Fröhlich
und weint mit den Weinenden, und, und und…“:So viele Ermahnungen am Stück
geben nicht einmal besorgte Eltern ihren Kindern mit auf den Weg. Fast habe ich
den Eindruck, du sprichst hier vom Himmel auf Erden. Ist das nicht zu schön,
um wahr zu sein, wie du hier das Zusammenleben von Menschen und das Leben in
einer Gemeinde beschreibst? Nimmst du den Mund nicht zu voll? Eine Gemeinschaft,
wo jeder seine Begabungen einbringt, wo Menschen einander achten und mit Respekt
begegnen, wo sie mitfühlen und aufrichtig und fair miteinander umgehen.

Hast du das eigentlich je einmal erlebt? In Korinth, in Thessalonich,
in Philippi oder wo du sonst noch gewesen bist? Was du hier schreibst,
ist für mich ein Idealbild, eine Vision, wie ein Leben miteinander
im besten Fall gelingen kann. Aber ich bitte dich: die Wirklichkeit sieht
anders aus.

Das Zusammenleben von Menschen war zu deiner Zeit bestimmt nicht einfacher
als heute, auch wenn manches bei uns in Deutschland ganz anders ist.
Unsere Gesellschaft ist viel differenzierter als zu deiner Zeit. Menschen
lassen sich nicht mehr einteilen in eine reiche Oberschicht, die in riesigem
Luxus schwelgt, in freigelassene Sklaven, die den Handel beherrschen,
in verarmte Arbeiter und Schuldsklaven.

Auch unsere Volkskirche hat ganz andere Strukturen als die Gemeinde
in Rom, an die du schreibst. Unsere Gemeinden sind so groß, dass
niemand mehr alle Mitglieder kennt. Keiner ist auch nur ansatzweise in
der Lage, Beziehung zu 1800 Menschen aufzunehmen. Das geht beim besten
Willen nicht. Das war bei den Hausgemeinden zu deiner Zeit leichter:
da kannte man sich, da war vielleicht auchNestwärme möglich.
Da gab es wohl einen Zusammenhalt, da waren Menschen auch aufeinander
angewiesen.

Manches war anders zu deiner Zeit, Paulus, aber vieles ist gleich geblieben.

Wo Menschen miteinander leben und arbeiten, da gibt es unterschiedliche
Interessen. Da sieht jeder nur das Seine und nimmt nicht mehr die Bedürfnisse
des anderen wahr und da meinen Menschen zu wissen, was gut ist für
den anderen.

Wo Menschen miteinander leben und arbeiten, da gibt es immer auch Konkurrenz,
da spielt Neid eine Rolle, da gibt es Missverständnisse und da ist
immer ein großes Bedürfnis da, über andere zu reden.
Da sehen Menschen den anderen durch ihre Brille und bewerten ihn nach
ihren Maßstäben.

Lieber Paulus, ich glaube, daran hat sich nichts geändert. Ich
fürchte, wir Menschen haben da in den letzten 2000 Jahren nicht
viel Entscheidendes dazu gelernt.

Was kannst du uns dann mit diesen vielen Ermahnungen dann aber mit auf den
Weg geben? Welchen Sinn hat das Idealbild, das du uns da so leuchtend vor Augen
stellst?
Wenn ich dich recht verstehe, dann geht es hier – wie auch sonst so oft in
deinen Briefen um etwas ganz Wichtiges in unserem Zusammenleben : es geht um
die Liebe.

Ich vermute ja: die Menschen zu deiner Zeit haben genauso wie wir heute gedacht,
dass Liebe das Einfachste der Welt ist. Dass niemand sich darum bemühen
muss, dass die Liebe am Leben bleibt. Nichts sei leichter, als sich zu lieben,
obwohl wir tagtäglich erleben, manchmal ja auch am eigenen Leib, wie
schwer das ist. Und wie es passieren kann, dass Liebe umschlagen kann in
Hass und Aggression und Verachtung.

Kaum ein Traum zerbricht so schnell an der Realität wie die Hoffnung,
die Liebe würde ohne eigene Arbeit und Mühe bis in alle Ewigkeit
dauern. Und ich bin überzeugt, auch bei den Menschen, die sich wehtun
und verletzen, stand am Anfang oft die Liebe.

Aber du meinst ja nicht in erster Linie die Liebe von Menschen in einer Familie,
du sprichst hier vor allem von der brüderlichen Liebe, wie du das nennst.
Ich möchte ergänzen: auch von der schwesterlichen Liebe. Denn wir
Frauen möchten heute auch gesehen und angesprochen werden. Das ist heute
anders als bei dir damals.
Verstehe ich dich richtig, wenn du mit dieser Liebe die Sympathie für
einen anderen meinst, und die Hoffnung, die ich in mir spüre, wenn ich
mich mit anderen zusammen für etwas begeistere und wo wir miteinander
planen und entwickeln und unsere Ideen verwirklichen? Dass zu dieser Liebe
auch die Freude und Lebendigkeit gehören, die ich in der Begegnung mit
anderen immer wieder erleben darf? Und dass ich erfahren darf, dass ich Möglichkeiten
und Begabungen in mir habe, die andere in mir wecken und zum Vorschein bringen?
Ist das nicht auch Liebe?
Liebe ist eine Kunst. Ich bin sicher, Paulus: du hast das gewusst: ein liebevoller
Umgang miteinander fällt uns nicht in den Schoß.

Ja, Paulus, auch dort, wo Menschen lebendig sind und sich spüren
und miteinander leben und arbeiten und ihren Hoffnungen Ausdruck geben,
auch dort machen sie immer wieder die Erfahrung: es ist schwer, diese
geschwisterliche Liebe zu leben. Es gibt Situationen, da bin ich einfach
ratlos, da bin ich verzweifelt, da bin ich am Ende meiner Kraft.

Nicht nur ich habe schon erlebt, dass meine Hoffnung enttäuscht
wurde, dass meine Bilder vom anderen zerbrochen sind. Und ich weiß,
wie weh das tut, wenn andere mir nicht ehrlich begegnen und hinter meinem
Rücken Schlechtes reden.

Ja, die Liebe zwischen zwei Menschen, die Liebe zwischen Eltern und
Kindern, und die Liebe zwischen Menschen, die in einer Gemeinde sich
begegnen und die ein Stück ihres Lebens miteinander teilen, diese
Liebe ist eine Kunst.
Paulus, wenn ich dich recht verstehe, dann gehören zu dieser Kunst des
Liebens drei ganz wichtige Dinge.

Wer lieben will, so wie du das beschreibst, der muss dem Menschen neben
sich Raum lassen. Nur wer diesen Raum der Liebe geschenkt bekommt, der
kann sich entfalten und wachsen. Menschen wachsen an den Hoffnungen,
die in sie gesetzt werden und sie können manchmal Ideen und Kräfte
entwickeln, die sie nur in diesem Raum der Liebe entfalten können.

Und doch, Paulus, das fällt schwer. Denn oft weiß ich genau,
was gut ist für den anderen. Oft weiß ich genau, was die andere
braucht. Oft weiß ich genau, was der andere tun soll und welche
Aufgaben er zu erfüllen hat. Und ich merke gar nicht, wie ich ihm
meine eigenen Bilder überstülpe und ihm seinen Raum nehme,
wo er lieben und arbeiten und seinen Ideen und Hoffnungen entfalten kann.
Ich merke gar nicht, wie ich dem anderen die Luft nehme zum Atmen, weil
ich doch nur das Beste will für ihn und für mich.

Ja, es ist es wichtig, dass Menschen einander Raum geben, wo sie sich
begegnen und miteinander leben und arbeiten.

Ein zweites sprichst du an: den ehrlichen Umgang miteinander. Du kennst
uns Menschen durch und durch, dass du das gleich so offen ansprichst.
Du hast bestimmt auch deine Erfahrungen gemacht, wie schwer das Menschen
fällt, dem anderen immer das wahre Gesicht zu zeigen. Ihm ehrlich
zu begegnen, ohne Hintergedanken, ohne Fassade, ohne eine höfliche
Freundlichkeit, die den anderen im Grunde nur tief verachtet. Du weißt,
wie schwer mir das fällt, dass ich dem anderen zeige, wer ich wirklich
bin und was ich fühle, was ich meine und denke und plane.

Wenn ich dich richtig verstehe, dann hat dieser ehrliche Umgang miteinander
ganz viel damit zu tun, wie sich der einzelne sieht.
Nur wer mit sich im Reinen ist, der kann zu sich stehen mit all seinen Schwächen
und Fehlern. Nur wer sich geliebt weiß, der muss die Schwächen und
Fehler nicht immer beim anderen suchen und den Finger dort in die Wunde legen.
Nur wer weiß, dass er angenommen ist, kann damit leben, dass der andere
nicht perfekt ist.

Paulus, kann es sein, dass mein Bedürfnis, dass alle und alles
möglichst perfekt sein muss damit zusammenhängt, dass Menschen
immer wieder das Gefühl haben: ich werde nicht wahrgenommen, ich
werde nicht gesehen?
Oft höre ich Menschen klagen, was der andere alles nicht kann und nicht
mitbringt. Das sind Menschen, die einen Partner suchen, das sind Eltern, die über
ihre Kinder reden, oder das sind Menschen in einer Gemeinde oder bei der Arbeit:
So oft höre ich Klagen über das, was nicht da ist.

Paulus, ich glaube, das ist eine Krankheit unserer Zeit: dass Menschen
so oft das in den Vordergrund stellen, was fehlt und darüber nicht
mehr wahrnehmen können, was ihnen geschenkt ist und was sie von
anderen empfangen. Ich habe auch fast den Eindruck: je reicher Menschen
leben, desto mehr machen sie sich an dem fest, was ihnen ihrer Meinung
nach fehlt.

Ich bin immer wieder Menschen begegnet in Ländern der Dritten Welt,
die waren wirklich arm, und in ihren Gemeinden hab es lange nicht so
viele Angebote wie bei uns heute. Ich bin in Slumgemeinden in Korea Menschen
begegnet, die treffen sich zum Gottesdienst und zum gemeinsamen Essen,
und die schöpfen daraus ihre Kraft für ihren Alltag. Trotz
allem, was sie nach unseren deutschen Maßstäben nicht haben,
haben sie sehr zufrieden gewirkt.

Aber ich möchte dabei nicht stehen bleiben. Ich bin froh, dass
du uns da auf ein Geheimnis aufmerksam machst, das uns alle entlasten
kann und diesen Zwang zum Perfektionismus auch nehmen kann.

Zwischen den Zeilen sagst du: Keiner muss alles können. Das tut
mir gut. Ich bin froh, dass ich nicht alles können muss, dass ich
meine Stärken und Schwächen haben darf. Und ich bin froh, dass
du uns auf das Geheimnis aufmerksam machst, wie Menschen lernen können,
nicht immer nur das Defizit zu sehen und zu jammern und zu klagen. Denn
wer immer nur auf das sieht, was fehlt, wird nichts anderes mehr wahrnehmen.

Du sagst uns: Jeder von uns hat eine Aufgabe, jeder hat seine Begabungen.
Du nennst das Charismen, Gnadengaben. Und meine Aufgabe ist, auf Entdeckungsreise
zu gehen, was ich gut kann, wo meine Stärke ist, und diese Begabung
nicht bei mir zu behalten sondern sie einzubringen.

Ja, Paulus, das ist ganz einfach und zugleich genial: Wenn in einer
Gemeinde viele Menschen auf Talentsuche gehen und ihre Fähigkeiten
und Begabungen einsetzen für andere, dann wird das ein richtig lebendige
Gemeinschaft. Da können Menschen entdecken, was ihnen geschenkt
ist und da können Menschen das miteinander teilen und sich unterstützen.
Sie können auch die Kraft spüren, die sie daraus bekommen:
Das, was ich anderen verschenke an Zeit und Kraft und wo ich meine Gaben
einsetze, das kommt wieder als Lebensfreude zu mir zurück.

Wo Menschen ihre Begabungen teilen mit anderen, werden sie gesehen und
müssen die Fehler und Schwächen nicht immer beim anderen suchen.

Ein dritter Punkt ist dir wichtig, Paulus: unser Mitgefühl. Auch
das gehört zur Kunst des Liebens: dass Menschen sich zeigen, so
wie sie sind: in ihrer Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, in ihrer
Heiterkeit und mit ihrer Freude – und in ihrem Schmerz und ihrer Trauer,
mit ihrer Verzweiflung und ihrer Scham. Dazu gehört, dass Menschen
mitfühlen: in meiner Bibel ist dieser Satz ganz fett gedruckt: „Freut
euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.“

Vielleicht ist das Menschen in deinen Gemeinden leichter gefallen. Aber wir
werden von klein an dazu erzogen, dass wir etwas leisten, dass wir etwas
schaffen, dass wir gute Noten mit nach Hause bringen, dass wir Erfolg haben,
bei uns spielen Gefühle nur eine kleine Rolle. Bei uns müssen Menschen
funktionieren. Wir lernen oft gar nicht mehr, unsere Freude zu spüren
und unsere Trauer, unsere Fröhlichkeit und unsere Traurigkeit. So vieles
decken wir zu und lenken uns ab mit unseren unzähligen Beschäftigungen.

„Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“: das
heißt auch, dass Menschen Abschied nehmen von ihren Beurteilungen
und Verurteilungen, von ihren Erwartungen und ihren Klagen. Nur dort,
wo ich mit dem anderen mitfühle, kann ich ihm offen und ehrlich
begegnen.

Lieben ist wirklich eine Kunst und dazu noch eine Riesenaufgabe, lieber
Paulus. Und ich spüre heraus: Wo Menschen einander begegnen mit
dieser Anteilnahme und diesem Mitgefühl, wo Menschen ihr wahres
Gesicht zeigen können und sie ihre Begabungen einbringen, dort,
wo Menschen einander den offenen Raum der Liebe geben, hat das eine ganz
starke Ausstrahlung nach außen.

Ja, Paulus: so würde ich mir das Zusammenleben von Menschen auch
gerne wünschen. Ich sehne mich sehr danach, dass wir dieses Idealbild
uns immer wieder vor Augen stellen und dass das so eine Art Leitbild
wird, ein Bild, das uns leitet, für unser Zusammenleben in den Familien
und im Beruf und in der Gemeinde.
Aber du verschweigst ja auch nicht, dass dieser Weg nicht mit goldenen Steinen
gepflastert ist. Paulus, ich mag das, wenn du trotz allem auch einen Blick
hast für die Realität. Du weißt, wie steinig und wie mühevoll
dieser Weg der Liebe ist.

Du hast selber ja viele Enttäuschungen durchgemacht. Und doch machst
du mir und uns allen Mut: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in
Trübsal, beharrlich im Gebet.“

Es entlastet mich, dass ich nicht aus eigener Kraft dieses Idealbild
verwirklichen muss. Ich bin froh, dass ich aus der Kraft des Glaubens
leben darf und ich brauche auf diesem Weg der Liebe viel, viel Geduld
und ich brauche die Verbindung im Gebet. Nur so können Menschen
immer wieder kleine, vorsichtige Schritte gehen und sich den Raum für
die Liebe lassen, ehrlich sein und Anteil nehmen, ihre Aufgaben erkennen
und sich verschenken.

Du bist selber in deinem Leben immer wieder solche Schritte gegangen.
Du hast mit deinen Gemeinden mitgelitten und dich mitgefreut. Und wenn
du ihnen und uns deine Ermahnungen mit auf den Weg gibst, dann weiß ich:
du tust das nicht als Moralapostel. Dahinter steht deine Liebe, die gespeist
ist aus einer viel größeren Liebe. Und aus dieser Liebe möchte
ich auch leben.

Gunhild Riemenschneider
Bornweg 12
74081 Heilbronn
mail: riemenschneider@ekhg-hn.de